In der Einsamkeit der Discokugeln

von Andreas Schnell

Bremen, 10. Oktober 2008. 1971 schrieb Rainer Werner Fassbinder "Die bitteren Tränen der Petra von Kant", ein Jahr später verfilmte er das Stück in Bremen. Die junge Regisseurin Mirja Biel brachte es nun "nach Hause": in Bremens Brauhauskeller, jene kleine Spielstätte des Theaters Bremen, die schon manchen Bühnenbildner zu interessanten Lösungen inspiriert hat.

Man blickt hier nicht in eine Wohnung voller Schaufensterpuppen (wie in Fassbinders Film), sondern in einen erschlagend sterilen Tunnel mit weißen Wänden und Discokugeln. Vor Stroboskopeinsatz wird gewarnt. Indie-Rock läuft in Schleife. Dann geht das Licht aus, das Stroboskop tut, was es tun muss, die Musik entpuppt sich als Song von Tocotronic: "Mein Ruin ist was mir bleibt / Wenn alles andere sich betäubt / Mein Ruin ist weiterhin / Eine Arbeit ohne Sinn..."

Eigennutz, Gefühl und Spaß
Wir sehen eine Frau mit brauner Gesichtsmaske. Sie führt Telefonate der Art, wie sie Karrieremenschen so führen: Klar doch, alles supi, bis morgen, ich freu' mich, juchhe. Das ist Petra von Kant, die sich nach dieser gelungenen Runde Heuchelei erst einmal erbrechen muss. Zwischendurch scheucht sie Marlene herum, einen jungen Mann mit weißgeschminktem Gesicht und silberner Glitzerkleidung. Aus einem Telefongespräch mit ihrer Freundin Sidonie von Grasenabb (während dem sie sich die Maske abzieht und ein wenig auf der getreuen Marlene herumtrampelt) erfahren wir, dass die erfolgreiche Modedesignerin geschieden ist – von einem Mann, den sie in einer Ehe voll höchster Erwartungen leidenschaftlich zu hassen gelernt hat.

Über Sidonie lernt sie Karin Thimm kennen. Ein Arbeiterkind auf der Suche nach seinem Platz in der Welt. Von Kant nimmt sich des Mädchens an und beschließt nicht ohne Eigennutz, sie zum Model zu machen. Von Kant verliebt sich in Karin, die ihre Gefühle erwidert – allerdings auch nicht ohne Berechnung, denn sie will Erfolg. Die einsame Designerin will nicht mehr einsam sein, das Mädchen will seinen Spaß, wozu auch gehört, ab und an mit anderen (Männern) ins Bett zu gehen, das junge Glück verkommt zu einer Pärchenhölle voller Anschuldigungen, Eifersucht und Ansprüchen.

Der Mann Marlene
Als Karin zu ihrem Mann zurückkehrt, muss sie übelste Beschimpfungen und innige Liebesschwüre über sich ergehen lassen. Aber sie geht, und Petra von Kant vergießt ihre bitteren Tränen, die auch durch größere Mengen Alkohol nicht trocknen. Am Ende ist sie ganz allein – unbelehrbar, auch wenn sie sich zu der Einsicht hinreißen lässt: "Man muss lernen zu lieben, ohne zu fordern." Selbst Marlene, der sie Freundschaft angeboten hatte, ist fort. Im Schlussbild sehen wir sie, wie sie sich Schicht um Schicht ihre Bekleidung, die lediglich aus Unterhosen (Schießer-Feinripp mit Eingriff) besteht, herunterreißt, die letzte blutverschmiert, und schließlich nach einem epileptischen Anfall in Embryostellung liegen bleibt.

Dass Marlene von einem Mann gespielt wird, ist eigentlich das Einzige, was in dieser Inszenierung etwas irritiert. Ist es, weil es Fassbinder gar nicht um das Weibliche geht, sondern ganz allgemein um das Elend der Beziehungen zwischen Insassen der bürgerlichen Gesellschaft mit all ihren Berechnungen? Oder weil der Mann heute der "nigger of the world" ist?

