Kommunismus in Trance

von Elena Philipp

Berlin, 29. August 2020. "Ja, ich hätte auch ganz gerne mal eine Gesamtansicht von mir", ruft ein überlebensgroßer Franz Beil, der via Video hinabblickt auf die zwei Zimmer, die aus seiner Perspektive klein wie eine Puppenstube auf der Bühne des Deutschen Theaters stehen. Ein kuschelig-klaustrophobisches Kammerspielsetting hat Bühnenbildnerin Nina von Mechow für den neusten Streich von René Pollesch und Konsorten, "Melissa kriegt alles", aufgebaut, mit Hammer-und-Sichel-Wandbespannung, einem teppichbelegten Sofa, Bullerbü-Tisch und einer Pole-Dance-Stange im größeren Raum, einem tarngemusterten Bett und Ofen im kleineren. Räume, in denen sich optisch Zeiten und Orte überlagern, dem Text entsprechend, in den Pollesch wie immer Verschiedenstes eingespeist hat. Neunzig Minuten Gedanken-Ping-Pong wird das sechsköpfige Ensemble zum Auftakt der DT-Saison hier spielen und den revolutionären Zauber des Zugleich beschwören.

"Du siehst wirklich toll aus"

"Ein Brief?", ertönt anfangs Kathrin Angerers Stimme hinter der vorgezogenen weißen Brecht-Gardine. Vorhang auf und großes Erstaunen auf der Bühne: "Melissa kriegt alles???" Kein Vermögen für Angerers Frenchy, scheint's, aber zumindest einen ordentlichen Anteil Komödie – französisch Leichtgängiges, das sich ebenfalls im salonartigen Bühnenbild andeutet. Aufgerufen wird auch russisch Schwergewichtiges, im endlosen Reden über notwendiges revolutionäres Handeln – oder in den von Tabea Braun gestalteten Pracht-Kostümen.

melissa 560a ArnoDeclair uRevolutionäre in der Zugleich-Überforderung: Franz Beil, Kathrin Angerer, Katrin Wichmann, Martin Wuttke, Bernd Moss, Jeremy Mockridge © Arno Declair

Da stapft Jeremy Mockridge in schweren Stiefeln, Pelzmantel und -kappe auf die Bühne, Martin Wuttke mit Holzpantinen, unterm Fellmantel ein mit Zeitungsbeiträgen in kyrillischer Schrift bedrucktes Nachthemd, im Gesicht einen Marx-Bart und auf dem Kopf eine Trapper-Mütze mit ausladendem Tierschweif. Überhaupt die Mode: Auch sie zitiert die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, ist Warenwelt-Apotheose wie Schauwert: Katrin Wichmann umflattert ein Blumenrock, Kathrin Angerer kombiniert ein schulterfreies revolutionsrotes Kleid mit Udo Lindenberg-Mütze und golden High Heels – ein Outfit, das Ray aka Wuttke umgehend mit einem Kompliment bedenkt: "Du siehst wirklich toll aus". Dabei würde ihm Frenchy aka Angerer lieber die Wunde zeigen, die sie sich im Kampf vor Warschau zugezogen hat.

Statischer Debattenzirkel

Eine Revolutionärin ist, wird nebenbei ausgehandelt, eben immer auch reaktionären Blicken unterworfen. Selbst in Brechts "Mutter", wo die Kämpferinnen anderen Figuren mit mütterlichem Getue übers Haar streichen, wie Kathrin Angerer moniert. Und die Weigel – hat sie am Berliner Ensemble als Intendantin nicht auch nur den Haushalt geführt? Trotz ihrer Amtsmacht: Wie sie in der Intendanzsitzung vor gedrängt kauernden Untergebenen auf ihrem Stuhl thronte, beschreibt Wuttke so anrührend wie erheiternd, während er Zigarette rauchend auf dem Sofa hopst.

melissa 560 ArnoDeclair uDa sind die Wände schon gefallen: Katrin Wichmann, Martin Wuttke (hinten), Bernd Moss, Jeremy Mockridge © Arno Declair

Im Nacherzählen aber liegt bei Pollesch natürlich nicht das Heil. Munter geht es inhaltlich über Stock und Stein, von Anekdote und Lektürefund zu den ganz großen Fragen: Wie lässt sich Widersprüchliches denken? Klammert der Kapitalismus den Tod aus jeglichen Überlegungen aus? Inszeniert hat Pollesch "Melissa kriegt alles" als statischen Debattenzirkel mit einigen Spielszenen und Umbaupausen, bei denen Wände umklappen und wieder aufgestellt, Leinwände hoch- und wieder heruntergefahren werden. Routiniert wirkt Polleschs vierte Arbeit am Deutschen Theater mit dessen langjährigen Spieler*innen Wuttke, Angerer und Beil sowie den drei Pollesch-erprobten DT-Ensemblemitgliedern Jeremy Mockridge, Bernd Moss und Katrin Wichmann – und manchmal auch ziemlich öde.

Wer kann Widersprüche denken?

Dann wieder zünden einzelne Szenen, weil diese Routiniers schauspielerische Meisterschaft besitzen – Wuttkes Weigel-Widmung, sein Insistieren auf einem Banküberfall oder Angerers Kehrtwende-Monolog, in dem sie sich erst über Bernd Moss' Anbiederung beim Publikum mokiert, um dann ansatzlos vorzuspielen, wie sie sich als DDR-Teenager als Französin auf der Suche nach dem "Palace de la République" ausgab. Wie viele Haltungen Wuttke und Angerer in einem Vorgang gleichzeitig spielen können! Große Kunst, denn – um auf den revolutionären Zauber des Zugleich zurückzukommen – "das Gleichzeitige" ist so schwer, formuliert Franz Beil. Wer könne schon Widersprüche denken und damit das Leben in seiner Totalität erfassen?

