Himmlische Längen auf verlorenem Posten

von Wolfgang Behrens

6. Oktober 2020. Als ich noch ein Zuschauer war, liebte ich die Länge. Aufführungen, die ich besuchte, konnten mir gar nicht lange genug dauern, egal, ob sie nun von Breth, Castorf, Schleef oder Steckel stammten, und egal, ob es sich dabei um Wagner-Opern, ungekürzten Shakespeare oder hybride Doppelabende mit zwei oder mehr kombinierten Stücken handelte.

Große Schlachten für unter 50 Pfennig die Stunde

Diese Liebe zum Ausufernden hatte mehrere Gründe. Zum einen hatte sie mit dem Geldbeutel zu tun: Als Student, der sich zeitweise einem strengen Ausgabenregiment zu unterwerfen hatte, war ich nicht nur in der Mensa darauf bedacht, für ein möglichst geringes Entgelt eine möglichst sättigende Mahlzeit zu erhalten – auch in der Kunst achtete ich selbstverständlich aufs Preis-Leistungs-Verhältnis. Nichts war ärgerlicher als eine voll bezahlte Inszenierung wie etwa Klaus Michael Grübers Uraufführung von Vladimir Nabokovs "Der Pol" an der Berliner Schaubühne, die bereits nach 57 Minuten ihr Ende fand. Umgekehrt boten ermäßigte Tickets für die großen Schlachten an der Berliner Volksbühne oder Stehplätze im Wiener Burgtheater einen geradezu unschlagbaren Gegenwert: Wenn's gut lief, konnte man da für die Stunde unter 50 Pfennig zahlen.

17 Kolumne behrens k 3PDoch ehrlicherweise war es nicht nur der betriebswirtschaftliche Aspekt, der mich in die langen Veranstaltungen trieb. Da ich den Besuch einer Kunstveranstaltung ganz altmodisch als eine Art gesteigerten Zustand erlebte, im besten Fall als einen ästhetischen Rausch, war ich nicht sonderlich auf ihr Ende erpicht. Und noch etwas schien mir damals selbstverständlich: dass Kunst sich Zeit nehmen dürfe und müsse, um ihre Welt überhaupt erst entfalten zu können. Vielleicht war "Der Pol" ja auch deswegen so doof, weil man nach 57 Minuten noch gar nicht gecheckt hatte, wo man eigentlich war? Nach vier Stunden Breth, sieben Stunden Castorf, zwölf Stunden Perceval oder 16 Stunden Wagner indes wusste man schon so ungefähr, in welchem Kosmos man sich befand.

Die Zeitrechnung des Kritikers

Meine Einstellung zum Zeitfaktor änderte sich radikal, als ich ein Kritiker – und nicht zuletzt ein Nachtkritiker – wurde. Plötzlich galt meine erste Frage nach dem Abholen der Pressekarte der Länge: Hörte ich, dass der Abend eine Stunde dauern sollte, war ich glücklich, denn dann wusste ich, dass ich (der ich meine Nachtkritiken immer morgens zu schreiben pflegte) noch eine ordentliche Mütze Schlaf außerhalb des Theaters abbekommen würde. Hieß es jedoch, man wisse noch nicht, vielleicht würden es fünf, vielleicht acht Stunden, dann begann ich zu rechnen, ob ich überhaupt noch eine U-Bahn bekommen würde, und verschob – um meine Nachtruhe fürchtend – die Zeit des Schlafs auf die Vorstellung.

Auch die finanziellen Vorzeichen hatten sich umgekehrt: Da die Pressekarte gratis war, spielte der Gegenwert quasi keine Rolle mehr (was übrigens ein grundsätzlich nicht zu vernachlässigender Gesichtspunkt für Unterschiede im rezeptiven Verhalten von Kritiker*innen und Zuschauer*innen ist: Wer hundert Euro für eine Karte zahlt, trägt womöglich andere Erwartungen an einen Abend heran als jemand, der/die die Karte umsonst bekommt). Und eine kurze Aufführung bedeutete für mich als Kritiker nun nicht mehr einen Affront des Theaters, sondern schneller verdientes Geld.

Beschreib' die Längen doch, du ...

Nun, da ich ein Dramaturg bin, interessiert mich an der Länge einer Aufführung vor allem, dass sie richtig im Programmheft steht (denn wehe, man gibt sie zu kurz an; Ärger mit der blasenschwachen Publikumsmehrheit ist dann vorprogrammiert). Und ich ärgere mich jetzt häufig über eine omnipräsente Kritikerfloskel, die allzu oft als Ausweis einer kritischen Haltung in ansonsten wohlgesinnten Rezensionen herhalten muss: "Die Aufführung enthielt allerdings auch einige Längen." Lese ich das, fahre ich regelmäßig aus der Haut: "Ja, dann beschreib' die Längen doch, du Idiot, oder genieße sie oder werte sie oder tu etwas damit! Aber beweis' dir mit dieser Plattitüde nicht dein kritisches Vermögen!" Echte Längen machen eine Aufführung meines Erachtens tatsächlich langweilig und damit unerträglich, aber dann muss sich der Kritiker auch aus seiner freundlichen Reserve locken lassen und das benennen. Konkret. Punkt.

In Zeiten von Corona, in denen pausenloses Spiel propagiert und der hygienisch einwandfreie 90-Minüter klar bevorzugt wird, hat es die Länge ohnehin schwer. Wenn sich die Kritik da draufsetzt und jede Kürzung einer Mozart-Oper (z.B. bei den Salzburger Festspielen) auch noch als Gewinn feiert, dann sehe ich die "himmlischen Längen", die Robert Schumann einst an Schubert so bewunderte, langsam auf verlorenem Posten.

Doch ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass ich eines Tages wieder in einer Kritik lesen werde: "Glücklicherweise enthielt die Aufführung auch einige Längen, die sie brauchte, um ihre Welt zu behaupten." Dem Zuschauer in mir würde das sehr entsprechen.

 

PS: Natürlich darf diese Kolumne nicht enden ohne eine Verbeugung vor meinem Ex-Kollegen Matthias Weigel, der das Dauer-Spaß-Verhältnis einer Aufführung vor sechs Jahren in eines seiner unvergessenen Diagramme goss:

Graphik: Spaß beim Zuschauen in Abhängigkeit von der Spieldauer eines Theaterstücks

Ob ich mich mit der Grafik auf der linken Seite hundertprozentig identifiziere, weiß ich nicht (der Hügel bei 0,25 scheint mir gewagt), aber je weiter es nach rechts geht (bitte nicht politisch verstehen), desto mehr bin ich dabei.

 

Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist seit der Spielzeit 2017/18 Dramaturg am Staatstheater Wiesbaden. Zuvor war er Redakteur bei nachtkritik.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne "Als ich noch ein Kritiker war" wühlt er unter anderem in seinem reichen Theateranekdotenschatz.


Zuletzt vergegenwärtigte sich Wolfgang Behrens angesichts ausverkaufter und doch halb leerer Theatersäle die Historie von Aufführungen vor wenig Publikum.

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