Orestie - Volksbühne Berlin
Der Steuermann lässt laufen
von Michael Wolf
Berlin, 1. Oktober 2020. "Nach Aischylos" steht unter dem Stücktitel, was an diesem Abend doppeldeutig zu verstehen ist. Denn Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson geht in der Berliner Volksbühne nicht nur sehr frei mit der "Orestie" um, bei ihm kommt nach Aischylos auch Edward Albee. Zu Beginn fährt aus dem Bühnenboden eine naturalistisch eingerichtete Wohnung. Sólveig Arnarsdóttir und Sebastian Grünewald spielen darin Martha und George aus dem Ehedrama "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?". Sie streiten sich, hassen einander mit Inbrunst, reizen sich aufs Blut, bis es tatsächlich fließt, Grünewald – streng nach Corona-Regeln – ein Plexiglas-Visier aufsetzt und Arnarsdóttir einen roten Drink ins Gesicht schüttet. Später kommen weitere Farben hinzu, schlägt er sie noch grün und blau.
Loop von Gewalt und Gegengewalt
Sodann fährt die Wohnung wieder hinab und der Rest des 12-köpfigen Ensembles erzählt vor einem mit Plastikstühlen vollgestellten Amphitheater zunächst recht zäh und dann sehr hastig die Geschichte der Tantaliden: Agamemnon hat seine Tochter Iphigenie geopfert, damit die Göttin Artemis seine Segelschiffe in den trojanischen Krieg führt. Kaum ist er siegreich zurückgekehrt, erschlägt seine Frau Klytaimnestra aus Rache wiederum ihn, woraufhin Orest seine Mutter Klytaimnestra tötet. Die Spirale aus Gewalt und Gegengewalt hält die Figuren gefangen, erst im letzten Teil finden sie Erlösung, wenn Pallas Athene eine Gerichtsbarkeit einführt. Strafe ersetzt nun Rache, die Menschen treten damit aus ihrem Naturzustand heraus, nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand. So zumindest ließe sich der Mythos erzählen, mit einem Happy End, mit der Zuversicht, dass der Staat und seine Institutionen eine Ordnung etablieren, in der Freiheit und Selbstbestimmung möglich werden.
Zwischen Aischylos und Edward Albee: Hubert Wild, Johanna Bantzer, Sarah Maria Sander © Vincenzo Laera
Zurück in die Wohnung des Ehepaars. Während die Geschichte ihren Lauf nimmt, wiederholen Arnarsdóttir und Grünewald hier die Albee-Szene Mal um Mal, man kann sie auf Bildschirmen an den Rändern der Bühne den ganzen Abend weiterverfolgen, sofern man denn Freude an unmotivierter Gewaltdarstellung verspürt. Schließlich schlägt George seine Frau tot und bittet – nun als Orest – jammernd vor dem neuen Gericht um Gnade, die ihm auch erteilt wird.
Vorschriftsmäßig abgeklebte Rotze
Es lässt sich trefflich über die Verschneidung der beiden Dramen spekulieren, die Arnarsson bemüht, sicher ist jedenfalls, dass selbige erstens tatsächlich sehr bemüht wirkt und er zweitens eben diese Spekulation dem Publikum aufhalst. Das Schaffen von Sinn und Hintersinn ist hier Sache der Rezipienten, auf der Bühne gibt man sich lieber dem Unsinn hin. Sarah Franke erzählt, sie sei während der Proben verantwortlich gewesen, auf die Abstände zu achten. Als sie ganz allein auf der Bühne steht, nutzt sie den Moment, brüllt nach Herzenslust, rotzt auf die Bühne ("Katharsis!") und klebt die Spucke sodann vorschriftsgemäß ab. Die schwangere Schauspielerin Sylvana Seddig schildert als Iphigenie, wie ihr Vater sie opferte, zieht sich aus, besprüht sich mit Kunstblut, breitet christusgleich die Arme aus. Beim Abgehen windet sie sich, täuscht Wehen vor, um schließlich mit einem Seufzer der Erleichterung ein Hühnerei zu gebären und es aufzuessen.
