Duell mit Nebengeräuschen

von Dieter Stoll

Nürnberg, 10. Oktober 2020. Die junge Idealistin namens Antigone will nichts als das Recht, den toten Bruder würdig zu bestatten. Der robuste Machthaber, ihr Onkel Kreon verbietet es mit dem Hinweis auf selbst erlassene, keineswegs unbegründete Gesetze: Das Volk hat unter den Folgen einer Epidemie gelitten, sucht Schuldige, brüllt nach Rache. Das undefinierte Gemeinwohl könnte gefährdet sein, die Freiheit des Einzelnen aber auch. Wer hat das Recht, wer die Moral zur Seite, und wo bleibt die Vernunft? "Dass Unvernunft das größte Übel ist", wird zum Schluss dieses Theaterabends ausdrücklich in die Debatte geworfen.

Ein elektrisiertes Volk

Der von Sophokles fixierte Grundsatz-Konflikt ist kaum noch lösbar, sobald Individualität und Staatsräson auf Gegenpositionen festgetackert sind, und das geht hier verflucht schnell. Im Programmheft-Interview hat es für Regisseur Andreas Kriegenburg "natürlich mit der Pandemie zu tun", dass es interessant ist, sich gerade jetzt mit "Antigone" zu beschäftigen. Er zuckt aber zurück beim Gedanken, die alten Griechen als Argumentationshilfe für Mundschutz-Debatten anzuzapfen. Und anders als bei seiner an gleicher Stelle mit gleicher Hauptdarstellerin (Pauline Kästner) locker im Geiste von Yasmina Reza aktualisierten Ibsen-"Nora" vom Vorjahr meidet Kriegenburg die Rutschpartie in die Gegenwart diesmal tatsächlich ausdrücklich.

Antigone 9612 560 c Konrad FerstererStaatskonflikt im Plattenbau: Michael Hochstrasser, Lisa Mies, Adeline Schebesch, Maximilian Pulst, Pauline Kästner, Anna Klimovitskaya, Pius Maria Cüppers, Amadeus Köhli © Konrad Fersterer

Im Kunst-Rahmen der von ihm selbst entworfenen Bühne (ein durchlässiges Raum-Objekt im schwebenden Plattenbau aus etwa fünfzig großen Holzflächen, sicher auch für "Madama Butterfly" einsetzbar) bringt die Konzentration auf die Ausschläge der beiden Gegenfiguren dem Chor steile Ergänzungsdramatik. Kriegenburg inszeniert ein Duell mit Nebengeräuschen. Das Volk umkreist die Kontrahenten im Live-Sound von Ächzen und Raunen, klopft rhythmisch Kieselsteine, krümmt den Rücken für stampfende Rituale und kann sich kaum zurückhalten vor Tatendrang. Es ist ständig elektrisiert, wie auf dem Sprung – wohin er auch führen mag.

Letzte Rettung: Kommunikation

Zunächst werden Gedanken geordnet, vor allem die der Zuschauer. Das Kollektiv der Erinnerungen entwirft im extra für die Aufführung entstandenen Prolog aus dem gelagerten Denken von fast 2500 Jahren das Phantom einer schemenhaft aktuellen Welt, in der "die ganze Gesellschaft um ihre Sprache ringt". Nicht unbedingt die Sprache des Sophokles, deren hoher Ton aus dem Mund der Schauspieler den ganzen Abend lang eindrucksvoll fremd, wenn nicht gar abweisend bleibt. Aber tatsächlich durchrüttelt der Appell zur Kommunikation, zum Denken und Sprechen in schlüssiger Reihenfolge als "letzte Chance, nicht verrückt zu werden" die Tragödie bis zum bitteren Ende. Antigone ist auf düster illuminierter Bühne schon regelrecht verloschen, als zwischen dem fadenscheinig geläuterten Herrscher und seinem Volk quer über die ganze Szene ein breiter Graben aufbricht. "Die Zukunft ist kein Mann" hallt es unvermittelt optimistisch aus der Kulisse. Spät eintreffendes Echo auf den lange vorher losgelassenen Patriarchen-Spruch von Kreon: "Ich wär kein Mann mehr, sie wär der Mann."

