Die philosophische Hintertreppe

von Michael Laages

Wiesbaden, 8. September 2020. Als hätte Tschechow schon lange vor Tschechow und Gorki noch viel länger vor Gorki geschrieben. Und als hätte Iwan Turgenjew nicht (wie tatsächlich im Stück) mit 26 Jahren die ersten Proben als Schriftsteller eingereicht, sondern sich bereits mit einem fertigen historischen Panorama-Stück (wie etwa "Ein Monat auf dem Lande") als profunder Zeuge der eigenen Zeit vorgestellt – mit einer in jeder Hinsicht verblüffenden Camouflage hat sich der englische Dramatiker Tom Stoppard kurz nach der jüngsten Jahrtausendwende eine Epoche angeeignet, deren Heldinnen und Helden vor eineinhalb Jahrhunderten den revolutionären Bewegungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts voran gegangen sind.

Lange lag Wolf Christian Schröders Übersetzung der drei Teile von "Die Küste Utopias" in den Theater-Dramaturgien vor, erst jetzt nimmt sich das Staatstheater Wiesbaden des monumentalen Epos' an: Henriette Hörnigk, Chefdramaturgin und Matthias Brenners Stellvertreterin in der Leitung vom Neuen Theater in Halle, lässt sich und das vielköpfige Ensemble beim "Aufbruch", dem ersten Teil der Trilogie, sehr weit aus der Gegenwart fallen: in eine Zeit weit vor der Zeit.

Landgut-Wimmelbild

Wir sind in Russland zu Besuch, und das gleich in mehrerlei Hinsicht. Zum einen szenisch wie dramaturgisch – Stoppard entwirft einen Kosmos wie von Tschechow oder Gorki oder eben Turgenjew: mit dem großen Familientreffen auf dem Landgut nicht weit von Moskau zu Beginn, wo alle mit allen am Tisch sitzen und essen, trinken, reden, lachen und lieben. Von jetzt an – das wird klar vom ersten Wimmelbild an - wird der Text jede mit jedem irgendwie in Verbindung setzen, auf dem Landgut selbst, aber auch in den Metropolen der Epoche. Irgendwann wird irgendwer "nach Moskau" aufbrechen wie bei Tschechow, und auch Sankt Petersburg wird zum realen Fluchtpunkt werden.

Utopia 560 karlundmonikaforster uAlle an einem Tisch: sitzen und essen, trinken, reden, lachen und lieben und die Welt erklären in Tom Stoppards Stück © Karl und Monika Forster

Obendrein aber (und deshalb sind wir Zeitgenossen von heute noch auf ein paar anderen Wegen zu Besuch im alten Russland!) werden hier auch unablässig europäische (oft deutsche) Denkerinnen und Denker beschworen: etwa Kant, Schelling, Fichte und Hegel; immer wieder auch die wegweisende französische Schriftstellerin George Sand.

Intellektueller Echoraum

Wir befinden uns bei und mit Stoppard sozusagen auf der philosophischen Hintertreppe – lesend, lernend und denkend eignen sich die zentralen Figuren an der "Küste Utopias" die aktuellen intellektuellen Welterklärungs- und Erneuerungsmodelle an; immer übrigens im typisch russischen Minderwertigkeitsgefühl der Zeit. Abgehängt von allen Vorwärtsbewegungen der Zeit sehen sich die Intelligenzler Mitte der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts, immer atemlos damit beschäftigt, den Zentren der modernen Welt zehn, zwölf oder noch mehr Jahre hinterher zu hecheln. Russland ist hier Europas spätfeudaler Hinterhof, hier wird noch im Duell gestorben - der wichtigste Dichter der Zeit, Alexander Puschkin, endet so mitten in Stoppards Stück (und historisch exakt) zu Beginn des Jahres 1837.

Überhaupt sieht "Die Küste Utopias" oberflächlich betrachtet wie eine gut sortierte Dokumentation aus – das Landgut, wo die vierzehn Jahre des Stückes beginnen und enden, gehört Alexander Bakunin, dem Vater des späteren Anarchisten Michail; er ist die eine der zentralen Denk-Figuren im Stück – und die lebendigste. Auch die, denen er begegnet, sind (und waren auch in Wirklichkeit) Teil der intellektuellen Umwälzung, die gerade beginnt. Vom Dichter Turgenjew war schon die Rede, aber auch der Schriftsteller und Philosoph Alexander Herzen denkt hier nach über die Neu-Erfindung der Welt; sogar die Figur des ambitionierten Literaturkritikers Wissarion Belinski ist historisch verbürgt.

Traum von der Neuerfindung der Welt

Stoppard formt aus diesen authentischen Figuren das kleine russische Welttheater der vorvorvorrevolutionären Zeit. Bald werden sie alle sich zum intellektuellen Echoraum entwickeln für die Revolutionärinnen und Revolutionäre, die nach ihnen kommen. Jetzt, vor mehr als 180 Jahren, dürfen sie noch träumen; die Vision, die in ihnen keimt, ist noch nicht beschädigt. Oder vielleicht doch?

