Die Qual der Kreatur

von Andreas Wilink

Bochum, 10. September 2020. Wir erfahren, wer wir sind, indem wir begreifen müssen, wer wir nicht sind. Abzudanken und zu spüren, dass die Niemandszeit über einen hereinbrach, ist schwer. Noch schwerer, zu unterscheiden lernen zwischen dem, was es heißt, seine Bedeutung zu verlieren und sich zu verlieren und dabei irre zu gehen. In dieser Konsequenz lässt sich King Lear denken: zu verstehen in seiner subjektiven Erkenntnis des Aus-der-Welt-Fallens und dieser mit aller Macht begegnen zu wollen und dann auf die eigene Ohnmacht zu treffen. 

Autonomie und Selbstwerdung

Nicht aus der Egomanie und Laune, dem Starrsinn und Jähzorn des Herrscher-Vaters, nicht aus Blindheit und Taubheit für die rechte Liebe und deren stilles Wort. Der hochfahrende, nun gedemütigte König ohne Land und ohne Kind wird irre, um sich in schützende Abgrenzung zur Realität zu bringen – was ist dies anderes, als die allerextremste Distanz-Erfahrung. "Bar von allem ist der Mensch nicht mehr als ein freiliegend zweifussiges Tier", heißt es in der Übersetzung von Miroslava Svolikova.

King Lear 560 JU Bochum 11 Heller Wahn in schwarz-weiß gemaserter Welt: Piere Bokma ist König Lear © JU Bochum

Die Bochumer Fassung, in der Johan Simons den "Lear" inszeniert, beginnt mit einem knappen Prolog – von weither, dem Endpunkt des Dramas, nach vorn gerückt. Nicht mit der herrischen Reichsteilung, vielmehr mit dem Eingeständnis der Schwäche setzt die Aufführung an: "Bitte, lacht nicht über mich: / ich bin ein alberner und altersschwacher alter Mann. Und wohlmöglich auch nicht ganz bei Sinnen." Aber ein heller Wahn ist um ihn, Pierre Bokma, Überlegung, Besinnung und Besonnenheit ihm nicht fremd, eher schon zu fühlbar nahe. Dieser Lear – von einem Atemzug zum nächsten ganz da und diesseits und ganz in sich versunken, kaltblütig beherrscht, selbstreflektiert und außer sich – erfährt seine Autonomie und Selbstwerdung im Angesicht des Todes als dem Moment absoluter Negation. "Der Tod in diesem Stück ist unverhüllt er selbst," schreibt Elias Canetti.

Spaltungen, Staatskrisen, Verwünschungen

So kann dann mit der Reichsteilung, die Lear mit klarem Feuerkopf vornimmt, das Blutspiel um Krone und Vormacht beginnen und enden, um die Paranoia des Herrschenden, der in jedem Teilhaber den Todfeind wittert, der vernichtet werden muss, um selbst als einzig Überlebender da zu stehen unter lauter hingestreckten Leibern, wie auch das Schlussbild in Bochum nach drei Stunden zeigt. Jedoch auch für diesen Letzen gilt: Es ist "eine Frage nur von Fristen", wie der brave Gloster-Sohn Edgar sagt.

Lichtwechsel verwandeln Johannes Schütz’ Bühne in strukturierte Räumlichkeit. Hinter einem aufgeschütteten Erd- und Grabhügel zieht sich eine hölzerne Wand mit sechs eingeschnittenen unterschiedlich formatierten Öffnungen hoch. Durch sie schauen wir auf eine büromäßige Teeküche, die eine Kamera observiert und für uns Zuschauer gegenläufig projiziert. Überhaupt hat sich das feudale Drama durch und durch protestantisch verbürgerlicht.

King Lear 2 560 c JU Bochum uDer alte Mann und das Schoolgirl: Piere Bokma (Lear) und Anna Drexler (Cordelia)   © JU Bochum

Selbst der abgefeimte Bastard Edmund (Patrick Berg), der böse Mund der Wirklichkeit von gestern und heute, der "entzweite Familien; Tod und Hungersnot, Naturkatastrophen und Plagen, unkontrollierte Zustände, Auflösung alter Freundschaften; Spaltungen im Staat, Staatskrisen, Verwünschungen; allgemeines Misstrauen, Verbannung, Auflösung des Heeres, Trennung der Ehen, das Ende der Familie" bilanziert, trägt seinen höfischen Hut wie ein ironisches Aperçu. Ansonsten ist er Mittelstand. Moderat rabiat. So wie die anderen, Angestellte im Unternehmen England, betrachtet aus der Perspektive der Republik, die ihre Tücken auch haben kann. Dazu ein Soundtrack, dessen Brausen weniger Windstärken als die PS von Autobahngeräuschen zu sammeln scheint.

