Es regiert das Wort

von Georg Kasch

Hannover, 18. September 2020. Briefe also: Im Dutzend tragen Karlos und Elisabeth sie zu Beginn an die Rampe. Einen schönen Haufen ergibt das aus den zärtlichen Episteln, die sie sich einst als Brautleute schrieben. Aus ihnen entspinnen sich die herrlichsten Verwicklungen, Missverstände, Intrigen. Alle werden sich hier später bedienen.

Traum aller Konservativen

Briefe sind's, nicht E-Mails, WhatsApps, Sprachnachrichten. Das ist insofern symptomatisch, als Regisseurin Laura Linnenbaum in ihrer schnörkellosen Inszenierung von Friedrich Schillers "Don Karlos" am Schauspiel Hannover nie explizit aktualisiert. Blicke und Gänge regieren, Licht und Schatten, vor allem: das Wort. Könnte sein, dass Corona den Traum aller Konservativen wahr macht: dass wieder mehr, sinnhaltiger, deutlicher gesprochen wird auf den Bühnen, dass, wo Berührungen und Nähe versiegen, die reine Behauptung reichen muss. Und dennoch zeigt Linnenbaum Menschen von heute in einem ziemlich packenden Drama.

DonKarlos 1 560 IsabelMachadoRios uAuf karger Bühne intrigieren: Hajo Tuschy, Lukas Holzhausen © Isabel Machado Rios

Fünf dunkle Quader, mehr hoch als breit, fügen sich in Valentin Baumeisters karger Bühne zu Schlosswänden und Gefängnismauern und lassen dabei genau die Spalte und Gänge, die es braucht, um in ihnen zu beobachten und zu lauschen. Auf der Rückseite leuchten Röhren mal als Kreuz, mal als schmale Fenster des Palasts.

Bei Linnenbaum ist Spanien ein Überwachungsstaat noch ganz ohne Kameras. Menschliche Ohren genügen, und die scheinen überall, obwohl in der umsichtigen Strichfassung nur noch sieben Personen übrigbleiben: von den zahllosen Nebenfiguren nur Herzog Alba als humorloser Kriegshandwerker mit Blutspur, und Domingo mit einem Betende-Hände-Tattoo und schwarzem Kreuz auf dem Rücken als hohe Geistlichkeit. Funktioniert auch so: Beide sind ja exemplarische Vertreter der Macht und fast so etwas wie Bewusstseinsauskopplungen Philipps.

Der steht hier im Mittelpunkt. Noch nicht zu Beginn, im Garten von Aranjuez, als die Bühne noch weit und leer gähnt und Hocker den Protagonisten zur Familienaufstellung dienen. Hier hören alle, was sie ohnehin wissen oder ahnen: Karlos leidet, seufzt, klagt an. Und die andern? Geben kurze, knappe Schiller-Kommentare ab: "Das ist nicht Euer Ernst!" Einwürfe, die das Konfliktfeld schön umreißen. Bis Karlos Posa gesteht, dass er seine Mutter liebt: Da halten sich alle angestrengt die Ohren zu.

Nervensägen und Strippenzieher*innen

Doch je länger der Abend fortschreitet, desto mehr dringt Philipp in den Mittelpunkt. Das liegt auch daran, dass Sebastian Jakob Doppelbauers Karlos ein pubertärer Hitzkopf ist, ein zappeliger Ego-Boy, der nur um sich selbst kreist – dass sich Posa ausgerechnet ihn ausgesucht hat zur Umsetzung seiner Pläne, wirkt hier wie die größte Hybris unter allen. Oder dass Stella Hilbs Königin Elisabeth in Melania-Trump-Maske (überhaupt geizt die Inszenierung nicht mit sehr hässlichen Perücken) mehr damit beschäftigt ist, Hysterie und Emotionen zu unterdrücken (was ihr beeindruckend gelingt) als Politik zu machen. Oder Eboli: bisschen Emo, bisschen Göre, eher Auf-den-Geist-Geherin als Strippenzieherin. Viktoria Miknevich kostet das verstörende Potential ihrer Rolle gerade in der Pavillonszene genüsslich aus.

DonKarlos 2 560 IsabelMachadoRios uSocial Distancing am spanischen Hof: Lukas Holzhausen, Stella Hilb © Isabel Machado Rios

Bleiben Philipp und Posa. Hajo Tuschys Marquis ist ein Taktiker, der bei aller Strategie vergisst, dass Menschen keine Schachfiguren sind. Darin ähnelt er ja Lukas Holzhausens Philipp, nur dass der auch noch wirklich Mensch ist, eitel, einsam, bedürftig, aber auch gierig und gefangen in den eigenen Regeln: Holzhausen schnappt manchmal nach Worten wie nach mehr Luft.