Utopia1 560 karlundmonikaforster uUtopien ausmalen, Feste feiern: Christian Tzatzaraki und Ensemble in "Die Küste Utopias" © Karl und Monika Forster

Sie alle haben auch recht lächerliche Seiten. Vor allem stolpern sie immer wieder übers Gefühl – die vielen Frauen an ihrer jeweiligen Seite etwa sind nie die ernst zu nehmenden Partnerinnen, die sie vielleicht schon sein könnten. Unentwegt philosophieren die Herren über die Liebe – aber das Denken können sie nicht umsetzen in zivilisatorische Praxis. Wie klug sie alle sich auch geben mögen, sie bleiben durchweg doch auch erstaunlich dumme Männer. Vielleicht lernen sie dazu in den Teilen 2 ("Schiffbruch") und 3 ("Bergung"), die Wiesbaden zeigen wird in den kommenden Spielzeiten.

Henriette Hörnigk, prägend ansonsten für’s Neue Theater in Halle, hält Stoppards Text-Last von Beginn und über drei Stunden mächtig auf Trab, lässt die vielen Gruppen-Szenen wie auch das Denken in den Philosophen-Köpfen phantasievoll und rasant brummkreiseln; fast immer ist alles in Bewegung. Der Spiel-Raum von Gisbert Jäkel hält mit – die an sich eher nicht so verwandlungsstarke Bühne im Kleinen Haus des Staatstheaters wechselt die Szenerien flott wie selten, und Jäkels Bild-Ideen greifen den Denk-Furor von Stoppards Figuren auf. Claudia Charlotte Burchard, Hörnigks Haus-Kostümbildnerin in Halle, stiftet darüber hinaus optisch markante Gruppen, vor allem bei den vielen Frauen im Stück; immerhin hat Papa Bakunin außer dem wild-anarchischen Sohn Michail noch vier Töchter. Auch den Musiker Bernd Bradler hat Henriette Hörnigk aus Halle mitgebracht; er montiert mit viel klugem Effekt russische Stimmen und Stimmungen.

Wilde Mischung

So entsteht eine ziemlich spezielle Mischung – aus Gedanken-Gesplitter und frech vor sich hin karriolender Komödie. Hörnigks Team und das extrem engagiert und kollektiv agierende Ensemble zeigen vor allem, dass es unter zeitgenössischen Autoren hierzulande keinen gibt wie Tom Stoppard. Ob ihm dann am Ende aller drei "Utopia"-Teile tatsächlich der fundamentale Zeitgeist-Kommentar zur uralten wie zur brandneuen Sehnsucht nach Utopia gelungen sein wird, jenseits vom antivisionären, denkfeindlichen Zeitgeist-Wahn der vergangenen Jahre? Das dürfen wir abwarten – und nachlesen, weil der Theaterverlag Jussenhoven und Fischer ja den kompletten Text als Buch vorgelegt hat. Stoppards Denken wird gebraucht. Stoppards Theater ist ein virtuoses Spiel mit den Masken der Jahrhunderte.

 

Die Küste Utopias
Erster Teil: Aufbruch
von Tom Stoppard
Deutschsprachige Erstaufführung
Regie: Henriette Hörnigk, Bühne: Gisbert Jäkel, Kostüme: Claudia Charlotte Burchard, Musik & Sound: Bernd Bradler, Licht: Ralf Baars, Dramaturgie: Marie Johannsen.
Mit: Mira Benser, Lina Habicht, Lena Hilsdorf, Christoph Kohlbacher, Uwe Kraus, Tobias Lutze, Martin Plass, Sophie Pompe, Lukas Schrenk, Linus Schütz, Paul Simon, Felix Strüven, Christina Tzatzaraki, Felix Vogel, Matze Vogel, Klara Wördemann, Maria Wördemann und Statisterie.
Premiere am 8. September 2020
Dauer: 3 Stunden 15 Minuten, eine Pause

www.staatstheater-wiesbaden.de

 

Mehr zu Tom Stoppard: Deborah Vietor-Engländer schrieb im Februar 2020 im Theaterbrief aus London über sein neues Stück "Leopoldstadt" am Wyndham's Theatre in London

 

Kritikenrundschau

"Jäher Frohsinn auf der Bühne, wie selten gelingt das, wie schön ist es, den gickelnden Töchtern – Lena Hilsdorf, Klara Wördemann, Maria Wördemann und Lina Habicht –, dem gemütlichen Gutsbesitzerehepaar – Uwe Kraus und Christina Tzatzaraki – und dem ungebärdigen Sohn Michael, Paul Simon, dabei zuzusehen", fragt und lobt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (9.9.2020). Regisseurin Henriette Hörnigk setze dabei auf  "eine 'russische' Atmosphäre" und "eigentlich befindet man sich die ganze Zeit über in einem Stück von Tschechow, das manchmal zu einem etwas direkteren Stück von Gorki wird", so die Rezensentin. Das alles fülle sich in Wiesbaden "mit flirrendem Leben".

 

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