Selbstbefreiung aus der Geschichte

von Esther Slevogt

29. September 2020. Als Helga Schubert in diesem Sommer achtzigjährig den Bachmannpreis erhielt, habe ich mich gefreut: über die späte Gerechtigkeit für diese Autorin, die 1980 schon einmal zum Bachmannpreis eingeladen war. Damals stand die Mauer noch, auf deren Ostseite die 1940 Geborene lebte und dann nicht nach Klagenfurt reisen durfte. Umso unangenehmer haben mich wenige Wochen nach der Preisvergabe Helga Schuberts verächtliche Bemerkungen über die 2011 verstorbene Schriftstellerin Christa Wolf berührt: erst in der FAZ, wo sie in einem Porträt entsprechend zitiert wird. Kurz darauf legte Helga Schubert im Deutschlandfunk noch einmal nach. Christa Wolf sei erst eine "glühende Anhängerin des Hitlerreichs" gewesen, später "eine glühende Anhängerin der Stalin-Zeit". Eine Kandidatin des ZK der SED sei sie gewesen und habe für die Stasi gespitzelt. Selbst nach dem Mauerfall habe sie die DDR erhalten wollen. "Bis zuletzt hat sie eigentlich immer noch totalitäre Ideen gehabt."

Ich möchte nicht darüber spekulieren, welche Gründe Helga Schubert hat, die Sachverhalte in derart unverantwortlicher Weise zu verkürzen, warum sie Christa Wolf nun angreift, da sie sich nicht mehr wehren kann. Fakt ist, dass die Äußerungen in dieser Verkürzung ebenso falsch wie diffamierend sind. Und dass auch Christa Wolf Gerechtigkeit verdient.

Unter lupenreinen Antifaschisten

Denn was Schubert zu Protokoll gibt, hat Christa Wolf in ihren Büchern selbst öffentlich verhandelt. Wie wenige Autor*innen ihrer Generation hat sie ihre biografischen Verstrickungen mit der deutschen Geschichte immer wieder zum Thema ihrer Literatur gemacht. War sich selbst das Anschauungsmaterial, an dem sie Blick und Geschichtsbewusstsein schärfte.

kolumne 2p slevogtIhr Aufwachsen im Nationalsozialismus zum Beispiel, den ideologischen Missbrauch der Jugend durch die Nazis – die Rolle, die sie selbst darin spielte als jugendliche BDM-Führerin etwa, war Thema ihres Buchs "Kindheitsmuster". Das Buch, das 1976 in der DDR erschien, brach dabei auch mit der offiziellen Ostberliner Geschichtsdoktrin: dass östlich der Elbe nur lauter Antifaschisten lebten. Auch das Staatsvolks der DDR bestand zu einem nicht unerheblichen Teil aus ehemaligen Nazi-Mitläufern, war eine Botschaft des Buchs. Und dieses Muster schrieb sich für Wolf bis in ihre Gegenwart fort. Der berühmteste Satz dieses Buchs: "Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd."

Mit ihren Büchern wirkte Christa Wolf damit auch in die Jugend meines bürgerlichen Heldenlebens am westlichen Rand der alten Bundesrepublik: weil ich durch sie auch das Deutschland, in dem ich lebte, anders sehen lernte. Ihre Befunde über die leicht verführbaren und politisch unreifen Deutschen samt ihrer Unfähigkeit, ein Geschichtsbewusstsein zu entwickeln, waren ja auch westlich der Elbe gültig – wo die Leute schließlich nicht durch eigenes Verdienst in einer liberalen Demokratie leben durften, sondern weil sie nach 1945 schlicht das Glück gehabt hatten, dass ihr Wohnsitz in einer westlichen Besatzungszone lag. Die Bürger der DDR dagegen haben sich 1989 selbst von der Diktatur befreit. Christa Wolf ist eine Impulsgeberin dieses Umbruchs gewesen.

Schärft Euer Geschichtsbewusstsein

Lange Zeit hat sie die DDR mit großen Hoffnungen begleitet und für das bessere Deutschland gehalten, das die für sie schlüssigen Konsequenzen aus der Katastrophe des Nationalsozialismus gezogen hatte. Das Bekenntnis zu diesem Staat war für sie der Weg, sich selber nicht fremd zu stellen: Verantwortung zu übernehmen, sich einzumischen, mitzugestalten.

