Seltsame Seilschaft

von Tobias Prüwer

Leipzig, 25. September 2020. Corona scheint vorbei zu sein am Schauspiel Leipzig, denn man darf wieder dichter gedrängt sitzen. Natürlich ist das vom Gesundheitsamt abgesegnet – aber es erzeugt dennoch ein mulmiges Gefühl. Mit aller Hoffnung auf die Hightech-Klimaanlage kann man auch ein Stück über Tod und Vergänglichkeit einleiten. Neben der Haustechnik setzt Regisseur Enrico Lübbe dabei auf die Musik, wenn er Elfriede Jelineks "Winterreise" mit Franz Schuberts gleichnamigem Liederzyklus zu illustrativen Tableaus verschneidet.

Irrlichternd am Skilift

"Barfuß auf dem Eise / Wankt er hin und her": Auf den Bühnenvorhang findet sich eine Gletscherwanderung projiziert. Dahinter erklingt auf einer Zither oder Harfe der "Leiermann", der draußen vorm Dorfe erfolglos bettelt. Hoffnungslos beginnt der Abend über Irrungen und fliehende Zeitstürme, Abgeschobenes und Tod, Existenz und Schmerz. Wovon sowohl die Texte der Lieder wie Jelineks Textflächen handeln. Als sich der Vorhang hebt, steht eine seltsame Seilschaft vor der Kulisse einer Seilbahnstation. Man sieht ein Gehäuse aus Sichtbeton, ein Stück Trasse mit Antriebsrollen und eine Aussichtsplattform. Es schneit. Vor diesem monumentalem Aufbau (Bühne: Etienne Pluss) findet der zerbrechliche, tastend-suchende Reigen statt.

Winterreise 1 560 RolfArnold u"Drüben hinterm Dorfe / steht ein Leiermann / und mit starren Fingern / dreht er, was er kann" © Rolf Arnold

Wie Schuberts Leiermann dreht Lübbe, was er kann. Rhythmus und Musik waren schon immer seine wesentlichen Elemente, weshalb er auch am liebsten Musiktheater inszeniert. Mit der doppelten "Winterreise" hat er das geeignete Material dafür gefunden. Da ist schon die Kraft von Schuberts Kompositionen wie "Gute Nacht!" und "Das Wirtshaus", die die acht Darstellenden variierend als Kammerchor singen. Allein das berührt, klingt immer wieder anders, weil sie sich im Raum neu aufstellen. Zusätzlich kommen Wasserorgel und Klavier ins Spiel. Und die Darstellenden klopfen die Kulisse mit Wanderstöcken zwischendurch auch mal auf ihren Rhythmus ab. Dabei entstehen zum Teil starke Momente. Intensiv ist auch der Wechselgesang von Kunstlied und Après-Ski-Disko: Wenn der Chor vom "Hurra die Gams"-Beat übertönt wird, ist das ein direkter Wink mit dem Schneezaunpfahl nach Ischgl.

Auf dieser musikalisch-rhythmischen Ebene ist der Abend eine gelungene Komposition. Zum Höhepunkt wird der Monolog von Julia Berke: Sie sinniert über das Wesen der Musik, die nichts anderes sei als hörbare Zeit. "Rhythmisch bleiben! Rhythmisch bleiben!": In dieser Formel gipfelt ihr fast zum Sprechgesang anhebender Vortrag. Er entfaltet erst einen eigenen Rhythmus, dann fügt sich Musik dazu und beide werden lauter, rasender – was sogar noch funktioniert, als Berkes Mikro streikt. Hiermit hätte der Abend nach 90 Minuten bereits enden können.

Ende im Theatermuseum

Manche dieser losen und assoziativen Illustrationen gehen weniger gut auf. Dass die Singenden bei "Die Nebensonnen" ausgerechnet Virtual-Reality-Brillen aufhaben – Hint: optische Täuschung – ist plump. Die Bebilderung von Jelineks Texten ist noch ungelenker. Etwas zu klamaukig bewegt sich das Ensemble über die Bühne. Mit Slapstickanleihen schiebt sich die Seilschaft im Kampf gegen einen Schneesturm über die Bühne. Wie schon in Lübbes letzter Leipziger Inszenierung "Mein Freund Harvey" ist ein Diener eine Nebenfigur, die groteske Züge beisteuert. Clownesk sind die Kostüme: Der eine trägt Muttersöhnchen-Westover, der andere kurze Seppl-Hose und Sandalen mit Strümpfen, eine hat ein pinkes Tutu an.