Auf der Heide tosen auch nicht die Elemente. Die Natur hat sich eingehegt ins Innere des Menschen. Der Sturm bleibt Sprechakt. Das Drama ist Diskurs. Auf einen Schlag färbt sich die Welt schwarzweiß, wir sehen sie so mit dem nun geblendeten Gloster. Der großartige Steven Scharf, der die politische Kultur einer Großen Koalition bis hin zur schneidenden Sachlichkeit verkörpert, findet in sich die Qual der Kreatur. Der Schmerz reicht immer zurück ins Archaische und Archetypische.

King Learx 560 JU Bochum 7 Schneidende Sachlichkeit: Pierre Bokma, Konstantin Bühler, Stefan Hunstein © JU Bochum

Aus dieser Traumzeit hat sich Glosters verstoßener Sohn Edgar (Konstantin Bühler) seine Camouflage als nackter und bloßer "Armer Tom" herübergeholt und sie zu seinem zweiten – oder wohl gar eigentlichen – Wesen gemacht. Die schwarzweiß gemaserte Welt jedoch ist reicher, als die vorherige buntere, in der Anna Drexler ein burschikos aufmüpfiges, hüpfendes und türenknallendes Public-School-Girl Cordelia war, die nach dem Alten mit einer Handvoll Mutterboden schmeißt, und zugleich der Narr als hibbelig kiebiges Pumuckl-Geschöpf. Die Schattenmänner Lear und Gloster leuchten in diesem Dunkel in ihrem noblen Leid.

Formulierter Entzug

Was während Simons' Regie-Radikalkur passiert, geschieht indirekt: auf Abstand. Wenig mehr kann derart harsch sein wie dieses Distanz-Einziehen, das beißend herbe, theatral sich aushungernde, epische und statische Leben zum Tode. Jeder stirbt für sich allein. Als ein Schuss fällt, ist der Schrecken darüber kleiner, als der über die leise, klamme und stille Separation. Wo Berührung sich meidet, ob zwischen dem blinden Gloster und seinem Edgar, ob zwischen Lear und seiner Cordelia, muss eine andere Nähe gestiftet werden. Johan Simons' "Lear" formuliert den Entzug, ohne zu verkümmern. Nicht ein Gramm zu viel. In dieser Reduktion liegt sein Gewicht.

 

King Lear
von William Shakespeare
Neuübersetzung von Miroslava Svolikova
Regie: Johan Simons, Bühne: Johannes Schütz, Kostüme: Greta Goiris, Textfassung und Dramaturgie: Koen Tachelet, Angela Obst, Sound: Warre Simons, Robin Koek, Video: Lennart Laberenz, Licht: Bernd Felder.
Mit: Mourad Baaiz, Patrick Berg, Pierre Bokma, Konstantin Bühler, Anna Drexler, Ann Göbel, Stefan Hunstein, Michael Lippold, Steven Scharf.
Premiere: 10. September 2020
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.schauspielhausbochum.de

 

Kritikenrundschau

"Eine seltsame Starrheit liegt über dem ganzen Arrangement", schreibt Simon Strauß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (14.9.2020). "Dass hier gerade alle Ordnung zusammenbricht, wie Gloster es schildert", so der Kritiker, "kann man sich nur schwer vorstellen." Große Probleme hat Strauß dabei mit der von Miroslava Svolikova besorgten Übersetzung: "Die Art ihres Umgangs mit der alten Tieck-Übersetzung, der zum Großteil im Austausch von einzelnen Adjektiven und der semantischen Aktualisierung von Bedeutungen besteht, ist für den Klang und die Wirkung des Textes verheerend." Dennoch lasse man sich "die langen drei Spielstunden gefallen, weil hinter all der distanzierten Starrheit eben wunderbare Schauspieler tastend nach neuen Formen des Ausdrucks suchen", so Strauß.