Starkes Bild!, mögen sie sich auf der Probe gedacht haben, es ist zu befürchten, dass auch irgendjemand "Mega!" gesagt hat. Bleibt nur die Frage: Guckt da bei der Volksbühne nicht mal jemand von außen drauf? Jemand aus der Dramaturgie? Der Intendant? Wäre eigentlich egal, wer. Auch dem Pförtner wäre sicher aufgefallen, dass das keineswegs ein starkes Bild ist, sondern nur ein unter hohem Zeicheneinsatz konstruiertes Witzchen, das auf nichts anderes verweist als auf die Wahllosigkeit der Mittel, die hier zum Einsatz kommen.
Gezielt gesteuerte Produktion von Zeichen?
Jede Assoziation ist so treffend wie die nächste. Sie verschneiden Albee mit Aischylos, weil es bei beiden Stücken ja um ewige Kämpfe geht, oder so. Sie singen hier "Mama" von Queen, weil Orest ja schließlich seine Mutter umbringt, oder so. Eine monströse Trump-Figur läuft am Ende über die Bühne, weil es ja um Gesellschaft geht und bald Wahlen sind, oder so. Postmodern und ekletizistisch nennt man das Ergebnis, will man vornehm, einfallslos und beliebig, will man ehrlich sein. Klar, Arnarssons Orestie ist kein Einzelfall, dieser Regiestil ist in seiner Generation weit verbreitet. Wohl aus Angst vor dem Bedeutungsverlust gibt man sich der nervösen Produktion von Referenzen hin, schmeißt die Maschine an und lässt einfach laufen. Dabei müsste es bei Regie doch um Kontrolle gehen, um die gezielte Steuerung von Zeichen, um ihre Regulierung, nicht um ein vulgäres "anything goes".
Zahllos, wahllos? Daniel Nerlich produziert Zeichen © Vincenzo Laera
In einer Szene erzählt Sarah Franke von den Proben nach dem Lockdown. Der Regisseur sei da schon wieder in Island gewesen und habe es aus ökologischen Gründen abgelehnt, nach Berlin zu fliegen. Stattdessen sei dann die ganze Produktion zu ihm nach Island geflogen. Der beste Witz des Abends ist das, vor allem aber eine treffende Beschreibung der Art, wie hier Regie geführt wird. Am Theater wird in letzter Zeit viel über Ökologie gesprochen. Es geht um das Anthropozän, um Klimaneutralität und Stromverbrauch. Erstaunlicherweise findet aber keine Diskussion über den Umgang mit Zeichen statt, die diese Branche Abend für Abend verschwendet, wegschmeißt und über die Rampe suppen lässt. Es wäre höchste Zeit, mehr semiotische Ökologie zu wagen – oder wenigstens den Müll zu trennen, bevor man ihn rausbringt.
Die Orestie
von Thorleifur Örn Arnarsson
nach Aischylos, unter Verwendung der Übersetzung von Peter Stein, erschienen im Verlag der Autoren
Regie: Thorleifur Örn Arnarsson, Bühne: Ann-Christine Müller, Kostüme: Mona Ulrich, Musik: Gabriel Cazes, Director of Photography: Voxi Bärenklau, Künstlerische Mitarbeit: Egill Sæbjörnsson, Sounddesign: Salka Valsdóttir, Licht: Kevin Sock, Live-Kamera: Miriam Kolesnyk / Nicolas Keil, Dramaturgie: Ulf Frötzschner
Mit: Sólveig Arnarsdóttir, Johanna Bantzer, Gabriel Cazes, Sarah Franke, Katja Gaudard, Sebastian Grünewald, Jan Jordan, Daniel Nerlich, Sarah Maria Sander, Sylvana Seddig, Sir Henry, Hubert Wild
Premiere am 1. Oktober 2020
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause
www.volksbuehne.berlin
"Schön ist's nicht beim besagten Tantalidengeschlecht, aktionsreich aber durchaus – was sich auch von Thorleifur Örn Arnarsson 'Orestie'-Inszenierung sagen lässt", so Christine Wahl im Tagesspiegel (6.10.2020). Es beginne stilecht in einer Nasszelle mit angrenzendem Bobo-Wohnzimmer, allerdings seien es George und Martha aus Edward Albees Ehehöllenklassiker 'Wer hat Angst vor Virginia Woolf?', die sich hier auf die Nerven gehen. "Natürlich kann man – Stichwort: toxisches Patriarchat, – Albee mit Aischylos engführen." Wozu man das unbedingt müsse, bleibe über den 135-minütigen Abend hinweg eine treue Begleiterin. Fazit: "Man darf gespannt sein, ob es demnächst zwingender wird mit der Antike in der Volksbühne, denn die stellt hier ein ganzes Spielzeitthema."