Berlinerndes Besäufnis
Davon abgesehen ist Mirja Biel ein mitreißender Abend gelungen. In Abgrenzung zu der strengen Fassbinder-Variante arbeitet sie mit Mitteln des Pop, wie etwa dem pointierten Einsatz der Musik von DAF ("Alle gegen alle") über die Einstürzenden Neubauten ("Seele brennt") bis zu "I Wanna Be Your Dog" von den Stooges, zu dem sich Marlene (Christoph Rinke, immer wieder beeindruckend in abgründigen Rollen) in Agonie windet.

Es gibt auch durchaus komische Passagen wie das Besäufnis Petra von Kants (grandios die Zerrissenheit und geistige Verwahrlosung ihrer Figur verkörpernd: Irene Kleinschmidt), bei dem ihr Hochdeutsch allmählich einem verwaschenen Berlinern weicht, während sie hinreißend mit ihren Getränken parliert. Und auch das kleine Ensemble überzeugt mit Johanna Geißler (als Karin und Petras Tochter Gabi) sowie Carla Becker als Mutter. Unbedingt empfehlenswert – sofern man keine Probleme mit Stroboskoplicht hat.

 

Die bitteren Tränen der Petra von Kant
von Rainer Werner Fassbinder
Regie: Mirja Biel, Bühne und Kostüme: Nele Dörschner, Musik/Foto/Video: Joerg Zboralski, Dramaturgie: Claudia Leutemann.
Mit: Irene Kleinschmidt, Carla Becker, Johanna Geißler, Christoph Rinke.

www.theaterbremen.de

Weitere Fassbinder-Stoffe auf deutschen Bühnen: Thomas Ostermeiers Die Ehe der Maria Braun an den Münchner Kammerspielen, Hasko Webers Die Dritte Generation in Stuttgart und Andreas Bodes In einem Jahr mit 13 Monden am Hamburger Schauspielhaus.

Kritikenrundschau

Von der oft "mediokren Belanglosigkeit" und "mutlosen Beliebigkeit", die man in jüngerer Zeit vom Bremer Theater gewöhnt war, hebe sich Mirja Biels effektvolle Inszenierung der "Bitteren Tränen der Petra von Kant" "endlich einmal wohltuend, gelungen ab", freut sich Jan Zier in seiner Kurzkritik in der taz Nord (13.10.2008). Auch wenn manches Klischee bedient werde, verdiene die Inszenierung Applaus.

Wie in der Verfilmung werde auch aus der Inszenierung von Mirja Biel ein "hochdramatisches Bravourstück für zwei Schauspielerinnen", meint Sven Garbade im Weser-Kurier (13.10.2008). "Wie eine aseptische Zwingburg" wirke der Bühnenraum, in dem Irene Kleinschmidt in der Titelrolle ein "darstellerisches Kaleidoskop voller emotionaler Splitter zum Funkeln" bringe, "wie es schöner nicht sein könnte". Als "Kraftzentrum" der Aufführung gestalte sie die "labilen Auflösungserscheinungen" der Petra "nuancenreich". Mit dem "fragilen Spannungsbogen der Vorlage" gehe Biel "sorgfältig" um, so dass sich eine "kalkulierte Dramaturgie des Stillstands" etabliere, die die Protagonistinnen "umso effektvoller in dem Kochtopf ihrer Seelennot schmoren" lasse und eine "hohe szenische Intensität" entwickle. Alles an diesem Abend erscheint Garbade "stimmig, detailgenau und mit Stilsicherheit arrangiert".

Kommentare  
Petra von Kant: Verstehe Schnells Unverständnis nicht
Ich verstehe den Einwand oder das Unverständnis des Autors Schnell (kalauerig-toller Name übrigens für einen Nachtkritiker) für die männliche Besetzung der Figur Marlene nicht. Rinke zeigt in so beeindruckender Manier, dass es hier um keine spezifische Geschlechterfrage geht. Da ist der inszenatorische Einfall so zwingend, dass es mir in einer deutlichen Geschlechterrollenverteilung nur platt erschiene.
Petra von Kant: keine Frage des Geschlechts
Eben weil es ja schon bei Fassbinder auch ganz ohne Mann klar ist, dass es keine Frage des Geschlechts ist (dieses Argument teile ich durchaus), fand ich das nicht so ganz einleuchtend. Dass Rinke beeindruckt, sehe ich genau so.
Kommentar schreiben