"Simons vertraut auf den mitdenkenden Zuschauer", findet Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (15.9.2020). "Auf die Analyse des Textes beim Hören. Und das klappt. Lange Zeit zumindest." Sie Figuren seien Monolithen: "Ihre Stellvertreter erklären sich, einer nach dem anderen, sehr empathisch, enthusiastisch. Dem meist vollkommen vereinzelten Sprechen mangelt es nie an Emotionalität, auch wenn alles vorgeführt ist." Gegen Ende allerdings schwäche sich "die Faszination von Johan Simons' kunstreichen Analysetheater" ab. 

Simons führe in seiner dreistündigen Inszenierung "durch Abgründe an Schlechtigkeit, durch emotionale Wechselbäder und immer wieder zu Momenten der Launigkeit", so Ralf Stiftel im Westfälischen Anzeiger (online 12.9.2020). "Dem Finale nimmt er die Schwärze, indem er sozusagen einen doppelten Boden einzieht." Lear sei eins der schwärzesten Dramen von Shakespeare. "An diesem Abend erlebt man, dass es zugleich ein unglaublich verspielter Text ist, ein bisschen surreal, ein bisschen Beckett, ein bisschen Monty Python."

Kommentare  
King Lear, Bochum: autistisch
Der Rezensent und ich scheinen in verschiedenen Theatern gesessen zu haben. Wenn mir als routiniertem Theatergänger auch nach über einer Stunde Spielzeit noch nicht einmal ansatzweise deutlich wird, was mir die Darsteller auf der Bühne eigentlich erzählen wollen, läuft einiges gewaltig schief. Und das kann kaum an dem vielleicht besten Dramatiker aller Zeiten liegen ...

Mein Fazit lautet: Johann Simons und sein Team haben erneut einen autistischen Theaterabend abgeliefert, der sich vielleicht hausintern nach langen Probenwochen erschließen kann, das geneigte Publikum aber nur völlig ratlos und vor allem sehr verärgert zurückläßt. Und diese Einschätzung haben alle mir bekannten Premierenbesucher geteilt!

Für mich war das kein "Glutkern" Shakespeares, sondern bloß eine hohle Theaternuß!
King Lear, Bochum: neu erschaffen
Simons hat, wie auch schon auf der Ruhrtrienale, etwas völlig Neues geschaffen. Sicher nichts für Konservative, aber für mich und meine Mutter (86 J.), die immer noch offen für gutes Theater, ein gelungener Abend. Den Simons geben wir nicht wieder her!
King Lear, Bochum: Kaum berührt
Ganz so irritierend wie mein Vorredner Nr.1 habe ich diesen Theaterabend nicht erlebt. Das Drama entwickelt sich langsam, trotz Kürzungen, Abgründe tun sich auf, die Schauspieler geben alle ihr Bestes unter Coronabedingungen, Vielleicht liegt es an ihnen, dass mich das Geschehen auf der Bühne kaum beruehrt, nicht der Furor und die Einsamkeit des Lear, nicht die abgefeimten Schwestern, nicht der intrigante, böse Edmund. Allein die Verlorenheit des Grafen Gloster und Anna Drexler als kluger Narr/liebende Cordelia gehen mir ans Herz.
King Lear, Bochum, Live-Stream: karg
Wie von Johan Simons gewohnt entschlackt er die Tragödienhandlung und entschleunigt das Spiel seines Ensembles, das auf einer fast komplett leeren Bühne von Johannes Schütz agiert. Rechts türmt sich ein Erdhügel auf, an dem der greise Narr Lear die Teilung des Reiches wie an einem Sandkastenmodell durchexerziert und in dem später viele der zahlreichen Leichen dieses Stücks versinken. Im Hintergrund ist die Kaffeeküche eines Büros zu erahnen, das im 60er Jahre-Stil eingerichtet ist.

Protestantisch-karg soll im Konzept von Simons und seinen Dramaturg*innen Koen Tachelet und Angela Obst möglichst wenig von den Dialogen ablenken, die allerdings leider zum Teil von Hängern in der Stream-Übertragung verschluckt und zerstückelt wurden. Sehr streng wirkt diese Versuchsanordnung, in der alle Spieler*innen mit großem Abstand agieren: das ist einerseits natürlich den aktuellen Corona-Regeln geschuldet, aber auch ein bewusst eingesetztes Stilmittel, um die Verlorenheit und Verzweiflung der Shakespeare-Figuren zu unterstreichen. Dieser „King Lear“ ist in seiner verkopften Formstrenge und wortlastigen Askese mehr Arbeit als Genuss.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/12/09/king-lear-johan-simons-schauspielhaus-bochum-kritik/
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