Mottes Schweigen

von Kai Bremer

Bielefeld, 5. September 2020. Als Matthias Brandts Roman "Blackbird" vor einem Jahr erschien, wirkte manch eine Literaturkritik merklich enttäuscht. Nicht etwa, weil er schlecht erzählt war. Vielmehr schienen einige Rezensent*innen erwartet zu haben, dass Brandt seinen Schauspielerkollegen nacheifern und die x-te romanhafte Schilderung der eigenen Jugend vorlegen würde. Aber "Blackbird" liefert nicht Ankedotisches aus dem Kanzleramt in Meyerhoff-Manier, sondern die Geschichte des fünfzehnjährigen Morton, Motte, Schumacher.

Zeittypische Farbtöne

Der Coming-of-Age-Roman beginnt, als die Hauptfigur von der Krebserkrankung seines besten Freundes Bogi erfährt, und schließt ein knappes Jahr später mit dessen Begräbnis. Allerdings setzt Brandt auf ähnliche Erzählmittel wie eben Joachim Meyerhoff oder (freilich weniger überzeugend) Axel Milberg. Retrocharme und wohldosierte simplicianische Einfalt verbindet Brandt mit einer Liebeserklärung an die Musik der eigenen Jugend.

Blackbird4 560 PhilippOttendoerfer uEs war einmal in den 1970ern: Jan Hille, Georg Böhm, Carmen Witt und Susanne Schieffer. © Philipp Ottendörfer

Christian Schlüter hat in der Uraufführung des Romans am Theater Bielefeld all dies aufgenommen. Zuletzt erklingt zum Sepia-Video (Sascha Vredenburg), in dem Motte, Bogi und ihre Freundinnen und Freunde sich noch einmal durch die Landschaft lümmeln, der titelgebende Beatles-Song Blackbird. Schlüter lässt Mottes Gedanken und Äußerungen von allen sieben Schauspieler*innen (Georg Böhm, Lukas Graser, Jan Hille, Tom Scherer, Susanne Schieffer, Alexander Stürmer, Carmen Witt) sprechen. Anke Grot hat sie mit Holzfällerhemden, hellen Jeans und Turnschuhen hübsch 1970er-mäßig eingekleidet.

Die wenigen Requisiten auf ihrer gestuften Bühne sind in zeittypischen Farbtönen und Designs gehalten. Wenn die sieben Darsteller*innen andere Figuren übernehmen, wird das meist durch einfache Kleidungswechsel, manchmal auch durch Videos im Hintergrund angedeutet. Als Motte sprechen sie meist einzeln, manchmal wird das Gesagte versetzt wiederholt, nicht aber chorisch gesprochen. Zudem bewegen sie sich viel und nutzen die Breite der Bühne des Stadttheaters (vor der Pandemie war das deutlich kleinere Theater am Alten Markt die bevorzugte Bühne des hiesigen Sprechtheaters). Außerdem wird die Bühne immer wieder variiert, so dass das Spiel nie langweilt.

Lauter Lieblingsplatten

Da Mottes Leben mit der Nachricht von der schweren Erkrankung seines Freundes außerdem nicht etwa zum Stillstand kommt, sondern sowohl in puncto Liebesleben als auch Drogenkonsum Fahrt aufnimmt und Brandt all das mit viel Witz und Liebe zum Detail erzählt, ist auch Schlüters Uraufführung ausgesprochen kurzweilig. Mottes Dates werden leitmotivisch von I'm Not in Love von 10cc begleitet, zwischendurch sind kurz die Talking Heads zu hören. Bowies Heroes lässt Schlüter hingegen nicht anspielen, obwohl das eine von Mottes Lieblingsplatten ist. Die Musik wird also insgesamt eher zurückhaltend eingesetzt. Auch die Fußballbegeisterung wird zwar nicht gestrichen, doch gibt ihr Schlüter längst nicht den Raum, den sie im Roman einnimmt. Vielmehr konzentriert sich die Inszenierung auf die Momente, die im Roman zentral sind.

Blackbird10 560 PhilippOttendoerfer uAuf dem Zehn-Meter-Turm: Lucas Graser und Jan Hille © Philipp Ottendörfer
Motte sucht seinen Ort im Geschehen. Seine Eltern trennen sich, sein bester Freund liegt im Sterben. Gleichzeitig lässt ihn die hübsche Jaqueline all das mit einem Schlag vergessen – und Motte weiß nicht, ob das angesichts der traurigen Ereignisse um ihn herum in Ordnung ist. Erst als Bogi gestorben ist, stürzt er wortwörtlich ab: Mit zwei Flaschen Amselfelder besäuft er sich auf dem 10-Meter-Turm im Freibad, wo ihn der Elvis verehrende Bademeister Günter findet. Schlüter erspart seinem Publikum dessen "linkes Ei", das Motte im Roman die ganze Zeit anstarrt. Stattdessen lässt er die beiden wunderschön-verzweifelt Elvis' All Shook up singen, ehe Motte vom Turm springt. Ein Video zeigt, wie er ins Wasser eintaucht, während eine Stimme aus dem Off erklärt, dass er nun das Sprechen einstellt. Oskar Matzerath lässt grüßen.

