In entlegenen Ecken

von Lara-Sophie Milagro

15. September 2020. Mein erster Auftritt seit dem Lockdown im März fiel ausgerechnet auf den Tag, an dem nur ein paar Kilometer Luftlinie vom Theater entfernt die bisher größte Anti-Corona-Maßnahmen Demo in Berlin stattfand. Zuverlässig wie stets meldeten sich einen Tag später Vertreter*innen der Bundesregierung und andere aufrechte Demokraten zu Wort, um die erfolgreiche Vereinnahmung der Proteste durch die radikale Rechte zu verurteilen. Von "Chaoten und Extremisten", einem "Angriff auf das Herz unserer Demokratie" war da die Rede, CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer ließ verlauten, sie sei angesichts faschistischer Symbole vor dem Reichstagsgebäude "richtig wütend über die Bilder, die man dort gesehen hat" und der Deutschlandfunk kam zu dem Schluss: "Diese Bilder sind ein Schock."

Die Rückkehr der 1990er

Nun hat Schock ja immer etwas mit Überraschung zu tun und setzt voraus, dass man in keinster Weise damit gerechnet hat. Als ich die Straße Unter den Linden in Richtung Theater entlang lief und Menschen mit 88er-Tätowierungen und Reichskriegsflagge an mir vorbeizogen, war das Einzige, was mich wirklich schockierte die Tatsache, dass ich kein bisschen schockiert war. Stattdessen bekam ich es mit der Angst zu tun, denn Rechte, die sich nicht mehr in irgendwelchen No-Go-Areas verkriechen, sondern selbstbewusst durchs Stadtzentrum flanieren, hatte ich aus so unmittelbarer Nähe seit den frühen 90ern nicht mehr gesehen.

17 NAC Kolumne Visual Milagro V3Das war damals die Zeit, als Bilder von Rostock Lichtenhagen, Hoyerswerda, Mölln und Solingen um die Welt gingen, an meiner Schule im gutbürgerlichen Bremen Horn-Lehe plötzlich Skinheads den Pausenhof kontrollierten, die DVU in die Bremer Bürgerschaft einzog und in der Innenstadt Menschen mit "Ich bin stolz ein Deutscher zu sein"-T-Shirts neben mir in den Bus einstiegen. Es war die Zeit, in der Amadeu Antonio und Silvio Meier am helllichten Tage von Nazis ermordet wurden und ich anfing bei Verwandtenbesuchen in meiner Heimatstadt Berlin bestimmte Viertel aus Angst vor rechten Übergriffen zu meiden. Ich erinnere mich an ein Grundgefühl ständiger Anspannung und permanent ausgefahrener Antennen: Wer steigt in die U-Bahn ein? Setzt der Mensch mir gegenüber mit seinen besonders kurzen Haaren und der Alpha-Industries-Jacke einfach nur ein Fashion Statement oder steckt eine rassistische Gesinnung dahinter? Wo genau liegt der See, zu dem Freunde mich zum Baden mitnehmen wollen und kann ich es vermeiden, mit der Regionalbahn dorthin zu fahren?

Seither gehören diese Fragen für mich zum Alltag wie Text lernen, Einkaufengehen oder Zähneputzen, und es geht mir wie Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer: Ich bin richtig wütend. Darüber, dass "rassistische Übergriffe an Badeseen im Berliner Umland" zu googeln für viele Menschen in Deutschland Normalität ist, und zwar nicht erst seitdem eine Gruppe selbsternannter Patrioten versucht hat, das Reichstagsgebäude zu stürmen. Ich bezweifle, dass die Angst dieser Menschen, von Rechten angepöbelt, krankenhausreif geschlagen oder ermordet zu werden, ohne dass der Staat willens oder in der Lage scheint, das mit allen Mitteln und konsequent zu verhindern, seit dem 29. August größer ist als in den 30 Jahren davor.

Der lange Schatten der Kolonialzeit

Seit den Morden an Ahmaud Arbery, Breonna Taylor und George Floyd wird weltweit gegen rassistische Gewalt und Diskriminierung protestiert, es werden Black-Lives-Matter-Quadrate gepostet und in einem so noch nie da gewesenen Social-Media-Aktivismus Solidarität mit den Opfern rechter Gewalt bekundet. Auch in Deutschland beginnt die breite Öffentlichkeit erstmals zaghaft darüber zu diskutieren, ob es hierzulande nicht vielleicht doch ein Rassismus-Problem geben könnte, wobei Betroffene meist im selben Atemzug mahnend daran erinnert werden, sich (weiterhin) in Geduld zu üben, Veränderung braucht schließlich Zeit. Und so liegt der Fokus der Debatte – sowohl in der Politik und den Medien als auch in der Kunst – nach wie vor vor allem auf der extremistischen Ebene von Rassismus, dem rechten Terror. Dabei wird nicht nur gerne außer Acht gelassen, dass rechte und rassistische Ideologien in Deutschland nicht erst seit der Zeit des Nationalsozialismus existierten, sondern weit in die (deutsche) Kolonialzeit zurückreichen und nach dem zweiten Weltkrieg zu keinem Zeitpunkt aufgehört haben zu existieren. Auch die alltägliche sowie die strukturelle Ebene von Diskriminierung – also der Alltagsrassismus und die Tatsache, dass sogenannte Minderheiten in kulturellen, sozialen und politischen Institutionen stark unterrepräsentiert sind – wird gerne ausgespart.