Als "retro-postmodernes Tischfeuerwerk aus Zitaten, Fragmenten, Assoziationen und Selbstbespiegelungen" implodiere Aischylos' Tragödie bei Arnarsson, schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (2.10.2020). "Auf einen Nenner und um jegliche Substanz gebracht, ist das Theater selbst zum Atridenfluch geworden. Wie entkommt man dem Geflecht der Zeichen und Bedeutungen? Wo hört das Spiel auf, und wo beginnt das Echte?"
"Was für ein gedehntes, nerviges Spektakel!", klagt Ute Büsing auf rbb Kultur (2.10.2020). "130 Minuten lang viel Lärm um wenig, Wettstreit widersprüchlicher Stimmen, Noise-Konzert aus der Atriden-Blase" führten nirgendwo hin: Das Ehedrama passe nicht zum blutigen Atriden-Fluch, die "ellenlangen" Ausführungen zum eingeschränkten Proben- und Spielbetrieb unter Corona nicht zu den archaischen Opfer-Ritualen und der Katharsis des antiken Dramas. Das zwölfköpfige Ensemble mühe sich nach Kräften, "diesem totalen Geschmacks- und Stilmix Konturen abzugewinnen", aber der Abend bleibe "ein Bekenntnis zu ganz großer Ratlosigkeit" – wobei diese Verunsicherung nicht ausgespielt, sondern unter Bombast erstickt werde.
Von einem "kompliziert zusammengepuzzelten" Abend berichtet André Mumot auf Deutschlandfunk Kultur (1.10.2020). "So viele Ideen kommen hier zusammen, blitzen auf, beeindrucken kurz im komplexen Bühnenbild von Ann-Christine Müller und verpuffen wieder. All die Einzelteile verbinden sich weder intellektuell noch emotional zu einer schlüssigen Einheit, riegeln den Abend stattdessen über weite Strecken nach außen hermetisch ab. Das Theater ist hier wieder einmal vor allem für sich selbst da, spielt verbissen vor sich hin."
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Doch es folgt noch die für die gedankliche Kostruktion des Abends wichtigste Szene, die jedoch wie ein liebloser Nachklapp wirkt: Sebastian Grünewald, der George aus der Ehehölle, schlüpft plötzlich in die Rolle des Orest. Sein Monolog soll in den letzten Minuten der Inszenierung für die Klammer all der Einzelteile sorgen, die sich an diesem Abend nicht so recht zu einem Ganzen zusammenfügen. Der Abschluss ist leider symptomatisch für einen überfrachteten Abend, der so viele Fäden aufnimmt, sie aber sofort wieder fallenlässt und nicht schlüssig verbindet.
Im Vorfeld betonten Arnarsson und sein Team, dass sie an dem antiken Stoff vor allem der Ursprung der Demokratie und des Rechtsstaats, der sich im Prozess gegen Orest zeigt, interessiere. Eine tiefere Auseinandersetzung mit diesen Themen gelingt dem Schauspieldirektor der Volksbühne jedoch nicht. Im Gegenteil: Dass in der allerletzten Szene, bevor das Licht erlischt, eine Donald Trump-Karikatur unmotiviert über die Bühne trippelt, ist nicht mehr als ein platter Gag, der dramaturgisch in keiner Weise eingebunden ist.