Winterreise 4 560 RolfArnold uSlapstick und Sinnsuche: das Ensemble der "Winterreise" © Rolf Arnold 

Das will nicht ganz passen zu Jelineks Themen. Vielleicht wollte Enrico Lübbe doch noch unterhaltsame Aspekte hinzufügen zu den Reflexionen übers Dasein und das Geworfensein in die Existenz, die leer drehende Sinnsuche und das Vorlaufen zum Tod; kurz: Sein und Zeit. Vielleicht hat er doch nicht allein auf den Rhythmus vertraut.

Konventionell fällt das Ende aus. Mit Ellen Hellwig gibt, wie in anderen "Winterreise"-Inszenierungen, eine pensionierte Schauspielerin den Schlussmonolog übers Abgeschobensein im Alter. Hellwig ist in der Stadt beliebt, aber ihr Auftritt gerät zum 30-minütigen Theatermuseum. Sie spricht und agiert in antiquierter Affektiertheit, ohne Rhythmus und möglichst jedes Wort betonend. Ja, die Zeit flieht. Man kann sie nicht festhalten, das macht Hellwig nolens volens klar, wenn ihr Auftritt Wehklage nach den kurz zuvor erlebten berückenden Theatermomenten heraufbeschwört.

 

Winterreise / Winterreise
von Wilhelm Müller & Franz Schubert / Elfriede Jelinek
Regie: Enrico Lübbe, Bühne: Etienne Pluss, Kostüme: Bianca Deigner, Musikalische Leitung: Jürg Kienberger, Korrepetition und Bühnenmusik: Franziska Kuba, Philip Frischkorn, Dramaturgie: Torsten Buß, Licht: Ralf Riechert
MIt: Julius Forster, Ellen Hellwig, Franziska Hiller, Jürg Kienberger, Tilo Krügel, Denis Petković, Jule Roßberg, Miloslav Prusak, Julia Berke
Premiere am 25. September 2020
Dauer: 2 Stunden, 10 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-leipzig.de

 

Kritikenrundschau

Im Grunde sei in dieser Doppelinszenierung "alles aufs schönste ausgedacht", dramaturgisch gut angelegt und ausgetüftelt, durchweg gut gespielt, eine Ensembleleistung, so Stefan Petraschewsky von MDR Kultur (26.9.2020). Doch "Lübbe zerlegt sich selbst mit einer Detailversessenheit": Videoprojektionen, Windmaschine, akustische Spielereien, Slapsticknummern lenkten ab und kleisterten das Eigentliche zu, so Petraschewsky. Es fehle "zu all den Entfremdungs- und Chaosbildern der heutigen Welt" das Gegengewicht, ein Ruhepol, eine Harmonie – so wie der traurig-sehnsuchtsvolle Chor-Satz von "Am Brunnen vor dem Tore", der oben auf dem Berg gesungen werde, während von unten aus dem Tal "eine Art Discolawine nach oben" rolle: "'Hurra die Gams …' – das ist natürlich Après Ski; das ist Corona in Ischgl" – eine Spaßgesellschaft, gegen die die Seilschaft am Berg nicht ankomme. Werde in dieser schönsten Szene des Abends die Botschaft der Inszenierung auf den Punkt gebracht, gelte unterm Strich: zu viel Schnickschnack, zu wenig Konzentration.

"Grundsolide" sei die doppelte "Winterreise", inszenatorisch wie darstellerisch, schreibt Steffen Georgi in der Leipziger Volkszeitung (28.9.2020). Lübbe als "handwerklicher Pragmatiker" lasse Jelineks Sprachkonglomerat "erstaunlich eingängig schnurren". Imposant sei die Kulisse von Etienne Pluss, in der Schauspiel-Chef Lübbe sein Ensemble platziere, "halb stillgelegter Skilift-Bahnhof, halb bürgerliches Musizierzimmer im ebenso stillgelegten Zauberberg-Sanatorium". Jelineks Figuren seien mehrstimmige Medien für den "Sprachfluss, der ein einziges 'Fortschreiten im Stehenbleiben' ist", und die Spieler*innen zeigten sie als gefangen in ihren Handlungen, die wie "Rituale der Sinnlosigkeit" wirkten. "Inmitten großer Verlassenheit und innerer Leere stiftet nur die Musik einen Rest Nähe." Momente oberhalb der Solidität biete Jule Roßberg, die grimmig beherzt ein Natascha-Kampusch-Gespenst verkörpere, Ellen Hellwig spielen den marathonlangen Demenz-Monolog mit "doch recht erstaunlicher Vitalität", frei nach Jelinek "die (Wort)Leier drehend bis zum Ende".

 

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