Gespenster - Berliner Ensemble
Wenn die Maxime verblüht
von Christian Rakow
Berlin, 8. Oktober 2020. Solche Reifröcke gibt es sonst nur im Historienfilm. Echte Cul de Paris, mit ausladendem Hinterteil. Eine Mode des späten 19. Jahrhunderts, die uns Kostümbildnerin Ana Savić-Gecan hier in Erinnerung ruft. Wenn schon "Gespenster" von Henrik Ibsen (aus dem Jahr 1881) auf dem Programm steht, dann eben auch richtig, dann auch mit original gespenstischen Stützvorkehrungen und Korsagen unter dem gutbürgerlichen Kostüm-Überbau. In einigen Szenen dieses Abends werden diese Vorrichtungen offengelegt. Und der Mensch darunter erscheint wie eine absonderliche Marionette oder wie ein Sklave unterdrückter Obsessionen.
Schnitt und Gegenschnitt
Was natürlich bestens zu "Gespenster" passt, Ibsens psychologischem Kammerspiel über die Abgründe der Familie des verstorbenen Hauptmanns und Kammerherren Alving. Alkoholismus, Seitensprünge, körperlicher und geistiger Verfall, versagtes und ausgelebtes Begehren, Sehnen nach "Lebensfreude" und Abprallen an stahlhartem Pflichtgefühl – alles ist drin, wird in schmerzlichen Erinnerungen zwischen den Figuren aufgefaltet, man soll’s nicht en detail verraten. Denn für alle Theatergänger*innen, die den Ibsen jetzt nicht ganz wie ihre Westentasche kennen, liefert Regisseurin Mateja Koležnik am Berliner Ensemble eine sehr direkte und mit neunzig Minuten auch sehr schlanke Umsetzung.
Aus meterhohen grauen Altbautüren treten sie hervor, vor schwarze Wände, schwarz gewandet: Die Frauen – Hausherrin Alving und ihre Bedienstete Regine – tragen endlos lange Zöpfe, als seien sie seit Jahrhunderten in Rapunzels Turm eingekerkert. Raimund Orfeo Voigt und Leonie Wolf, gemeinsam verantwortlich fürs Bühnenbild, lösen die Wohnung der Alvings in mehrere verrückbare Boxen auf, sodass die immergleichen Zimmer zergliedert, gebrochen, verrückt erscheinen. Die Spieler*innen adressieren sich zumeist über die Boxen und ihre Raumgrenzen hinweg – eine pfiffige Art, mit den Corona-Distanzregeln umzugehen, und zugleich eine dezidierte, ästhetische Setzung: Die Zentralperspektive soll aufgesprengt werden. Gemeinsamkeit gibt es nicht. Eine Figur, die zur linken Seite spricht, kann sich im Dialog mit jemandem befinden, der rechterhand nach vorn blickt. Es ist, als folge man Schnitt und Gegenschnitt eines Films zugleich. Die Raumlogik ist nicht überall stimmig durchgehalten, aber man erkennt die Absicht.
So richtig buhlt hier niemand
Mit protestantischer Kühle begegnen die Figuren einander: der Pastor Manders (Veit Schubert), der seine moralinsauren Maximen wie Buchsbäumchen pflegt und bald verblühen sehen muss. Oder der leicht verwahrloste Tischler Engstrand (Wolfgang Michael), der die Eröffnung eines Seemannslokals plant und dafür seine Tochter Regine (Judith Engel) als Animiermädchen einspannen möchte. Und das Paar im Zentrum des Geschehens: Corinna Kirchhoff als resolute Hausherrin Helene Alving und Paul Zichner als ihr Sohn Osvald, der sein Künstlerleben in Paris verließ, um sich daheim zu kurieren, weil ihn die Seelenkrankheit ankriecht.
