Der Ost-West-Riss

von Thomas Irmer

5. Oktober 2020. Kurz vor dem damals recht willkürlich festgelegten 3. Oktober 1990 als Datum der offiziellen Wiedervereinigung (oder des Beitritts der damit sich auflösenden DDR – schon da fangen ja die Probleme an) brachte Frank Castorf seine "Räuber" an der Berliner Volksbühne zur Premiere. Die FAZ verriss den Abend nach Strich und Faden unter der Überschrift "Das Geheul in der Nische" – Gerhard Stadelmaiers Artikel liest sich auch heute noch aufschlussreich wie ein Wegweiser in die deutsch-deutschen Entfremdungen der neunziger Jahre und darüber hinaus.

Letzte Phänomene

Ostdeutsche waren in dieser Sicht nur noch greinende Gestalten, die sich am liebsten in der Volksbühne als "PDS-Wärmestube" aufhielten. Dem Ost-Theater, das ja in der Endphase der DDR eine nicht eben geringe gesellschaftliche Rolle spielte, wurde von da an eine garstige Nischenexistenz bescheinigt.

castorfraeuber90 560 DavidBaltzer uPDS-Wärmestube oder Zukunftsentwurf? Frank Castorfs "Räuber"-Inszenierung 1990 an der Volksbühne Berlin © David Baltzer / Bildbühne

Nun ist allgemein bekannt, dass die Berliner Volksbühne Ost dann, aus dieser "Räuber"-Keimzelle heraus, zum wichtigsten Theater der neuen Zeit wurde. Um es kurz zu sagen: Was dort sich entwickelte, hat wahrscheinlich das westdeutsche Theater, vornehmlich der Jüngeren, mehr beeinflusst und verändert als umgekehrt die letzten Phänomene des linksbürgerlichen Theaters der alten Bundesrepublik die Traditionen aus dem Theater in der DDR umformatierten. Ohnehin war die Volksbühne bald auch, bildlich gesprochen, eine Bundesrepublik der deutschsprachigen Länder: mit dem Schweizer Marthaler, dem Österreicher Kresnik und ausgerechnet Schlingensief als westdeutschem Bundesgenossen, für die Bühne entdeckt vom West-Berliner Lilienthal.

Mit einem erweiterten Blick auf die ganze ostdeutsche Theaterlandschaft lässt sich in aller Kürze feststellen, dass die Transformation hier kaum so wie in der Industrie (Treuhand) und anderen Bereichen wie Verwaltung, Justiz, Medienanstalten und Universitäten von einem Personal gelenkt wurde, das sich mehr dem eigenen Fortkommen als der sensiblen Gestaltung des Übergangs verpflichtet sah. Die ostdeutschen Theater wurden in der Regel nicht von Leuten übernommen, die eine "Buschzulage" lockte und deren Karriere im Westen stecken geblieben war, sondern mehr oder weniger behutsam von meist erfahrenen DDR-Theaterleuten, wie etwa in Dresden und Cottbus von Dieter Görne und Christoph Schroth in die neue Zeit gebracht.

"Wo bin ich denn hier reingeraten?"

Es mag auch ein paar Wiedervereinigungsidealisten ohne Kompetenzen gegeben haben, aber fürs Theater spielten sie insgesamt keine Rolle. Junge West-Schauspieler, die noch nicht die längst gängigen Vorurteile im Kopf hatten, ließen sich gerne bis nach Zittau engagieren. Ein Kritiker jubelte im Willy-Brandt-Sound: "Jetzt spielt zusammen, was zusammen gehört." Da könnte man das Feld des Theaters mit jubiläumsseliger Gelassenheit betrachten.

Nicht so aber, wenn man sich daran erinnert, welche Stücke zu dem Thema DDR und Wiedervereinigung damals auf die Bühne kamen. Ein großer Hit war Klaus Pohls "Karate-Billi kehrt zurück", 1991 am Schauspielhaus Hamburg uraufgeführt, dann auch am Deutschen Theater von Alexander Lang prominent besetzt inszeniert. Die Titelfigur, ein Zehnkämpfer aus dem DDR-Leistungssport, wurde wegen Fluchtplänen denunziert und landete anschließend in der Zwangspsychiatrie. Nun kehrt Billi in die Freiheit zurück, um festzustellen, dass praktisch alle in der kleinen ostdeutschen Stadt an seiner Verfolgung beteiligt waren. Die einzige westdeutsche Figur, ein das Terrain sondierender Vertreter der Deutschen Bank, ruft erstaunt aus: "Wo bin ich denn hier reingeraten?" Undifferenzierte Kollektivschuld steht scheinbar umsichtiger Aufbauhilfe gegenüber. Wer den Ost-West-Riss anhand von Theaterstücken erinnern oder wieder verstehen möchte, der lese noch einmal dieses effektvoll gebaute Drama – mit Schaudern.