Sand im Geschichtsgetriebe

Das vorausgegangene Duell mobilisierte die Gegensätze der zwei Charaktere. Diese Antigone (Pauline Kästner vertieft sich geradezu autosuggestiv in ausgekostete Nuancen von Schmerz, verwächst mit diesem Tonfall allerdings zu sehr) bleibt immer bei sich selbst, ob sie in ihrer kleinen Sandburg den Traum der neuen Welt zwischen den Fingern rieseln lässt oder im Streit mit der Staatsmacht das Leben aufs Spiel setzt. Kreon hingegen ist eine tief gespaltene Persönlichkeit – wenn er, gespielt von Michael Hochstrasser, mit seinem Soldatenmantel für Momente die ganze Rolle abgibt. Oder, besonders eindrucksvoll: wenn Adeline Schebesch – eben noch im Chor hysterisch aufbrausend wie Marge Simpson – mit Text und Textil die weiche Seite des Tyrannen übernimmt und danach diese höhere Gewalt wieder zurück pendelt, als wäre nichts gewesen.

Antigone 0876 560 c Konrad FerstererAuf Sand gebettet: Pauline Kästner als Antigone © Konrad Fersterer

Von oben duscht Designer-Licht die Figuren, und Sand rieselt wie aus Körnerportionen der Geschichte auf die Köpfe herab. Sandfarben wie die Bühne sind auch die Kostüme von Andrea Schraad, gediegene Kostbarkeiten mit Flohmarkt-Charme. Ganz frei von Sand im Getriebe ist das ausgestellte Pathos des Abends allerdings auch nicht. Unangestrengt wirkt die strikte Ernsthaftigkeit nur bedingt, aber wenigstens ein unglücklicher Zufall verhalf der Premiere zu einem Lächeln. Wegen Erkrankung eines Darstellers musste Raphael Rubino kurzfristig die Rolle des Teiresias übernehmen. Er tat es den Umständen entsprechend wunderbar – und ist nun vermutlich bundesweit der erste "blinde Seher" mit Spickzettel.

Antigone
von Sophokles
Deutsch von Heinz Oliver Karbus
Regie und Bühne: Andreas Kriegenburg, Kostüme: Andrea Schraad, Licht: Frank Laubenheimer, Dramaturgie: Sascha Kölzow.
Mit: Pauline Kästner, Anna Klimovitskaya, Lisa Mies, Adeline Schebesch, Raphael Rubino, Michael Hochstrasser, Amadeus Köhli, Maximilian Pulst.
Premiere am 10. Oktober 2020
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.staatstheater-nuernberg.de

 

Kritikenrundschau

Pauline Kästner überzeuge mit einem fahl leuchtenden, großen, zerrissenen Frauenporträt, schreibt Wolf Ebersberger von den Nürnberger Nachrichten (Online: 11.10.2020). Auch Michael Hochstrasser bringt den Kritiker zum Schwärmen. "Kein Tyrann, kein Diktator, kein Machtmensch: ein durchaus vernünftiger, umgänglicher Mann, vielleicht gar weich im Herzen, sanft im Ton. Nie war Hochstrasser besser, vor allem am Ende, im Scheitern an einer Starrheit, die sowohl ihm wie auch Antigone zum Verhängnis wird." Warum Kriegenburg aber die zentrale Auseinandersetzung der beiden zwei Mal wiederholen lasse, erklärt sich dem Kritiker nicht. "Das kostet nur Zeit – und auch die zwei pausenlosen Stunden Spieldauer sind nicht durchgehend spannend." Auch die choreographischen Szenen leuchten Ebersberger nicht ein. Sehenswert sei diese düstere, erdig und sinnhaft verdichtete 'Antigone' aber allemal.

"Was sagt das Volk in Zeiten von Corona angesichts so manch abstruser Zahlenspiele und hirnrissiger Erlasse?", fragt Eva-Elisabeth Fischer in der Süddeutschen Zeitung (13.10.2020). "Wie ist es da um so etwas wie Eigenverantwortlichkeit bestellt?" Vor diesen Fragen sei "Antigone" das "Stück der Stunde, Ambivalenzen zu reflektieren und offen zu legen". Das werde von Kriegenburgs Inszenierung "glänzend" geleistet: "Kriegenburgs Argument ist die Vernunft. Verkörpert wird sie von der abwägenden Ismene."

