Die Lage - Schauspiel Stuttgart
Kriegszone mit Küchenplatte
von Steffen Becker
Stuttgart, 18. September 2020. Prostituier dich für mich! Ein bisschen angemacht kommt man sich schon vor im Publikum von "Die Lage", als Jannik Mühlenweg uns zum Protagonisten eines WG-Castings macht. "Was ist dein erster Eindruck von mir?", "Geh mal rein in deine Vorurteile", "Findest du mich sexy", "Hast du Spaß am Leben?". Wir haben dem fiesen Gecken nichts entgegen zu setzen. Wir sind raus aus dem Pool potenzieller Nachmieter.
Ähnliches wird sich wiederholen, als Sebastian Röhrle im Kammertheater des Schauspiels Stuttgart als smarter Makler sexuelle Akustikproben einfordert (die Hausgemeinschaft mag es ruhig!) – auch von uns. Die Stille kauft er uns nicht ab. Tja: "Ein freier Markt bestimmt die Zwänge. Weigerung ist sympathisch, führt aber persönlich ins Nichts." Auch diese Wohnung geht dem Publikum durch die Lappen. Das Erlebnis der Konfrontation bringt es aber auf Temperatur.
Die Perversionen des Immobilienmarkts
Autor Thomas Melle will unsere Empörung über die Zustände auf dem Immobilienmarkt, unsere Verzweiflung an der Perversion der Verhältnisse. In Stuttgart, einer der teuersten Städte der Republik, ist das leicht zu haben. Alle kennen eine Geschichte über endlose Suchen, zermürbende Massenbesichtigungen, peinliche Fragen von oder unwürdige Gespräche mit Maklern.
Autor Melle und Regisseurin Tina Lanik weiten diesen Erfahrungshorizont ins Absurde: Ein Optiker verliert sein Augenlicht, weil seine Freundin ihm versehentlich den Absatz ihrer Stöckelschuhe ins Gesicht rammt (sie hat sie in der Hand, um bei der Besichtigung das Parkett nicht zu beschädigen). Ein Ego-Shooter-Video macht die 3-D-Ansicht eines Neubauprojekts zur Kriegszone der Interessenten.
Zur finalen Vorstellung machen sich die Darsteller*innen tatsächlich nackt. Im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Den Zuschlag erhält, wer mit einem Seelenstriptease berührt, während wir im Publikum auf Penis oder Brüste starren. Gestylt sind die Schauspieler als Plastikwesen, die sich nur in Nuancen unterscheiden: Wasserstoffblonde Haare, blaues Outfit, Zahnpastalächeln. Wandelnde Bewerbungsmappen-Zombies. Interessant sortiert allerdings nach Geschlechtern.
Verzweifelte Häuslebauer
In einem Stück, in dem die Rollen schneller wechseln als Mails auf ein 3-ZKB-Angebot einprasseln, belegen die Männer die Pole: die coolen, aalglatten Makler, aber auch die Typen am Rande des Nervenzusammenbruchs. Die am Druck zerbrechen, als Mann ein Haus bauen zu müssen (das der Markt nicht hergibt!). Oder wütende Plädoyers für Enteignung und Revolution halten, die aber so ziel- wie hoffnungslos sind.
Die Frauen stellen sich dem Wahnsinn, in immer neuen Konstellationen um die Küchenplatte zu wirbeln (Bühne: Stefan Hageneier), mit der Schicksalsergebenheit abgebrühter Nestbauerinnern. Alle spielen sie das – gemäß Vorgabe im Stück – in Tonlage und Lautstärke sehr, sehr übertrieben. Was teils an den Nerven zehrt, teils Glanzleistungen hervorbringt wie Josephine Köhler in den Wehen. Auf dem Küchentisch gebiert sie die schmerzhafte Erkenntnis, dass Erben einen dazu verdammt, immer "das Kind von" zu bleiben.
Luxusprobleme
So witzig die Inszenierung das umsetzt, so sehr zeigt es auch das Problem des Stücks: Die meisten Szenen drehen sich um Luxusprobleme. Um Menschen, die um Eigentumswohnungen konkurrieren oder hochpreisige Mietobjekte. "Die Lage" exerziert die im Stück angesprochene "soziale Frage" des Wohnens an Milieus durch, die erst in jüngerer Zeit eine Ahnung davon bekommen, wie sehr dieses Grundbedürfnis in Frage gestellt ist: Auch Menschen mit bürgerlicher Existenz sind bei Besichtigungen nun Demütigungen ausgesetzt. Dass das nicht das Hauptproblem des real existierenden freien Marktes ist, ignoriert das Stück zwar nicht, schiebt es aber an den Rand.
Ein raussanierter Altmieter (Boris Burgstaller) darf bei einer Besichtigung als böser Geist der Immobilie wüten und seine Geschichte erzählen. Die Inszenierung schließt ihn aber gleich wieder im Küchenschrank weg. Das ist sinnbildlich für die Schieflage von "Die Lage". Intendiert scheint diese nicht zu sein. Das Begleitheft reiht politische Plädoyers und Analysen für eine radikale Kehrtwende zugunsten der Schwachen aneinander. Stück und Inszenierung scheitern an diesem Anspruch.