Bösartige Fehleinschätzungen

"Karate-Billi" nahm im Theater ein Symptom vorweg, das in der gesellschaftlichen Realität ein paar Jahre später auf geradezu unfassbare Weise und mit kaum wieder gut zu machenden Folgen herausbrach: die Stigmatisierung der Ostdeutschen als grundsätzlich rechts, wissenschaftlich erklärt von einem Polizeipsychologen aus Hannover. Christian Pfeiffer stellte einen Zusammenhang zwischen DDR-Kinderkrippe und rechter Ideologie her, der auf eine entsprechende Disposition der Ostdeutschen zielte.

StummesLand 2 560 SebastianHoppe uGefangene der Geschichte? "Stummes Land" von Thomas Freyer, im September 2020 in Dresden von Tiilmann Köhler uraufgeführt © Sebastian Hoppe

Das Unglaubliche war nun, dass Pfeiffers Thesen, die der Verhaltensbiologie in der NS-Forschung zu entstammen scheinen, sich so breit entfalten konnten, ja in die gesamte Bundesrepublik geradezu hinein ventiliert wurden. Der Mann wurde nicht geächtet, sondern vom Mainstream-Feuilleton hofiert – und schließlich für die bösartige Fehleinschätzung eines Badeunfalls im sächsischen Sebnitz ("kollektive Hinrichtung mit fremdenfeindlichem Hintergrund") sogar ausgezeichnet. Nebenbei: Pfeiffer gilt noch immer als vor allem bei Fernsehsendern gern gesehener Experte; den Attentäter von Christchurch analysierte er nur wenige Stunden nach der Tat aus 20.000 Kilometer Entfernung!

Seltsame Allianzen

Es ist seltsam, dass sich die so oft nach allem Möglichen recherchierenden Autor*innen und Theaterleute so wenig mit dem Klima dieser gegenseitigen Entfremdung beschäftigt haben. Sicher, es gibt Themen, die leichter zu bearbeiten und auf die Bühne zu bringen sind, als diese vielfach untergründigen Vereinigungstraumata zwischen Ost und West zu verhandeln. Eine kleine Sachbuchwelle hat mit den Titeln von Thomas Oberender ("Empowerment Ost"), Ilko-Sascha Kowalczuk ("Die Übernahme") und Steffen Mau ("Lütten Klein") das Thema wieder in Gang gebracht, dazu auch die letzten Romane von Christoph Hein, Lutz Seiler und Ingo Schulze. Es regt sich endlich wieder was, und das ist nicht bloß Nische!

Immerhin gibt es jetzt in den Theatern (bezeichnender Weise nur im Osten ordentlich vor das Jubiläum platziert) ein paar Beispiele dafür, dass die mentalen Schieflagen der deutschen Gegenwart wieder Thema sein können. Das zeigt sich etwa in Thomas Freyers gerade in Dresden uraufgeführtem Stück Stummes Land oder noch einmal über das größte Abwicklungsprojekt der Geschichte mit Carolin Millners "Tod der Treuhand" in Magdeburg, wo das gigantische Schwermaschinenkombinat SKET von gewieften Managern für ihre eigenen Wettbewerbsvorteile zerlegt wurde. In Cottbus folgt noch Armin Petras' "Umkämpfte Zone" nach dem Buch von Ines Geipel, die man durchaus als die ostdeutsche Schwester von Christian Pfeiffer sehen kann. Wie heißt es in den USA? – Politik schafft seltsame Allianzen.

 

ThomasIrmer 280h StellaIrmerThomas Irmer war von 1988 bis 1996 Amerikanist an der Universität Leipzig, wo er anschließend als promovierter Studienabbrecher eingestuft wurde. Danach u.a. Chefredakteur von Theater der Zeit, Dramaturg bei den Berliner Festspielen und Autor mehrerer Theaterdokumentarfilme ("Die Bühnenrepublik – Theater in der DDR", mit Matthias Schmidt; "Ich will nicht wissen, wer ich bin – Heiner Müller", mit Christoph Rüter). Veröffentlichte in den letzten 30 Jahren zahlreiche Beiträge zur ost- und westdeutschen Theatergeschichte.

 

Mehr dazu: Zum Auftakt der Artikelserie zur deutschen Einheit auch im Theater schreibt Georg Kasch über die Westler und die Nackten. Christoph Nix berichtet über die produktive Widerborstigkeit einer Theater-Übergangsgesellschaft.