Komplette Kritik: daskulturblog.com/2020/10/02/die-orestie-volksbuhne-berlin-theater-kritik/
Der Dauer-Macht-Loop des Patriarchats, er wird vorgeführt, ohne von der Stelle zu kommen. denn außer ihn popkulturell zu referenzieren, fällt Thorleifur Örn Arnarsson eben nichts ein. Der Abend dreht sich im Kreise wie seine Bühne, die Zeichen verweisen auf nichts, es ist Lärm, der Angst hat vor der Leere. Die Lösung, sie ist Schein, die Demokratie am Ende. Altmännermasken übernehmen das Geschehen, die Frauen verschwinden unter gesichtslosen Riesenbommeln, am Ende debattieren Comicfiguren in einem Scheinparlament, während dazu „Always Look on the Bright Side of Life“ dudelt. Ja, zu wenig hat sich geändert, seit Agamemnon seine Tochter für das Kriegsglück opferte. Nur, was machen wir jetzt mit der Erkenntnis? Und was kann und will Theater in Zeiten einer Pandemie sein und leisten? Die Antwort weiß vielleicht der wind, dieser Abend aber sicher nicht.
Komplette Rezension: stagescreen.wordpress.com/2020/10/02/ratlos/
ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2020/10/02/die_orestie_thorleifur_oern_arnarsson_inszeniert_dlf_20201002_1742_dbffe272.mp3
Wer legt fest, was man muss, Ich sah Menschen, die etwas wirklich erzählen wollten und mir auch ihre Fragen damit in die Hand gaben. Das ist doch toll, wenn Theater Material ist und ja, gerne wollen wir streiten, besser als diese Wertungen und Abschottungen.
Hallo Katrin, sagen Sie bitte, welche Fragen diese Menschen Ihnen in die Hand gegeben haben und zu welchen Gedanken Sie nach der Vorstellung gekommen sind? Was ist der Sinn/ Zweck dieser Inszenierung Ihrer Meinung nach?
erneut bin ich von der Qualität einer Kritik enttäuscht. Herr Wolf, Ihre Vermutungen, was man sich bei Proben gedacht oder nicht gedacht hat, sind irrelevant. Aussagen à la "Starkes Bild" oder "Mega" in einen journalistischen Bericht einfliessen zu lassen ist kindisch und unprofessionell. Sie wissen es nicht und für uns Leser spielt es keine Rolle! Wie Katrin zuvor schon angemerkt hat, interessiert es uns, was Sie beobachten, wo man Sachen zusammendenken kann, wo nicht. Der Ansatz mit "Virginia Woolf" mag nicht gelungen sein. Danke für die Info, aber da müssen sie nicht ewig drauf rumreiten. Damit stehlen Sie mir meine Zeit. Ich will informiert werden, ich möchte Texte online scannen können. Ich möchte Freude haben an den Texten hier, auch wenn die Abende nicht alle gut sind, nicht alle gut sein können. Ihr Ego, Herr Wolf, ja, Ihre arrogante Haltung ist mir gänzlich egal und ich denke auch vielen anderen hier. Die Kritik beginnt gut und zerfasert dann in Einzelteile. Ihre Bewertung, dass der Abend "Müll" ist, ist erstens daneben und zweitens genauso irrelevant. Ein paar Künstler haben sich zusammengetan und über mehrere Wochen etwas geprobt. Wissen Sie, wie offen, oder geführt überhaupt Arnarssons Regieanspruch war? Wahrscheinlich nicht. Das wäre z.B. eine Frage, die man in der Kritik erörtern könnte. Schade, dass Sie auf diese Idee nicht gekommen sind. Seis drum: Da stehen Künstler auf der Bühne, die mit Ihrem spielerischen Talent etwas zeigen, etwas wagen, honorieren Sie zumindest das. Erzählen Sie davon. Das fände ich spannender, als solche flachen Bewertungen. Ich halte diese Form von Kritik für unzeitgemäss und überlebt. Im Übrigen habe ich den Abend nicht gesehen, sondern informiere mich über diese Plattform, über Abende, die ich gerne sehen würde. Also liebe nachtkritik, wenn Ihr unser Geld wollt, dann holt euch bitte Leute, die nach einer gewissen Policy schreiben. Das wäre zeitgemäss. Da würde ich den Service hier sogar abonnieren. Danke.