Zichner stellt diesen Osvald schon in der ersten Szene mit Ticks und Zuckungen vor, die sein Leiden bezeugen sollen, aber sogleich auch den Charakter komplett ausfalten. So verhält es sich eigentlich mit allen Figuren. So sehr sie in den Dialogen Geheimnisse zu entbergen haben, so wenig gönnen die Akteure sich Wendungen und Wallungen. In gleichbleibend moderatem Ton und praktisch ohne Tempowechsel spult das Drama ab. Im Grunde inszeniert Koležnik – gewohnt formbetont – ein Tableau, das in seiner finsteren Ausleuchtung mitunter wirkt, als habe Rembrandt seinen Pinsel angesetzt. Regine und Mutter Alving wirken darin wie Doppelgängerinnen, wenn sie kurz um die Gunst des jungen Osvald buhlen. Wobei so richtig buhlt hier niemand, oder streckt auch nur die Hand aus. Koležnik löst einzelne Dialoge des Stücks auf und lässt dann die Figuren ohne Widerrede monologisieren. Die Menschen gelten ihr als Monaden, der ganze Haushalt Alving wie in Vergangenheit eingefroren.
Neunzig Minuten lang kann man dieser statischen Etüde gut folgen. Der Abend scheint wie gemacht für ein Publikum, das unter Vorgängerintendant Claus Peymann das Berliner Ensemble als Ort klarer Stückumsetzungen ohne regietheatrale Mätzchen lieben gelernt hat. Beim Schlussapplaus steht eine Heerschar von Techniker*innen mit auf der Bühne, und man ahnt, wie die an den Zimmerboxen gewuselt haben müssen, damit die Alvings vorne im Dämmerlicht bürgerlicher Dekadenz erstarren können.
Gespenster
von Henrik Ibsen
Regie: Mateja Koležnik, Bühne: Raimund Orfeo Voigt, Leonie Wolf, Kostüme: Ana Savić-Gecan, Musik: Malte Preuss, Choreografie: Matija Ferlin, Dramaturgie: Amely Joana Haag.
Mit: Corinna Kirchhoff, Paul Zichner, Veit Schubert, Wolfgang Michael, Judith Engel.
Premiere am 8. Oktober 2020
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.berliner-ensemble.de
Kritikenrundschau
"Im Grunde interessiert sich die slowenische Regisseurin nur für die Schuld der Alving. Alle anderen Fragen klammert sie aus. Ob die Menschen an sich ein Recht auf Glück haben, ob sie von Gott oder ihrem Unterbewusstsein gestraft werden, ob sie überhaupt einen freien Willen entwickeln können – von Ibsens analytischer Dramaturgie, die den Begriff der Handlung radikal umgestaltete und verinnerlichte, sieht man nicht viel. Es bleibt ein Kammerspiel um eine düster mächtige Matrone", schreibt Simon Strauß von der FAZ (10.10.2020). Leicht enttäuscht klingt das, aber dennoch lohne sich der "Ausflug ins Risikogebiet" – wegen Corinna Kirchhoff, die ihre Rolle "so souverän, so voll kühler Grandezza" angehe und wegen des "phänomenalen Wolfgang Michael".
"Ein Familiendrama spielt sich ab, mit einer Moral, die gesellschaftliche Schuld und private Erhellungen sucht, ausgeklügelter Handlung und psychologischen Verstrickungen", schreibt Simone Kaempf in der taz (10.10.2020). Das Ensemble spiele changierend zwischen protestantischer Härte und knorriger Verschrobenheit. Corinna Kirchhoff sei "eine Lichtfigur". "Der Abend verharrt dennoch zunehmend in Düsternis und monotoner Vergeblichkeitsstimmung." Ein strenges Kammerspiel habe Koležnik inszeniert und konsequent ihre Regie-Idee umgesetzt, "ein überzeugender oder entfesselnder Abend ist es nicht geworden".
