Ein Berg, viele - Schauspiel Leipzig
Raubzüge des Erzählens
von Juliane Streich
Leipzig, 26. September 2020. Da stehen sie in ihren gläsernen Schaukästen: Vier Menschen mit rosa Perücken, rosa Kleidchen, rosa Schuhen. Während die Zuschauer in die "Diskothek", die Zweitspielstätte des Leipziger Schauspielhauses, strömen, schauen die vier bewegungslos in den Saal. Stehen in einem museumsähnlichen Ambiente, dessen Exponate noch mit Plastikfolien verpackt sind. Als die Darsteller sie am Anfang der Aufführung aufdecken, kommt Kolonialgeschichte in skurrilster Aufarbeitung zum Vorschein: von einer goldenen Banane über einen überdimensional langen Penis bis zum Klappergebiss.
Exponiert: Thomas Braungardt, Paulina Bittner, Anne Cathrin Buhtz, Patrick Isermeyer © Rolf Arnold
Der weiße Blick auf das, was er für exotisch, für interessant, für erzählenswert hält – darum geht es in "Ein Berg, viele" von Magdalena Schrefel, die dafür bereits mit dem Kleist-Förderpreises für junge Dramatikerinnen und Dramatiker 2020 und dem 3. Else-Lasker-Schüler-Stückepreis ausgezeichnet wurde. Sie verbindet darin die wahre Geschichte eines Geografen im England des 18. Jahrhunderts – der sich beim Anfertigen einer Karte des afrikanischen Kontinents fragt, wieso der Fluss Niger einen Knick macht anstatt ordnungsgemäß Richtung Europa zu fließen, und der kurzerhand einen Berg erfindet – mit der Gegenwart, in der sich eine Dokumentarfilmerin an die Grenzen Europas begibt, um dort eine Reportage zu drehen.
Jeder ist mal jede
In der Uraufführung von Regisseurin Pia Richter spielen die Schauspielerinnen und Schauspieler Paulina Bittner, Thomas Braungardt, Anne Cathrin Buhtz und Patrick Isermeyer alle Rollen abwechselnd. Jeder ist mal jede. Mal Filmerin, mal Gefilmter. Mal Entdecker, mal "Wilde". Mal Europäer, mal Afrikaner. Mal Kind, mal Erwachsener. Eine gelungene inszenierte Metapher für den Zufall der Geburt. In schnellen Wechseln überzeugen die Schauspieler in diesen Charakteren, in die sich die Zuschauer trotz der permanent wechselnden Rollenverteilung immer wieder neu reindenken können.
Auch Zeit und Ort ändern sich, was im Bühnenbild (Julia Nussbaumer) vor allem durch verschiedene Jalousien in den Glaskästen und durch farbiges Licht verdeutlicht wird. Beginnt der Abend zunächst im 18. Jahrhundert im Hause des Geografen, wo schon die Kinder "Entdecker" spielen und sich ausmalen, wie sie die "entdeckten" Kinder in Uniformen und Schulen stecken, wechselt das Szenario – kurz unterbrochen von einem Medley aus Pop- und Schlagersongs über Afrika – in die Gegenwart und zum Eingang eines Camps, an dem der Wachtposten Ismael die Dokumentarfilmerin Pearl nicht reinlassen will: "Weil tagtäglich jemand wie du hier vorbeikommt, kurz nachhakt und dann weiterzieht. Später lesen wir dann Berichte über uns."
Bildproduktion ohne Bilder
Die beiden Szenarien beginnen sich zu überschneiden, denn auch der Dokumentarfilm zeigt wider Willen, wie der europäische Blick der Maßgebliche sein will. Ismael erzählt seine Geschichte, Pearl inszeniert sie: Der Hunger, der Durst, das Leiden sollen überzeugend sein. Sie konstruiert es und sie vermittelt es durch das Medium Film. Regisseurin Richter verzichtet trotz der Kamera darauf, hier Videobilder auf die Bühne zu projizieren, man sieht nur, wie die Bilder gemacht werden, nicht wie sie aussehen. Der Anspruch, zu berichten, mischt sich ähnlich wie beim erfundenen Berg Kong mit Sensationslust.
Thomas Braungardt, Anne Cathrin Buhtz und ein Mammut von Bühnenbildnerin Julia Nussbaumer © Rolf Arnold
Anderthalb Stunden lang herrscht ein wildes Hin und Her mit viel Witz auf der Bühne, und manchmal wirkt die Inszenierung dabei überdreht mit ihrem aufblasbarem Gummihummer, Kindergekreische und nachgezogenem Lippenstift – aber wie soll man eine Erzählung über das Erzählen erzählen? Der Text dominiert die Inszenierung trotz allem deutlich und endet in einem starken Schluss, der den ganzen Unterschied zwischen der berichtenden Europäerin und ihrem Subjekt deutlich macht: Während im Camp Panik ausbricht, ist sie mittendrin, selbst panisch, selbst erschrocken, doch sie hat ihre Papiere dabei, mit denen sie ohne Probleme der Situation entfliehen kann. Kurz darauf sitzt sie im Flugzeug, wo ihr jemand Getränke an den Platz liefert.
Dass vor wenigen Wochen erst Bilder von verzweifelten Menschen im brennden Lager Moria um die Welt gingen, konnte die Autorin nicht wissen, aber es zeigt die Aktualität ihres Stücks. Denn es ist entscheidend, wer der Erzähler ist und was erzählt werden soll und was nicht. Wer hat die Chance eine Kamera draufzuhalten und eine dramatische Geschichte daraus zu machen? Auch drei Jahrhunderte nach der Erfindung des Berges Kong sind es meistens weiße Menschen, deren Geschichten gehört werden.
Ein Berg, viele
von Magdalena Schrefel
Uraufführung
Regie: Pia Richter, Bühne und Kostüme: Julia Nussbaumer, Dramaturgie: Marleen Ilg, Licht: Thomas Kalz.
Mit: Paulina Bittner, Thomas Braungardt, Anne Cathrin Buhtz, Patrick Isermeyer.
Premiere am 26. September 2020
Dauert: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.schauspiel-leipzig.de
Abbilder produziere Schrefel in ihrem Text, "der nun als Inszenierung sein ganz eigenes Abbild gefunden hat in einem Setting maximaler Plastik-Künstlichkeit", schreibt Steffen Georgi in der Leipziger Volkszeitung (28.9.2020). Die Travestie-hafte Künstlichkeit sei in diesem Kontext aber auch als Symptom der Hilflosigkeit lesbar. "Hier allerdings eine, die einnimmt."
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