diese Art von Kritik hat doch überhaupt keine Funktion mehr. Der Regisseur wird weiter inszenieren, immerhin ist er Träger des Faust-Preises und einige KritikerInnen werden in weiterhin mit Demütigungen dieser Art öffentlich Quälen. Es ist keine Kommunikation zwischen Kritik und Theater. Es ist ein böses Spiel. Nichts weiter. Die Kritik hat keine wirkliche Aufgabe mehr. Sie bewirkt auch im Betrieb kaum noch etwas, zumindest nicht in der Form. Da werden Claims abgesteckt. Das ist alles...
das finde ich interessant.
Sie schreiben „keine Funktion mehr“ – „der Regisseur wird weiter inszenieren“ bzw. „keine wirkliche Aufgabe“ – „bewirkt [...] im Betrieb kaum noch etwas“.
Sehen Sie das (unter anderem) als Funktion/Aufgabe/Ziel von Theaterkritik an, Regisseur:innen um Folgeaufträge zu bringen?
Wäre das dann diese berüchtigte „cancel culture“, von der alle reden?
Oder missdeute ich Ihre Worte da komplett?
Vielleicht ist ja das Format "Kritik" per se nicht mehr zeitgemäss. So wie das Feuilleton ausstirbt, weil es keine mehr lesen mag, verschwinden auch Kritikerinnen, weil sie keiner mehr ordentlich vergüten kann oder will. Anstatt altes zu kopieren, wären solche Portale wie nachtkritik, doch genau das richtige Medium um neue Formate auszuprobieren. Wenn man regelmässig darüber berichtet, wie die Arbeit am Theater falsch läuft, wenn man sich als Portal auf die Fahnen schreibt, man wolle Diskussionsplattform für das Theater und für Theaterschaffende sein, dann sollte man sich auch damit beschäftigen, ob nicht auch "Kritik" Erneuerung benötigt. Sorry, aber ein Mann, der sich so ins Zentrum einer Kritik stellt und allein und allmächtig darüber entscheidet, ob das nun gut oder schlecht sei, sagt, dass man den "Müll" vom "Guten" trennen solle. Ich sehe da nur eine Kopie eines männlichen Regisseurs, der Schauspielern sagt, sie sollen mal von links nach rechts gehen. Es ist genauso unzeitgemäss, wie die Vorgänge hinter der Bühne, die von diesem Portal (zu Recht) verurteilt werden.
Ich meine, dieser Vorwurf der fehlenden Dramaturgie ist wirklich nervig. Als ob irgendwo auch heute noch festgeschrieben wäre, wie der Verlauf einer Dramaturgie zu sein hätte. Einen Mangel kann man ja nur beklagen, falls man feste Vorstellungen eines Ablaufes hat. Die gibt es schon lange nicht mehr an der Volksbühne. Die wurden, ähnlich wie die Kulissen durch Minks, längst von Castorf und anderen dort abgeschafft. Von daher ist ihre Abwesenheit eventuell eher ein Lob. Was hat der Kritiker denn eigentlich nicht gesehen? Welche Ordnung fehlt ihm? Die er lieber gesehen hätte? Darüber sollte er uns mal aufklären. Vielleicht verbirgt sich hinter diesem Vorwurf ja eine vollkommen verschulte Haltung.
Theater sollte der zeitgenössischen Gesellschaft einen Spiegel vorhalten. Möglichst einen Zerrspiegel, der GENAU ungenau ist: nicht zu wenig verzerrt, als dass die Gesellschaft sich in hässlich finden müsste und ihn deshalb meidet. Und nicht zu viel verzerrt, als dass sie sich ungehemmt eitel schön in ihm finden könnte und dabei in narzistischer erstarrung in Handlungsunfähigkeit sich übte...
Theaterkritik hat die Aufgabe zu beurteilen, ob und mit welchen Mitteln genau und mit welcher Art Nachhaltigkeit oder Flüchtigkeit in der Wirkung die Spiegelung funktioniert hat. Oder nicht.
Insofern ist Theaterkritik an sich immer zeitgemäß. Wie das Theater an sich auch. Mit oder ohne Spiralblock.