Heutige Menschen in altmeisterlichen Szenen

Dieses Vertrauen aufs Wort, wenn auch nicht immer auf angestammtem Platz, auf die Betonung, wenige Gesten und Bilder zieht sich durch den Abend. Dass hier per Dekret Abstände gewahrt werden, fiele gar nicht weiter als außerkünstlerische Vorgabe auf, wenn die paar faden Corona-Scherze zu Beginn einen nicht darauf hinweisen würden. Am spanischen Hof passt jede erdenkliche szenische Distanz. Toll etwa, wen sich Posa von ganz außen in Winzschritten auf den König zubewegt, ihn dann allmählich umkreist, ihn mit Worten und mit seiner Präsenz umgarnt, ohne ihm je zu nah zu kommen. Und wie dann, als Zeichen des Vertrauens, Philipp Posa die Kippe mit der eigenen Zigarette anzündet – dazu hält er sie weit von sich, so dass Posa sich ihr nähern kann. Oder Hilbs Elisabeth: Bald sperrt sie eine feste Krinoline ein, in der sie sich dreht, krümmt, windet – vergeblich. Philipps Mantel wiederum, Popanz und Spielball zwischen ihm und Karlos, wirkt so schwer und flauschig, als hätte ihn Kostümbildner David Gonter aus einem Theatervorhang erdacht. Es muss eine Last sein, ihn zu tragen.

Das alles ist auf angenehme Weise altmodisch, für Momente sogar altmeisterlich, zeigt aber Menschen von heute. Philipp, der sich eben noch nach Liebe und Freundschaft sehnte, entpuppt sich als durchschnittlicher Diktator, der im Lukaschenko-Stil über die dummen Kinder der Rebellion faselt, die nicht wissen, was sie tun. Die formidable Großinquisitorenszene, in der Schiller deutlich macht, dass auch Philipp nur ein kleines Rad im Getriebe ist, fehlt fast völlig. Allerdings läuft darauf der halbe Abend hinaus mit seinen Macht-Verschwörern Alba und Domingo, die leider nur Karikaturen bleiben.

Am Ende legt Philipp seinen Sohn persönlich um. Schade. Man hatte sich schon daran gewöhnt, von dieser spätpubertären Nervensäge daran erinnert zu werden, dass er (also: wir) einiges hätte bewirken können, wenn er nicht so viel gequatscht und ein bisschen konsequenter gehandelt hätte.

Don Karlos
von Friedrich Schiller
Regie: Laura Linnenbaum, Bühne: Valentin Baumeister, Kostüme: David Gonter, Musik: Fiete Wachholtz, Jonas Englert.
Mit: Sebastian Jakob Doppelbauer, Philippe Goos, Stella Hilb, Lukas Holzhausen, Wolf List, Viktoria Miknevich, Hajo Tuschy.
Premiere am 18. September 2020
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.staatstheater-hannover.de

 

Kritikenrundschau

Fulminant gelinge Laura Linnenbaum der Einsteig in das Stück, schreibt Ronald Meyer-Arlt in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (21.9.2020): Sacht tasteten sich die Schauspieler*innen in das dramatische Gedicht hinein. "Das ist kein Als-ob-Spiel, sondern ein spielerischer Umgang mit dem Spiel. Ganz leicht dahingetupft, ganz nah, ganz wunderbar." Später kraftmeiere das Theater, wolle "das Stück stemmen". Einigen Schauspieler*innen gelinge es, das Schwebende, Tastende des Beginns zu retten: Sebastian Jakob Doppelbauer als flirrendem Karlos – "jeder Zoll kein König“ –, Hajo Tuschy als "Pop-up-Posa" ganz Barista oder Internetgeschäftsmann, Stella Hilb als starke und begehrenswerte Königin. Doch "die Chance, das Stück ganz leicht, ganz anders zu nehmen", habe Linnenbaum letztlich nicht genutzt.

Mit "großem Sprechtheater, gebremst von bleischwerer Reflektiertheit" beginne die Spielzeit in Hannover so, wie die letzte geendet habe, schreibt Stefan Gohlisch in der Neuen Presse (21.9.2020). Wie schon in Linnenbaums erster hannoverscher Arbeit "Zeit aus den Fugen" fügten sich die Kulissen zu immer neuen, "in Schönheit erstarrten Standbildern", einer "klaustrophobischen Architektur unmenschlicher Umstände". Rigide seien auch die Verhältnisse am Hof – aber die Schauspieler*innen "richten" es: Philippe Goos, als Herzog Alba ein "feixender Sadist des Zwischenmenschlichen", Wolf List, als Domingo "in einer seiner besten Darbietungen", die "sirenenhafte" Viktoria Miknevich, als Prinzessin Eboli Opfer und Täterin ihrer unerfüllten Wünsche. "Lauter Einsame und als einzig möglicher Kitt der todgeweihte Idealist Posa, den der wunderbare Hajo Tuschy mit beiläufiger Klugheit spielt." Sebastian Jakob Doppelbauer lege den Karlo "mit enormer Spielfreude als trotzigen Kindmann" an, der vor lauter narzisstischer Gefallsucht vor allem Missfallen errege. Kein Wunder bei dem Vater, so Gohlisch: Philipp II: sei bei Lukas Holzhausen "freundlicher Karrierist von Steve-Jobs Statur einerseits, kaltblütiger Machtmensch andererseits". Wo lauter Einsame kämpften, sei Widerstand zum Scheitern verurteilt. Und "Corona verstärkt beides: die Konzentration auf die Spielenden und die intellektuelle Distanz".

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