Kommentare  
Antigone, Nürnberg: inhaltsleer
Ich stimme dem Verfasser zu. Nach einer großartigen Nora hat Herr Kriegenburg hier inhaltsloses Theater zum besten gegeben. Frau Kästner kann nicht an ihre Parade Rolle anknüpfen und die Leistung sehr schwach. Einzig Herr Hochstrasser war Lichtblick des Abends.
Antigone, Nürnberg: Erkenntnisgewinn gering!
www.cooltourist.de

Es ist was faul im Stadtstaat Theben: König Ödipus hat seinen Vater ermordet und mit seiner Mutter vier Kinder gezeugt. Zur Strafe schicken die Götter eine Seuche, Ödipus blendet sich selber und verlässt die Stadt. Seine beiden Söhne Eteokles und Polyneikes sollen als Doppelspit-ze mit Rotationsprinzip die Stadt regieren, was grundsätzlich schief geht und mit einem Krieg um die Stadt endet, bei dem beide getötet werden. Also muss der Onkel Kreon als Autokrat her, um wieder Ordnung nach Theben zu bringen. Eine seiner ersten Maßnahmen ist ein Bestattungsverbot für den Angreifer Polyneikes.
So flapsig kann man die Vorgeschichte zur Tragödie „Antigone“ formulieren, doch das ist nicht der Stil von Regisseur (und Bühnenbildner) Andreas Kriegenburg. Er lässt zunächst einen acht-köpfigen Chor in einer Art Gebetskreis mit Mundschutz und grober Khaki-Leinenkluft auf die verschattete Bühne treten, der, eingerahmt von den den Substantiven „Stille“ und „Schrei“, einen Prolog in gebundener Sprache vorträgt. Dazu rieselt beständig von oben Sand auf die Akteure; später wird dieser von Antigone als Grabbedeckung für ihren Bruder genutzt.
Danach die eigentliche Tragödie, jene dialogische Auseinandersetzung mit der Hybris eines Herrschers und dem Recht auf Widerstand. Die Szenerie bleibt gleich, die Seiten- und Hinter-wände bestehen aus instabilen Speerholz-Flächen, aus dem geheimnisvoll choreografierten Zombie-Chor lösen sich Einzelpersonen. Die berühmte Auseinandersetzung zwischen Kreon („Mich wird im Leben nie ein Weib regieren“) und Antigone („Mitlieben, nicht mithassen ist mein Teil“) wird gleich zweimal wiederholt - mit drei verschiedenen Kreons (Michael Hochstrasser, Adeline Schebesch, Amadeus Köhli): Erkenntnisgewinn gering!
Im Mittelpunkt der Inszenierung steht die Antigone von Pauline Kästner, doch im Gegensatz zu ihrer spektakulären Nora in der vergangenen Spielzeit, vermag sie dieser Figur außer verhärm-tem Leid, physischer Erschöpfung und inflationärer Emotion wenig mitzugeben. Viel präsenter wirkt da die konsensorientierte Ismene (Anna Klimovitskaya) - möglicherweise die neue Leitfi-gur bei einer Krisenbewältigung. Die politische Dimension des Stückes gerade in der Gegenwart schimmert nur an wenigen Stellen durch, eher entsteht der gleichförmige Eindruck eines Sand-kastenspiels mit Totentanz, erinnernd an manche Regiearbeiten von Ulrich Rasche (freilich oh-ne dessen gigantomanische Mechanik). Die pointierte Übersetzung des Textes durch Oliver Karbus, der vor langer Zeit in Nürnberg als Schauspieler und Regisseur reüssierte, fokussiert sich vor allem auf das aufklärerische Prinzip der Vernunft und auf eine Polemik gegen den Männlichkeitswahn. Das - zumindest - kann man in den Zeiten von Fake News und Trump gerne unterschreiben.
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