Der Westler mag es nackt, nicht wahr?

von Georg Kasch

Berlin, 1. Oktober 2020. Sex sells? Nachdem sich in Michael Jurgons Schweriner "Othello"-Inszenierung – immerhin zum Theatertreffen 1994 eingeladen – die Titelfigur der Desdemona in der finalen Szene das Kleid vom Leib riss, bis man ihren baren Busen sah, bemerkte meine Sitznachbarin trocken: "Das machen die nur, damit die Wessis in unser Theater kommen." Die Wessis kamen dann auch, aber meistens, weil Theater in Schwerin im Kern das nicht war: nackt, schräg, laut. Dennoch breitete sich – parallel übrigens zur Entwicklung, dass immer mehr FKK-Strände geschlossen oder an die Ränder verlegt wurden – Nacktheit auch auf den ostdeutschen Bühnen als theatrales Mittel aus.

Blühende Landschaften

Was das über die innerdeutsche Vereinigung erzählt? Dass da nicht zwei Länder zusammengewachsen sind. Sondern dass es Brüche, Überlappungen, Anpassungen gab und gibt. Aber auch: Vorurteile, Verdächtigungen, Missverständnisse. Missverständnisse, die womöglich auch nicht grundsätzlich ausgeräumt wurden und die diesen Prozess erschwerten, nicht nur juristisch und der Wirtschaftsform nach, sondern auch mental und emotional ein Land zu werden.

Bundesarchiv Bild 183 1990 1003 400 Berlin deutsche Vereinigung vor dem ReichstagDie Feier am 3. Oktober 1990 zur deutsch-deutschen Wiedervereinigung © Bundesarchiv Bild 183 1990 1003 400

An den Theatern lässt sich das ganz gut beobachten. Natürlich gehör(t)en die einstigen Ost-Theater in Berlin zu den tonangebenden Bühnen im bundesweiten Vergleich (kommt allerdings immer auf die Intendanz an: das Deutsche Theater wirkte unter Thomas Langhoff verschnarcht, die Volksbühne wurde bald zur einflussreichsten deutschsprachigen Bühne überhaupt). Natürlich genießen Leipzig und Dresden zu Recht einen guten Ruf.

Aber dass all die anderen Häuser dieser einst so vielgesichtigen Theaterlandschaft nur vereinzelt noch überregionale Strahlkraft entfalten, hat natürlich etwas mit Sparrunden, Fusionen, Stellenabbau zu tun. Da schrumpfte eine Theaterkultur, die einst eine singuläre Stellung zwischen Propaganda und informeller Öffentlichkeit annahm, als Grundlebensmittel, als Unterhaltungsort und Ort, sich über gesellschaftliche Themen auszutauschen. Ein Zusammenbruch, analog zu all den anderen Umbrüchen, den wegfallenden Industriejobs, den wegziehenden jungen Leuten, den verwaisenden Städten. Der Witz über die blühenden Landschaften wurde schon in den 90ern bei jeder überwuchernden Brache ausgereizt.

Was bedeutet die Vereinigung heute?

Wie also steht es um Gesellschaft und Theater 30 Jahre nach der Vereinigung? Wie sieht die Soll-und-Haben-Bilanz aus? Wo hat das Osttheater das Westtheater beeinflusst – und umgekehrt? Und was bedeutet die Vereinigung für die Nachgeborenen, für Menschen, die damit ein Erstarken von Nationalismus und überkommenen deutschnationalen Geisteshaltungen erlebten, die mit einem aufkeimenden Rassismus konfrontiert werden?

In den kommenden Wochen wollen wir in loser Folge Erinnerungen und Positionen von Theatermacher*innen und Kritiker*innen aus Ost und West bringen. Und starten heute mit einem Theatermacher, der sich aus dem Westen aufmachte in den Osten: Christoph Nix.

 

Mehr dazu:

Teil 1: Christoph Nix schreibt über seine Anfänge als Regieassistent am Berliner Ensemble und die produktive Widerborstigkeit einer Theater-Übergangsgesellschaft

Teil 2: Thomas Irmer denkt über den Ost-West-Riss und die Frage nach, ob das Theater besser wegkommt als die deutsch-deutsche Entfremdungsgeschichte

Teil 3: Reinhard Göber erinnert sich daran, wie "Kabale und Liebe" in Parchim kein Ende fand und damit die Wirren der späten DDR auf den Punkt brachte

Teil 4: Juliane Kann geht anhand ihrer jüngsten Inszenierung in Meiningen der Frage nach, wie sich Geschichte wiederholen kann