Mit 20 trat sie 1949 im Jahr der Gründung der beiden deutschen Nachkriegsrepubliken in die SED ein. In den Jahren der harten kulturpolitischen Debatten vor dem Mauerbau (1959-1961), als der Kalte Krieg klare Positionierungen einforderte, hat sie kurzzeitig Berichte für den Staatssicherheitsdienst geschrieben – keine besonders erheblichen, wie in der von ihr nach der Wende selbst veröffentlichten Akte ("Akteneinsicht Christa Wolf") nachzulesen ist.

Der Roman, dessen Titel "Der geteilte Himmel" zur literarischen Chiffre der Teilung schlechthin wurde und sie 1963 berühmt machte, war Schullektüre auch im Westen. Der Ruhm, den sie damit erlangte, machte Christa Wolf fünfunddreißigjährig zu einer Kandidatin des ZK der SED. Es war ja ein Gründungsanspruch dieses Staats gewesen, dass darin die Künstler mitregieren sollten. Einer kritischen Rede auf dem berüchtigten 11. Kahlschlagsplenum der SED wegen wurde Christa Wolf aus diesem Gremium 1967 wieder ausgeschlossen. Rasant trübte sich jetzt das Verhältnis zur Staatsmacht. Denn aus ihrer Solidarität mit der DDR leitete Wolf stets das Recht zur Kritik an diesem Staat und seiner Politik ab. 1976 gehörte sie zu den Erstunterzeichner*innen des Protests gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns. Zwei Jahrzehnte lang wurde sie in teils einschüchternder Manier von der Stasi beobachtet.

Traum vom besseren Deutschland

Das Zerbrechen ihres Traums von der Utopie eines bessern Deutschland, das sich am Ende bloß als ein schlechteres Preußen entpuppte, beschrieb Christa Wolf bereits 1979 im Gewand der Geschichte der fiktiven Begegnung zweier Dichter, die unter dem Druck der Verhältnisse Suizid begingen, Heinrich von Kleist und Karoline von Günderode, "Kein Ort. Nirgends". Trotzdem ist sie auch nach dem 9. November 1989 weiter für diesen Staat eingetreten, auf dessen Reformierbarkeit sie noch hoffte, als sie in den westdeutschen Feuilletons von Leuten, die von den inneren Debatten und Kämpfen in der DDR nichts wussten und auch nichts wissen wollten, bereits diffamiert und niedergeschrieben wurde.

Noch in ihrem letzten, 2010 erschienenen Roman "Die Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud" beschreibt Wolf, wie sie kurz nach der Enthüllung ihrer vierzig Jahre zurückliegenden Stasi-Mitarbeit im September 1992 als Stipendiatin des "Getty-Center for the History of Art and the Humanities" für neun Monate nach Santa Monica bei Los Angeles am Pazifischen Ozean geht. Los Angeles, das ist auch die Stadt der Emigranten von Feuchtwanger bis Brecht, die Stadt der Engel eben, der von der Geschichte Freigesprochenen, zu denen sie so gerne selbst gehören wollte und glaubte, dies durch ihre Unterstützung der DDR erreichen zu können. Nun musste sie erkennen, dass ihre Rechnung zu einfach war.

Wunschbilder, Fluchtbilder

"Unschuldig und ohne Verantwortung zu sein", so Christa Wolf schon im Jahr 1980 in ihrer Rede zur Verleihung des Büchner-Preises, "dies mag als Wunschbild in Zeiten der Schwäche aufkommen; es ist ein Fluchtbild. In diesen konkreten Verhältnissen, in denen wir leben und schreiben, erwachsen werden – was auch heißt: sehend –, uns einmischen, versagen, wieder aufbegehren und auf neue Erfahrungen süchtig sind: In diesen konkreten Verhältnissen ist ein Zustand verantwortungsloser Unschuld nicht vorgesehen. Heute und hier! heißt es da, und im Gehen reißt es uns die Masken vom Gesicht."

Damit hat sie schon vor vierzig Jahren mehr Größe und Fähigkeit zur Selbstreflexion bewiesen, als viele, die sie heute immer noch kritisieren.

 

Esther Slevogt ist Chefredakteurin und Mitgründerin von nachtkritik.de. Außerdem ist sie Miterfinderin der Konferenz Theater & Netz. In ihrer Kolumne Aus dem bürgerlichen Heldenleben untersucht sie: Was ist eigentlich mit der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihren Repräsentationspraktiken passiert?

 

Zuetzt fragte sich Esther Slevogt, wie Theater das Theater als Hygienemodell noch funktionieren soll.

 

 

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