Die Wut im Stierkopf

von Claude Bühler

Zürich, 19. September 2020. Mit dem * hinter dem Namen Medea, so das Programmheft, seien die "Zwischentöne" gemeint, der "Blick zwischen die Sätze". Darauf hat Regisseurin Leonie Böhm ihre Version konzentriert, aus Euripides' Vorlage die Handlung, aber auch die übrigen Figuren weggestrichen. Den Herrscher Kreon etwa, der Medea aus Angst vor ihren Zauberkräften und Zornesmächten aus Korinth verbannen will. Oder ihren Mann Jason, der sie verlassen hat, um sich zwecks gesellschaftlichen Aufstiegs mit Kreons Tochter Glauke zu vermählen. Am Ende ist es der Deutung des Publikums überlassen, ob Medea wirklich tun wird, wofür sie Euripides weltberühmt gemacht hatte: aus Rache ihre Knaben töten, also Jason "zum Grame", wie es im Original heißt.

"Heute werde ich meine Kinder töten"

An Stelle der gestrichenen Figuren hat Medea einen "einzigen Freund" erhalten, Johannes: ein Hippie mit Bart und langem Haarschopf, der am Keyboard herumklimpert, mit ihr singt und herumalbert, sie ermutigt und warnt vor kommendem Unheil. Höhepunkt ihres Duetts: eine erotische Choreographie, in der sie sich mit Corona-Maske küssen, die auch die Augen bedeckt, eine Erinnerung Medeas an Jason. Die beiden beleben eine Art Kinderstubenwelt aus weißen Leintüchern, die tief ins Szenario hineinhängen und den Boden bedecken. Man könnte auch sagen: eine geschützte Werkstatt, um Gefühlsrecherche zu betreiben.

Medea 1 560 GinaFolly uWut mit Stierkopf: Maja Beckmann © Gina Folly

"Heute werde ich meine Kinder töten", flachst sie anfangs noch, als wäre der Gedanke allzu abseitig. Maja Beckmann "gibt" nicht "die Medea". Sie spielt eine Schauspielerin, die sich mit gequältem Gesichtsausdruck in die Setzungen der antiken Frauenfigur einzufühlen versucht: dem Schmerz aus verratener Liebe für Jason, für den sie das goldene Vlies aus ihrem Heimatland geraubt, für den sie ihren Bruder umgebracht hatte. Dem Hass auf ihr Leben, auch als Verbannte ohne Rückkehrmöglichkeit in die Heimat. Der Wut aus Enttäuschung über sich selbst, dass sie dem "Allerschlechtesten" ihre Liebe gab, denn – gibt es etwas unwürdigeres? – "sein Denken will das Leiden nicht".

Säure verätzt ihr Fleisch

Auch wenn Beckmann kaum je die Gefühlswucht der archaischen Kolossalfigur aufwallen lässt, vielmehr dem Publikum kommunikativ zugewandt, heutig-vernünftig, ja beinahe allgemein bleibt, so schnürt sich doch mit fortlaufender Erörterung und Neubenennung ihrer Leiden fühlbar alles zum Unerträglichen zusammen. Das untrügliche Anzeichen dafür ist die Verdrängung. Bald steckt Beckmanns Medea ihr Gesicht ins Kissen, dann fragt sie das Publikum, ob wir fürchten, sie hätte böse Pläne. Da sei nichts, beschwört sie uns – aber vor allem sich selbst. Dann folgen die Ängste, ob sie ihre Wut überhaupt aushalten, ihr gerecht werden könne. Das ist alles sehr genau nachvollziehbar dargestellt.

Medea 3 560 GinaFolly uMit Musik geht's besser: Maja Beckmann und Johannes Rieder © Gina Folly

Johannes kann man auch als gebietende Stimme des Schicksals sehen, wenn er sie aufruft, alles zu töten, von sich zu stoßen, was ihr nicht zugehörig sei. Unter einer gewaltigen Stierkopfmaske bündelt sie ihre Wut, um in eine apokalyptische Vernichtungsvision auszubrechen. Sie bezieht auf sich, was sie der jungen Braut ihres Jason, Glauke, mit ihrem Brautgeschenk, dem Zauberkleid, antut: Ihr Kopf verbrennt, Säure verätzt ihr Fleisch. Kehrt sie die Vernichtung gegen sich selbst und verfällt somit wieder in ein Frauen zugeschriebenes Verhaltensmuster oder ist das eine Offenbarung ihres unsterblichen Mythos für die Welt? Der Fall ist nicht klar.