Dabei würden Überlegungen dazu, inwiefern diese drei Ebenen miteinander verflochten sind, sich gegenseitig beeinflussen und bedingen, vielleicht auch die Frage beantworten, die sich viele Leute dieser Tage stellen: Wie kann es sein, dass immer mehr Mitbürger*innen in der Kritik an den staatlichen Hygienemaßnahmen einen gemeinsamen Nenner mit den Rechten finden? Wie ist es möglich, dass der gute Freund, der eben noch "keinen Millimeter nach rechts"-Statements gepostet und an Unteilbar-Demos teilgenommen hat, nun neben Leuten marschiert, die Nazisymbole und Spruchbänder wie "Links und Rechts geht mir am Arsch vorbei, das System ist das Problem" tragen? Wirklich verwunderlich ist das alles nicht, wenn wir uns eingestehen, dass es schon lange vor Corona jede Menge solcher gemeinsamen Nenner gegeben hat: eine wachsende Anti-Stimmung gegen Flüchtende zum Beispiel, die gerichtliche Legitimierung des N-Worts im Landtag, "Der Islam gehört nicht zu Deutschland"-Statements politischer Repräsentant*innen.

Oh, es melden sich Menschen zu Wort!

Denn so groß der Schock über das selbstbewusste öffentliche Auftreten von Hardcore-Nazis auch sein mag: die Frage, inwieweit jeder einzelne von uns mit dafür verantwortlich ist, wenn rechtem Gedankengut Tür und Tor geöffnet wird, ist nach wie vor ein Tabu. So empörte sich Soziologie-Professor Levent Tezcan jüngst in der taz: "Selbst die Liberalen, gar die Linken, die immer schon ein sicherer Hafen für die Fremden im Lande waren, sind nicht mehr davor gefeit, als Rassisten gebrandmarkt zu werden" und stellte entsetzt fest: "Menschen mit Migrationshintergrund melden sich zu Wort. Sie wollen den Rassismus anprangern, nicht mehr nur den Rassismus, der von faschistischen Parteien unverblümt propagiert wird; auch nicht den, der noch in den Gesetzen und Institutionen steckt. Sie wollen ihn aus den entlegensten Ecken der Sprache, Kultur, Erinnerung herauszerren." Es wäre in der Tat keine schlechte Idee, in diese "entlegensten Ecken" zu leuchten, um zu verstehen, woher der Rassismus wuchert und um ebendiese Bilder vom 29. August zu verstehen, die deutlich zeigen, wie eine exzellent organisierte Rechte nicht nur Berlin Mitte, sondern auch Volkes Mitte kapert.

In den entlegensten Ecken steckt der historische und kulturelle Ballast, den die Gesellschaft mit sich trägt und an dem sie arbeiten muss, wenn sie nicht ins Fahrwasser des aufklärungsresistenten rechten Ressentiments geraten will. Es macht Hoffnung, dass Vermächtnisse kolonialer und rassistischer Gewalt, etwa Sprache, Straßennamen, Denkmäler – bisher unhinterfragter Bestandteil bürgerlicher Kultur –, mehr und mehr auf den Prüfstand gestellt werden. Jüngstes Beispiel ist die Umbenennung der Berliner Mohrenstraße in Anton-Wilhelm-Amo Straße, im Gedenken an den in Wittenberg promovierten Aufklärungsphilosophen, der als Kind aus Westafrika nach Europa verschleppt worden war. Damit solche wichtigen Schritte nicht bloße Symbolik bleiben, sollten wir uns besser endlich mit unseren eigenen "entlegenen Ecken" beschäftigen, anstatt uns über Nazis mit Reichskriegsflaggen zu wundern.

 

Lara-Sophie Milagro ist Schauspielerin, in der Leitung des Künstler*innen Kollektivs Label Noir, Berlinerin in der fünften Generation und fühlt sich immer da heimisch, wo Heimat offen ist: wo sie singt und lacht, wo sie träumt und spielt.


In ihrer letzten Kolumne schrieb Lara-Sophie Milagro über das groteske Theater des Realen in Zeiten der Corona-Pandemie.

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