Theater wie auch Kritik - nicht nur Theaterkritik - sind allerdings in unseren wirtschaftlichen Verhältnissen gewaltige Störfaktoren geworden. Deshalb hindert man sie an ihrer Präsentation. Wir haben keine Re-Präsentationskrise, sondern eine Präsentationskrise (aber Repräsentationskrise klingt auf jeden Fall schicker!).
Weil die Besitzer der Medien bestimmen, was genau als Information und wertende Beurteilung präsentiert wird und was genau nicht. Theaterkritik gehört zunehmend nicht dazu, das kann man als (geo)politisch wacher Mensch seit mehr als einem Jahrzehnt wissen - Insofern: Guten Morgen, Herr Rothschild und werte KritikerInnen!
Ich kann nur jedem Schauspieler versichern, dass des Herrn Stadelmaiers schlimmstmögliche, handgemachte kritische Notizen sich gegen die Notizen, die ich als Zuschauerin - unsichtbar für SchauspielerInnen - in meinem Kopf in der Lage bin zu machen, absolut milde ausnähmen! Ich darf also seit jenem denkwürdigen Schauspieler-Angriffstag davon ausgehen, dass ein Schauspieler, an dessen verantwortungsvoller Spiel-Arbeit ich etwas Konkretes auszusetzen hätte und der mir beim Zuschauen in den Kopf sehen könnte, mitnichten mir lediglich irgendetwas aus der Hand schlagen wollen würde - Er würde mich vermutlich gleich im Saale öffentlich umbringen. Da ist doch vergleichsweise der Herr Stadelmaier richtig gut weggekommen bei der Sache!
Weil ich den Vergleich kenne, konnte ich die Spiralblock-"Affäre" als "Affäre" oder gar KRIIEEESE der Theaterkritik nie ernstnehmen... Wie gut, dass das keiner bisher wusste! Wenn man zum Beispiel Frau Slevogt oder den Jubiläums-Reden der Redaktion zum 10jährigen glaubt, wäre ja sonst nachtkritik.de nie entstanden!
ich bin entsetzt, wie hier mit einem Kritiker verfahren wird, nur weil er sich wagt, Kritik zu üben (was - schon der Berufsbezeichnung nach - genau seine Aufgabe sein sollte). Sicherlich lässt sich darüber streiten, ob der Abend die Ansprüche des Publikums erfüllt, ob er in sich konsistent ist, etc. Das rechtfertigt jedoch nicht, jemandem Vorwürfe zu machen, weil er Mängel (subjektiv) wahrnimmt und aufzeigt. Dabei gehört es auch dazu, Dinge überspitzt zu formulieren. Das hat nichts mit "Vernichtung" zu tun. In dem Moment, in dem Theaterschaffende ein Werk oder eine Produktion der Öffentlichkeit präsentieren, müssen sie m. E. auch mit Kritik und Widerspruch umgehen können. Leider ergehen sich viel zu viele Kritiker*innen heute nur noch in Beschreibungen - vielleicht, um sich eben nicht zur Zielscheibe zu machen. Kritiken sind IMMER subjektiv und es erschüttert mich wirklich, dass eine Szene, die sich selbst gern als liberal und tolerant ansieht, anscheinend nicht bereit ist, andere Meinungen als die eigene zu respektieren.