"Man muss schon länger kramen im Gedächtnis, um auf eine ähnlich radikale, formstarke Inszenierung zu kommen, die wie Mateja Kolezniks Ibsen-Klassiker nun so nah am Text bleibt und die Zuschaueraugen doch zugleich in eine Suchbewegung schickt, die alles immer ganz und gar befremdlich hält", schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (9.10.2020). "Koleznik macht mit kunstvoll kalten Perspektivverschiebungen die gespenstische, Leben aussaugende Seite des Sprechens greifbar." Die Kritikerin ist fasziniert, "wie hier alles in Filmschnitten gedacht und doch nichts filmisch ist". Vielmehr feiere dieser Abend in seiner räumlichen Gleichzeitigkeit konträrer Sichten das Theater auf unheimliche Weise neu.
"Dieser Ibsen trifft einen Nerv", schreibt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (11.10.2020). Aber: Ibsens "Gespenster"-Fluch liege "wie Patina auf der Physis bemerkbar. Und das nimmt die Spannung aus der Geschichte. Sie ist eigentlich zu Ende, bevor sie beginnt."
Corinna Kirchhoff "in Mateja Kolezniks glasklar erzählter Aufführung" dabei zuzusehen, wie sie "mit großer Genauigkeit, mit komplett unsentimentaler Einfühlung und enormer Könnerschaft das Charakterporträt einer klugen Frau" zeichne, "die die Zwänge und Lügen ihres Lebens bis ins letzte durchschaut, ohne sich von ihnen befreien zu können", sei beklemmend, findet Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (13.10.2020) "Und es ist ziemlich atemberaubend."
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Die Schauspielführung ist schmal und diszipliniert, ganz selten bricht jemand aus dem bedrückenden, affektvermeidenden Konversationston aus. Gesetz und Ordnung, Selbstkasteiung und Moral sind die Stützen der dortigen Gesellschaft. Wer noch eine Bestätigung gesucht hat, dass das Leben in bürgerlicher Enge und puritanischer Sinnesfeindlichkeit kein Ponyhof ist, der bekommt was er gesucht hat. Der Liebhaber der zeitlosen, vielschichtig-komplexen Ibsen-Charaktere geht hingegen eher leer aus. Die eigenartige Körperlichkeit des seelenkranken Oswald weckt zwar die Neugierde wohin sich die Figur noch entwickeln wird. Aber es bleibt im Großen und Ganzen bei diesem statischen Zeichen. Das Ende bricht dann ein klein wenig uns Pathetische aus. Alles in Allem eine konsequente Auslegung des Stoffes. Wenn auch eher konsequent in der Einengung als im Reichtum des Ausdruckes.
Welche Fragen die Regisseurin und das Berliner Ensemble an diesem Stück interessieren, bleibt unklar. In tiefschwarzer Ausweglosigkeit zuckt und leidet Familie Alving ihrem Zusammenbruch entgegen.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/10/09/gespenster-berliner-ensemble-theater-kritik/
„Wir alle sind Gespenster“ übertitelt die Dramaturgin Amely Joana Haag ihre Einführung zum Stück im Programmheft. Eine Verheißung, das die Inszenierung mich ansprechen, mir nahe, vielleicht zu nahe kommen wird. Es geht doch um die „Gespenster“, die Gespinste von Illusionen und Lebenslügen, aus denen wir unser Selbstbild basteln. „Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht“, heißt es in Kafkas Prozess.
Als das Stück beginnt, wird klar, dass die Lüge hier nur ein Reich der Vampire, der Untoten, der Wiedergänger in den Untergang stürzt. Die Inszenierung ist konsequent durchkomponiert, schauspielerisch und – angesichts der beständigen Kulissenschieberei – auch technisch professionell gemeistert. Das Bühnenbild ist ein kafkaeskes No-Exit-Labyrinth, durch das die Schauspieler einsam „geistern“. Allein die Ansprache, das Nahe-Kommen fehlt. Die Inszenierung ist zeitlos, sie hätte auch in der Hitler- oder Stalin-Zeit aufgeführt werden können, ohne anzustoßen. Immerhin, in Zeiten eher schlechter Stimmung wie jetzt zieht sie noch weiter runter.