Ästhetischer Mehrwert

In Brandts Roman stehen Mottes erzählte Gedanken in deutlicher Diskrepanz zu seinem äußeren Schweigen. In der Inszenierung sitzen die Freunde auf der roten Bank an Bogis Grab, die auch das Cover des Romans zeigt. Sie schweigen so lange, dass Teile des Publikums die Szene für das Schlussbild halten und zu klatschen beginnen. Mottes Freundin Steffi, die ihn anders als die adrette Jaqueline nicht nur lustig findet, sondern seine Untiefen erkennt und immer wieder erdet, holt ihren Kassettenrecorder, aus dem die Geschichte der Beerdigung erzählt wird.

Die Trennung der Stimmen von den Figuren symbolisiert einfach wie überzeugend das Innen und Außen von Motte, das für Brandts Roman zuletzt so wichtig ist und für das er keine plausible Form gefunden hat. Was lange Zeit wie eine einfalls- wie abwechslungsreiche, letztlich aber erwartbare Inszenierung eines weiteren Prosawerks wirkt, gewinnt so in der Schlussszene ein Moment, das klar macht, warum Romanadaptationen auf dem Theater durchaus einen ästhetischen Mehrwert gegenüber der Lektüre haben können.

Blackbird
von Matthias Brandt
Uraufführung
Regie: Christian Schlüter, Bühne und Kostüme: Anke Grot: Video: Sascha Vredenburg, Dramaturgie: Franziska Eisele.
Mit: Georg Böhm, Lukas Graser, Jan Hille, Tom Scherer, Susanne Schieffer, Alexander Stürmer, Carmen Witt.
Premiere am 5. September 2020
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.theaterbielefeld.de

 


Kritikenrundschau

Ein "Wechselbad zwischen Witz und Melancholie" erlebte Burgit Hörttrich vom Westfalen-Blatt (7.9.2020). Der Abend werde durch die Spieler*innen, "die gekonnt und gut nachvollziehbar von einer Rolle in die andere schlüpfen, neue Perspektiven einnehmen, überaus lebendig". Fazit: "Blackbird" sei "ein Stück für jede Generation. Eines mit trockenem Humor. Eine einfache Geschichte. Nicht verpassen!"

Für Johannes Vetter von der Neuen Westfälischen (7.9.2020) erscheint diese Romanadaption "geradezu zwingend, denn der Romanautor, lakonisch, geistreich und melancholisch, wie er ist, gestaltet die vielschichtige Welt junger Erwachsener so empathisch und liebevoll, fast zärtlich, dass sich der Leser bereits im Theater wähnt, wenn er im Buch schmökert". Es sei "ein kluger Schachzug" von Regisseur Christian Schlüter, das Geschehen aus der Erinnerung heraus zu entwickeln; "die Grenze zwischen Erinnerung, Traum und Realität ist höchst durchlässig". "Skurrile Bilder" wie in der Szene mit der Urne nach der Beerdigung von Bogi stellten "ein kräftiges Trauersymbol" dar.

"Man merkt dieser Uraufführung die besonderen Anforderungen der Zeit an, aber auch den kreativen und spielerischen Umgang damit, und obwohl sich die Schauspieler allen dramaturgischen Anforderungen zum Trotz niemals zu nahe kommen dürfen, vermittelt die Inszenierung doch eine besondere Art der Auferstehung des Protagonisten, und somit eine Dimension, die über den Roman hinaus geht", berichtet Elke Engelhardt für das Portal Resonanzen Kultur in Ostwestfalen-Lippe (6.9.2020).

Martin Burkert sagte auf WDR 5 (7.9.2020): Der Figuren- und Rollenwechsel sei ein Konzept, das "flüssig und elegant aufgeht", im Gespräch mit Regisseur Christioan Schlüter erfährt Burkert, dass sich seit dem Wiederbeginn nach Corona eine "eigentümliche Grundtraurigkeit" bei den Spielerinnen eingearnbeitet, es gebe in der Arbeit ein anderes Bewusstsein für die "Zerbrechlichkeit des Lebens". Doch trotz der Einschränkungen durch das Hygiene-Reglement gelinge die Eröffnung der Bielefelder Schauspielsaison, "Blackbird" leuchte "tief schürfend in die Seele eines Jugendlichen hinein".

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