Eine Welt, die nun nur erwähnt wird

Verwendet wurde, abgesehen von den (auch in der Premiere) improvisierten Teilen, fast nur Originaltext. Man staunt über die überzeitliche Gültigkeit, auch den Gehalt einer psychologischen Tiefenlotung, die 431 v. Chr. verfasst wurde. Und über deren Übertragung! Beckmann trägt keine Monologe vor, sie spricht wie von sich selbst. Wie als Ausdünstung steigen aus ihr dunkle Ahnungsgeister auf, die sie nicht beherrschen kann. Ihr Suchen und Ringen um andere Handlungsoptionen zeigt die Macht des Schicksals als noch unausweichlicher. Ihr Leid weckt Mitgefühl, aber kein sentimentales.

Böhms reduzierte Experimentierbühnen-Version ist weit weniger herb-realistisch als Euripides' Weltsicht. Die Szenen mit dem an sich charmanten Johannes nehmen sich neben Medeas Schicksal zuweilen etwas niedlich, teilweise anbiedernd an jenes Publikum aus, das es nicht so ernst mag. Euripides zeigt Jason als Opportunisten, Kreon als Vertreter einer bürgerlichen Wohlstandsbewahrungslogik. Eine Welt, die nun nur erwähnt wird, deren szenische Darstellung erst erkennbar machte, warum Medeas Hochpotenz die Ordnung stört. Auch um klarer dem zweiten Grund für das * Genüge zu tun, als es hier geschieht: Medea als Teil eines "Systems", "das sie mitbestimmt".

 

Medea*
nach dem Schauspiel von Euripides
Regie: Leonie Böhm, Bühne: Zahava Rodrigo, Kostüme: Magdalena Schön, Helen Stein, Musik: Johannes Rieder, Licht: Michel Güntert, Dramaturgie: Helena Eckert.
Mit: Maja Beckmann und Johannes Rieder (Live-Musik).
Premiere am 19. September 2020
Dauer: 1 Stunde 10  Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.ch

 

Kritikenrundschau

Noch bevor Maja Beckmann und Johannes Rieder tief hineinwaten in Euripides’ Meer aus Weh und Zorn und Grausamkeit, werfen sie uns die Geschichte in ihrer ganzen Unerträglichkeit an den Kopf, so Alexandra Kedves im Tages-Anzeiger (21.9.2020). "Da werd ich dann auch meine Kinder töten" - gegen diesen unmöglichen Satz renne die Inszenierung von Leonie Böhm an, umkreise ihn, scheue zurück, jage ihn. Böhm habe für die Seelenvernichtung Wahnsinnsbilder geschaffen "und ihren Performern zugleich den Raum gegeben, sich davon zu distanzieren, sich dagegen zu wehren". Ein Bravourstück sei es, wie Beckmanns Medea mit der eigenen Raserei ringe. Fazit: "Diese Arbeit verdient nicht nur den einen Stern, den sie im Titel trägt. Sondern fünf Sterne. Oder viereinhalb, wenn man einen Abzug machen will für den am Ende ungezügelten Hang zur symbolschwangeren Mega-Geste."

"In ihrer radikalisierten Fassung ruft Leonie Böhm ihre Titelheldin zur Tat auf: "Steh auf, Medea, steh zu dir und zu deiner Wut.'", schreibt Daniele Muscionico in der Neuen Zürcher Zeitung (21.9.2020). Frontfrau Maja Beckmann sammele mit der Zierlichkeit und Zähheit ihrer Person gehorsam ihren Schmerz, wendet ihn gegen aussen, und es wird offensichtlich, dass Böhm  ein "Medea»-Making-of" geschrieben. "Ihre aktuelle, teilweise leichtgewichtige Lesart ist ein psychologisches Empowerment-Programm für weibliche Selbstachtung." Diese Lesart kehre das Innenleben der Hauptfigur nach aussen und erzählt das Schicksal. Fazit: "Böhms Anleitung zur weiblichen Selbstermächtigung ist vielleicht ein wenig zeitgeistig. Und sie ist leider allzu absehbar. Doch in einem Punkt sprengt sie Grenzen: Die Medea-Werdung der Medea geschieht in einem genialisch-textilen Wunderraum, der all das erfüllt, was in der theaterlosen Corona-Zeit unerfüllt geblieben ist: die Sehnsucht nach Ästhetik, nach Harmonie und nach der Zauberkraft der Phantasie."

Leonie Böhm habe Maja Beckmann "im wunderschönen Bühnenbild von Zahava Rodrigo, einer weißen Zelthöhle ohne Ausgang, ein bewundernswertes Solo eingerichtet", berichtet Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (24.9.2020). "Böhm hat ein Gespür dafür, große Stoffe unmittelbar erfahrbar zu machen", so Tholl, und hier "bedient sie sich bei Euripides und formt zusammen mit Maja Beckmann eine Medea, deren Liebe und Not, deren Verzweiflung und Einsamkeit einem nahegehen, so nah wie vielleicht die feministischen, in Beziehungsfragen außerordentlich erhellenden Comics von Liv Strömquist."

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