Was die Dramaturgie-Diskussion angeht: Ich möchte darauf hinweisen, dass Herr Wolf fragt, ob nicht jemand aus der Dramaturgie einen Blick darauf geworfen habe. Hier müssen wir unterscheiden zwischen der Dramaturgie eines Stücks (Herr Baucks hat ja darüber geschrieben), also seinem dramaturgischen Ablauf, der ganz unterschiedlich gestaltet sein kann, und der Abteilung Dramaturgie. Ich arbeite selbst als Dramaturg und möchte daher betonen, dass es dabei zum Job gehört, Theaterabende zu hinterfragen, also mit Abstand einen Blick darauf zu werfen, um mögliche Probleme zu benennen und sie - so sich die Regie darauf einlässt - zu vermeiden. Ich sitze selbst oft in Vorstellungen, bei denen ich mir wünschen würde, dass die Dramaturgie eben diese Hilfestellung geleistet hätte. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Es geht mir keineswegs um Denkeinschränkungen, Zensur oder ähnliches, sondern darum, der Regie zu helfen und sie dabei zu unterstützen, ihr Konzept so umzusetzen, dass es für das Publikum erfahr- und erfassbar ist. Denn sonst gerät Theater schnell zum Selbstzweck und kreist nur noch um sich selbst: Die Irrelevanz klopft da quasi an die Tür. Das in einem anstrengenden und kreativen Probenprozess eben diese Relevanz oft aus dem Blick gerät, ist völlig normal. Gerade deshalb hat sich die Dramaturgie ja als Abteilung bis heute behaupten können: um die Regie nicht völlig allein zu lassen, sondern sie zu beraten ihr im Zweifelsfall auch im Sinne des Gesamteindrucks zu widersprechen. Tatsächlich ist es genau das, wovon ich bei der Arbeit als Dramaturg zehre - gemeinsam mit der Regie einen Theaterabend zu gestalten!
aber hier wird doch mit Nachdruck in den Raum gestellt Ulf Frötschner hätte seine Arbeit nicht gemacht. Sie werden es mir nachsehen, wenn ich da Zweifel habe. Sollten Sie mit einem Kollegen nicht fairer umgehen?
Und "fehlende Dramaturgie" heißt nicht, dass die verantwortliche Person nicht gearbeitet hätte.
ich gehe davon aus, dass sowohl die Regie wie die Dramaturgie ihre Arbeit gemacht haben und zu einem Ergebnis kamen, dass dem Kritiker nicht gefallen hat. Ihnen deshalb Unfähigkeit zu unterstellen, erachte ich als unfair. In Richtung Herfeldt habe ich nur mal diesbezüglich nachgefragt. Mehr nicht.
ich bin nicht sicher, ob ich von "Nachdruck" sprechen würde. Aber ja, Ulf Frötschner wird für seine Arbeit kritisiert. Das ist aber wohl das Recht des Kritikers. Inwiefern er das tatsächlich beurteilen kann oder ihm hier Fehler unterstellt, sei einmal dahingestellt. Ich bin sicher, dass Herr Frötschner durchaus seine Arbeit gemacht hat. Manchmal sieht man aber auch als Dramaturg den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Dann muss man sich leider Kritik gefallen lassen und diese aushalten (Wie Herr Frötschner das sieht, kann ich natürlich nicht beurteilen). Das ist das Schlimme aber zugleich das Schöne am Theater!
Ich finde, es ist an der Zeit nach Alternativen zu suchen, statt bloß "Auszuhalten".
Persönlicher Eindruck: Die Beliebigkeit der Mittel und Formen nervt schon nach 10 Minuten. Der Abend ist wie einem Menschen beim Monologisieren zu zu hören, der alle drei Minuten das Thema wechselt. Ermüdend.Statt einer Idee oder eines Gedankens sehe ich: Regieeinfälle minderer Qualität, Probenwitze. Wenn der Regisseur eine Sinnkrise hat, sollte er vielleicht nicht inszenieren - die Spieler*innen ziehen es durch. Respekt dafür.
Das Bild mit der Mülltrennung von Michael Wolf verstehe ich schon, die Ideen bisschen ordnen, bevor man sie auf den Wühltisch legt. Aber ist eigentlich egal. Die Edda war eindrücklich, die Odysee einfach peinlich von vorne bis hinten - und dieses Machwerk, Hilfeee! da helfen die hübsche Bühne und die schönen Kostüme leider gar nicht, wenn beim Theatermachen das Gehirn ausgeschaltet bleibt. Die Kritik an der Dramaturgie verstehe ich nicht als Vorwürfe gegen Personen (laaaangweilig) - sondern als Feststellung das diesselbe einfach fehlt. Deshalb fühlen sich zwei Stunden wie 10 an. Lob an die Veranstalter - die Erfahrung fühlte sich wenigstens safe an - Abstände, Hinweise etc, alles gut - Produktion leider nicht.