Wer hat Angst vor Anton Tschechow?

von Michael Laages

Kiel, 29. August 2020. So sieht der Alltag nun aus, zum Beispiel in Kiel – nicht ganze Reihen sind entfernt worden aus der Bestuhlung im Schauspielhaus, und die gesperrten Sitze sind auch nicht etwa durch Abdeckungen markiert, sondern umgekehrt die tatsächlich freien durch ein Stückchen rot-weißes Absperrband oben auf der Rückenlehne. Das Publikum nimmt’s sportlich-offensiv – und applaudiert final doppelt kräftig, ganz so, als hätte diese Premiere vor vollem Zuschauerraum stattgefunden.

Bühne auf der Bühne mit eingebautem Abstand

Noch im Endspurt der vergangenen Spielzeit hatte die junge Regisseurin Lisa Gappel für ihr Debüt auf der großen Bühne im Kieler Schauspielhaus Tschechows Klassiker über das verzweifelte Aufbegehren junger Menschen in der Sehnsucht nach künstlerischer Erfüllung vorbereitet; durch die vorübergehende Schließung der Bühnen samt Einstellung der Proben im Theater hat die Inszenierung jetzt notgedrungen neue Schwerpunkte bekommen – so wie es vielen Arbeiten an beinahe jedem Theater im Lande ergehen wird, die durch den Zwangsstopp in die Gegenwart am Beginn der neuen Saison herüber gerettet werden. "Die Möwe" in Kiel ist ein interessantes Beispiel dafür.

Moewe2 560 OlafStruck u Boris Trigorin (Rudi Hindenburg) | Nina (Tiffany Köberich) © Olaf Struck

Nicht zuletzt deshalb, weil Anna Bergemanns Raum-Entwurf (den es schon für die ersten Pläne gab) jetzt erstaunlicherweise noch deutlicher "passt" zu den neuen Regeln fürs Spiel auf der Bühne – eine abstrakte Landschaft aus kleineren und größeren Klötzen und Streben zeichnet sich in einer Holzkiste ab, die wie "aufgeklappt" wirkt; denn auch die Rückwand weist Aussparungen auf, in die die Bau-Steine auf der Spielfläche womöglich passen könnten. Eine Bühne in der Bühne ist das, auf der das handelsübliche Hin und Her, das Voneinander-weg und Zueinander-hin zwischen Liebenden und Verzweifelnden, Lügenden und Betrügenden auch ohne Virus-Abstand kaum möglich wäre. Außerdem breitet sich auch noch ein kleiner See aus zwischen Bergemanns Bausteinen: der See, an dem das kleine Freiluft-Theater steht, auf dessen improvisierter Bühne der junge Konstantin als aufstrebender Autor mit der noch jüngeren Beinahe-Schauspielerin Nina die "neuen Formen" auszuprobieren versucht, mit denen der Kunst-Kopf die Bühnenkünste umzukrempeln hofft.

Bekanntlich steht gegen diesen Traum vom neuen Theater Konstantins eigene Mutter, die arrivierte Schauspielerin Arkadina mit ihrem aktuellen Geliebten, dem ebenso arrivierten wie routiniert-gelangweilten Schriftsteller Trigorin. Dass ausgerechnet diesem Oberflächling die junge Nina aufs Fürchterlichste verfällt, schafft viel Verzweiflung – bis hin zu Konstantins Selbstmord zum Schluss.

Intensive Paar-Debatten

Die Paar-Konflikte wirken deutlich verschärft in Lisa Gappels aktuellem Blick auf Tschechow; was natürlich auch damit zu tun, dass jede Form von massenhaftem Miteinander auf der Bühne virusbedingt unerwünscht ist. Was die jungen Leute einander zu sagen und zu erklären haben, aber auch die intensiven Debatten zwischen alternder Schauspielerin und Erfolgsschriftsteller, geraten stärker als sonst, intensiv und "eng" (wenn auch ohne Nähe oder gar Berührung); ganz so, als wäre "Die Möwe" ein kleines Kammerspiel.

Moewe1 560 OlafStruck u Nina (Tiffany Köberich) © Olaf Struck

Der "andere Blick" weg von der Gruppe, hin zum Duett zeichnet sich also tatsächlich ab, auch wenn Lisa Gappels Kieler Aufführung nirgends absichtsvoll mit Effekten hantiert. Im sehr ausgewogen agierenden Ensemble hinterlässt Tiffany Köberich als junge Nina den stärksten Eindruck, während ihrem Gegenüber, dem Konstantin von Tristan Steeg, ein wenig mehr an Feuer und Furor durchaus noch ganz gut täte. Immerhin versucht der Junge sich zweimal zu erschießen; im zweiten Anlauf mit Erfolg …

Hysterie und Unterwerfung

Aber auch dem reiferen Paar, Ellen Dorn als Arkadina und Rudi Hindenburg als Trigorin, gelingt eine intensive Zimmerschlacht, zerrissen zwischen Hysterie und Unterwerfung. Gerade im Schlagabtausch der Paare ist auch die Energie der Neuübersetzung von Eva Gerberding zu spüren. Kiels Theater zeigt, welche Formen die Klassiker im Repertoire annehmen können unter den aktuellen (und so schmerzhaften) Bedingungen. Und womöglich erweist sich wie jetzt in Kiel an vielen Bühnen, mit welchen Kräften, alten und neuen, sich das Theater dem Drama der Gegenwart stellt.