All die, denen es bei dem Thema an die Existenz geht, bleiben auf der Bühne des Kammertheaters eine Randnotiz. Die Aufführung erzählt viel von den Menschen, die einem samstags in der Stuttgarter Zeitung auf den Immobilienseiten entgegenlächeln. Paare, die auf der Suche nach einer Wohnung ihre Kinderlosigkeit und ihre gesicherten Jobs anpreisen. Ja, auch für die ist es schwierig. Aber sie werden am Ende was finden – im Gegensatz zu den Menschen mit der falschen Hautfarbe, dem unterdurchschnittlichen Lohn und sonstigen Makler-No-Gos.
Die Lage
von Thomas Melle
Uraufführung
Regie: Tina Lanik, Bühne: Stefan Hageneier, Video: Birgit Stoessel, Dramaturgie: Ingoh Brux, Bastian Boß, Christina Schlögl.
Mit: Boris Burgstaller, Josephine Köhler, Mariette Meguid, Jannik Mühlenweg, Sebastian Röhrle.
Premiere am 18. September 2020
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.schauspiel-stuttgart.de
Kritikenrundschau
"Das ist alles sehr plakativ und eindeutig. Der große Pinsel, mit dem hier über das große soziale Thema Wohnen hinweggestrichen wird, ebnet aber auch viele Nuancen ein", so Daniel Stender auf SWR2 (19.9.2020). Für Psychologie oder Entwicklung bleibe keine Zeit in dem Stück. "Was fehlt sind konkrete Personen, vielleicht auch etwas Recherche, die über Zeitungslektüre hinausgeht. Das große soziale Thema unserer Tage, es hätte etwas mehr Kontext verdient."
Das Stück beschreibe die Lage bei den Wohnungsbesichtigungen. Was dabei zu kurz komme, sei die Frage, was diese Situation denn mit den Menschen mache. "Das ist ein Manko des Stücks", so Rainer Zerbst von Deutschlandfunk Kultur (18.9.2020). Der Kritiker hätte sich etwas mehr Tiefe gewünscht. Tina Lanik bringe all die unterschiedlichen Stimmen aus dem Text in einer Vielzahl von Formen auf die Bühne. Damit werde sie dem Text gerecht. "Ihre Regie war großartig und die fünf Schauspieler waren es auch."
"Wie in einem Kaleidoskop ordnet er seine scharf konturierten Momentaufnahmen zu immer neuen Mustern des mal sanften, mal grellen Horrors der Wohnpolitik im Zeichen des Neoliberalismus", schreibt Roland Müller in der Stuttgarter Zeitung (21.9.2020) über Melles neues Stück. Der Autor schildere die Lage "so umfassend, so reich an Perspektiven, so aufgeladen mit grimmigem, düsterem, zornigem Humor, dass am Ende kein Zweifel mehr bleibt: Nicht die Menschen suchen Wohnungen, sondern die Wohnungen suchen Menschen – und wenn sie keine passenden finden, werden welche gezüchtet." Tina Lanik besorge die Uraufführung "kongenial", ihre Regie überzeuge mit starken Bildideen.
"Die hybride Erzählform, in der Thomas Melle zu Hause ist, wird im Stuttgarter Kammertheater wunderbar adaptiert zwischen antiker Tragödie und Handke’schem Sprechstück. Das Ensemble spielt zum Auftakt dieser besonderen Theatersaison groß auf", lobt Jan Wiele von der FAZ (21.9.2020).
Etwas enttäuscht ist Egbert Tholl vom neuen Stück Melles. "In 'Die Lage' schwebt sein Blick hoch über dem Gegenstand und richtet sich von dort nur manchmal so genau auf seine Figuren, dass im Scharfstellen der Betrachtung etwas Böses oder im besten Fall Abgedrehtes herauskommt", schreibt der Kritiker der Süddeutschen Zeitung (21.9.2020). "Schreiben kann Melle natürlich. Aber hier kann er sich nicht so recht entscheiden zwischen Analyse und Irrsinn. Und so bleibt die Analyse vage und der Irrsinn meist milde." Tina Lanik versuche in ihrer Inszenierung, die beiden Pole zu vereinen.
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Zum Inhalt: In stylischer Wohnung trifft arroganter Makler/Vermieter/WGler auf miteinander konkurrierende Interessenten. Nach ca. 30 Minuten sind alle gängigen Stereotypen phantasielos abgearbeitet. Danach kommt nur noch die Wiederholung des bereits Dargebotenen, nur eben öfter schreiend, und absurder verpackt. Z. B wird einem Bewerber, über den man - warum auch immer - erfährt, dass er Optiker ist, ein Stöckelschuh ins Auge gerammt und der arme Schauspieler muss dann einige Szenen lang mit einem Stöckelschuh am lächerlichen Kopfverband herumlaufen. Und wenn Autor und/oder Regisseurin dann gar nichts mehr einfällt, wie man das Stück auf 90 Minuten bringen kann, dann müssen halt - darauf konnte man Wetten abschließen- noch nackte Tatsachen her. Warum sich allerdings nur Männer vollkommen ausziehen müssen, ist nicht ganz nachvollziehbar. Das war nicht provozierend, sondern nur peinlich. Die Zuschauer, die nach 30 Minuten den Saal verlassen haben, haben jedenfalls alles richtig gemacht.