 

Melissa kriegt alles
von René Pollesch
Regie: René Pollesch, Bühne: Nina von Mechow, Kostüme: Tabea Braun, Video: Ute Schall, Licht: Matthias Vogel, Dramaturgie: Anna Heesen.
Mit: Kathrin Angerer, Franz Beil, Jeremy Mockridge, Bernd Moss, Katrin Wichmann, Martin Wuttke.
Uraufführung am 29. August 2020
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 


Kritikenrundschau

"Und so recht voran kommen sie auf der Bühne auch nicht; aber vermutlich ist das der Zustand, um dessen Ausmalung es geht; Hektik bei gleichzeitigem Stillstand", so bespricht Katrin Bettina Müller diesen Abend für die taz (30.8.2020). "Passt im Nachhinein besehen doch ganz gut zur derzeitigen Befindlichkeit. Solange man aber noch im Theater sitzt, ist eher Ungeduld zu spüren. Kommt da jetzt noch was oder machen die immer weiter so? Springen von einer Idee zur nächsten." Etwas "bedröppelt" schaut die Kritikerin "auf diese Häppchen".

"Wer Melissa ist, und warum sie alles kriegt - wie der Stücktitel verspricht - bleibt bei diesen gar nicht so flotten 90 Minuten Diskurstheater im Unklaren - wie manch anderes auch im Sammelsurium bekannter Pollesch-Motive neu gesampelt", berichtet Ute Büsing für das Inforadio des rbb und online auf rbb|24 (30.8.2020). "Intellektuell anspruchsvoll und doch zu insiderisch, um das pure Vergnügen zu sein", findet die Kritikerin den Abend, bescheinigt aber dem Ensemble, es "beherrscht" die "Fallstricke und die Fallhöhen des Textes mit beneidenswerter Souveränität".

Jürgen Kaube von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (31.8.2020) macht es sich hier wie bei anderen Pollesch-Stücken zur Aufgabe "herauszufinden, worum es in ihnen überhaupt geht. Denn auf einer ganz elementaren Ebene ist das hier beabsichtigterweise unklar." Eine Handlung fehle, viel "Theater über Theater" werde geboten. Es "sprudeln ständig teils Redensarten, teils Gedanken zu einer Art Stammtischgespräch über Wirklichkeit und Schein hervor. Irgendwie geht es um eine Revolution, die nur noch ein Text ist, um Selbstbeobachtung und Nostalgie, die verachtenswerte arrogante Haltung englischer Schauspieler gegenüber dem Publikum und das Leben in Trance, das ein Merkmal von Revolutionären sein soll", schreibt Kaube. "Hypnotisierend" wirke Polleschs Stück aber nicht, "mehr wie eine sich ständig selbst unterbrechende Vorlesung über unmögliches Ganzsein".

Für Doris Meierhenrich von der Berliner Zeitung (30.8.2020) ist dieser Abend "ernster, nüchterner" als erwartet. Es sei eigentlich "einer der ideenreichsten, wunderbarsten Pollesch-Texte der letzten Jahre", aber dennoch "kommen die sechs Revolutionsspieler in ihren geblümten 'Mutter'-Kleidern und wilden Felljacken einfach nicht richtig ins Spiel mit ihren Sätzen. Es scheint, als drückten die Abstandsregeln sie diesmal auch in Abstand zu ihrem Text, was schon ziemlich kurios ist. Denn niemand, am wenigsten Pollesch selbst, hätte geglaubt, dass diese Maßnahmen sein so ganz antitheatralisches Gemeinschaftstheater doch irgendwie tangierte."

"Mehr ist euch nicht eingefallen in all der Zeit, in diesem geschützten und privilegierten Raum des Theaters?", fragt ein merklich enttäuschter Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (30.8.2020). "Der neue Pollesch-Text ist insofern der alte, als er Theaterhistorisches (Brecht, Weigel, Bayreuth) mit perfomativer Theorie, Filmschnipseln und angelesener Gesellschaftsanalyse verquirlt." Und: "Nichts zündet, die Atmosphäre ist deprimierend." Pollesch öffne nicht das Fenster zur politischen Corona-Wirklicheit, verbleibe "in der eigenen Blase", und das Problem daran sei, "dass die Pollesch-Welt so uninteressant und schlaff noch nie war".

"Bei allem Spaß daran, virtuos auf diversen Metaebenen auszurutschen und Dekonstruktionsspiele in immer neue Pirouetten zu treiben, bei aller Spielfreude eines glänzenden Ensembles", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (31.8.2020), "ist es ein unglaublich zäher Abend." Das sei "sicher immer geistreich, immer irgendwie witzig, aber immer irgendwie auch völlig egal", so der Rezensent: "Gefangen in der eigenen, auch selbstverliebten Selbstreferenzschleife kommt dieses Theater problemlos ohne jede Außenwelt aus."

"Ei­gent­lich, so denkt man sich ir­gend­wann an die­sem Abend, hat der Dia­log in Me­lis­sa kriegt al­les und viel­leicht stets bei die­sem Dra­ma­ti­ker ei­ne ein­zi­ge gro­ße Funk­ti­on: Die da re­den, hal­ten sich vom Nach­den­ken ab", beobachtet Peter Kümmel in der Zeit (3.9.2020). "Sie re­den sich ge­gen­sei­tig die Angst vor dem Tod aus." Pol­lesch löse kei­ne Er­war­tung ein, die er im Pu­bli­kum wecke. Und wie verhält Pollesch sich zur Seuche? "Er macht wei­ter wie bis­her."

 

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