Die Möwe
von Anton Tschechow
Regie: Lisa Gappel, Bühne: Anna Bergemann, Kostüme: Christine Hielscher, Dramaturgie: Kerstin Daiber, Licht: Joachim Mohr.
Mit: Isabel Baumert, Ellen Dorn, Maximilian Herzogenrath, Rudi Hindenburg, Imanuel Humm, Tiffany Köberich, Werner Klockow, Agnes Richter, Tristan Steeg, Felix Zimmer.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.theater-kiel.de

 


Kritikenrundschau

Was hier "was so unbeschwert verspielt aussieht", besitze "seine ausgeklügelte Systematik", schreibt Ruth Bender in den Kieler Nachrichten (31.8.2020). Wie "Regisseurin Lisa Gappel Tschechows Landgesellschaft aufeinander zu und umeinander herum führt", passe "gut zu den Kabbeleien, Dialogschleifen und verwirbelten Beziehungen, in denen sich die Figuren festfahren", so die Kritikerin. "Erstaunlich neu erscheint Tschechows Gesellschafts- und Künstlerdrama hier. Lisa Gappel lässt zwischen Sehnsucht und Scheitern einen Reigen entstehen, ersetzt die Tableaus mit vorsichtiger Erkundung und wechselnden Zweierkonstellationen, die als Spiegelbilder im Beziehungskarussell wirken."

"Eine geschickte Regie und das präzise, intensive Spiel des zehnköpfigen Ensembles lassen für den Zuschauer die konsequent durchgehaltene Einhaltung der Abstandsregeln jedoch komplett vergessen", berichtet Sabine Christiani in der Schleswig-Holsteinischen Landeszeitung (31.8.2020). "Blicke und kleine Gesten spielen eine wichtige Rolle in dieser sehenswerten Inszenierung, die unter der Flut von Worten den Schmerz und die Verletzlichkeit der Figuren herauspräpariert. Mit leichter Hand – und Abstand."

"Anton Tschechows "Möwe" wird am Schauspielhaus Kiel schnell und dynamisch inszeniert. Der Fokus liegt auf den einzelnen Charakteren, nicht auf der ganzen Gesellschaft", berichtet Lina Bande für die "Welle Nord" auf NDR 1 (27.8.2020).

Kommentare  
Die Möwe, Kiel: wie Kostja
Ich kann sagen, ich habe einige Angst vor Tschechows "Möwe". Warum? - Weil das Spiel, welches Tschechow eine Komödie nennt, mein frühes Leben spiegelt. Es ist wirklich wahr - es war ein sonderbares Zusammentreffen: Meine Mutter war Schauspielerin, ich hatte mein erstes Stück geschrieben, und ich war verliebt in ein junges Mädchen, das Schauspielerin werden wollte. Alles entsprach der Situation von Konstantin Trepljow in der "Möwe".
Ich kannte damals andere Stücke von Anton Tschechow, den Inhalt der "Möwe" aber kannte ich nicht, und ich hatte das Stück weder auf der Bühne, noch in der Television gesehen. Ich hatte Probleme mit verwirbelten Beziehungen zu Menschen, und ich saß in einem sonderbaren Beziehungs-Karussell alter Psychologie wie fest-gebannt. War ich zerrissen zwischen Hysterie und schmählicher Unterwerfung?
Ich war ein übersteigerter "Zerrissener" von Anfang an gewesen. Woher das
kam? - Meine Mutter war eine Schauspielerin, eine SCHAU-Spielerin!
Nein, keineswegs - ich wollte mich nicht erschießen wie Konstantin, aber
vielleicht war mir manchmal danach. Was konnte ich meiner "Nina" sagen
damals und erklären? Ich kann mich nur noch spärlich an Dialoge erinnern.
Sie erschien mir damals wie die Julia aus "Romeo und Julia" - ich aber war durchaus kein Romeo, obgleich ich es gerne gewesen wäre. Ein schmerzliches "Romeo"-Erlebnis (eine Jugendliebe) hatte das Mädchen schon vor mir gehabt, zu meinem Leidwesen! Meine junge "Nina" verfiel einem trinkfreudigen intellektuellen Rotkopf auf das Fürchterlichste, und das schaffte mir viel Verzweiflung. Jedoch - keine Kugel kam in meinen Kopf...
Und so stehe ich manches Mal an einem salzburgischen See , und imaginiere
etwas zwanghaft, wie Konstantin (der aufstrebende Autor) und die jüngere
Beinahe-Schauspielerin Nina, die "neue Formen" aus-zu-probieren versuchen
mit denen der Kunst-Kopf (Kostja) die Bühnenkünste umzukrempeln hoffte
(Michael Laages). Und ich fühle mich dann ganz wie dieser Kostja . . .
und ich denke: Ist das Postdramatische Theater etwa . . .
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