Kann der Intendant nur DDR?

von Christian Holtzhauer

14. Oktober 2020. Vor einigen Wochen erreichte mich eine Postkarte, die unsere Marketingabteilung zuvor in hoher Auflage an unsere Abonnent*innen verschickt hatte. Wir hatten angesichts der Corona-bedingten Theaterschließung in Windeseile eine Inszenierung von Goethes "Faust" als Live-Hörspiel für ein Autokino in Mannheim erarbeitet und dafür mit einem plakativen grafischen Motiv geworben: einer geballten Faust, die sich aus einem geöffneten Mund herausreckt. Diese Postkarte also kam zurück zu mir, versehen mit einem handschriftlichen Kommentar: "geschmacklos! Kann der Intendant nur DDR? Deshalb haben wir das Schauspiel gekündigt!"

"Den Osten kennt man ja"

Ich war belustigt, aber auch ein bisschen getroffen. Was an "Faust", an unserem Programm oder an unserer Ästhetik, bitteschön, war DDR? Oder sollte der Verweis auf mein Geburtsland nur dazu dienen, mich zu verletzen? Die Absender*in hatte glücklicherweise ihren Nachnamen auf die Karte geschrieben und über unsere Adressdatenbank bekam ich ihre Telefonnummer heraus. Ein freundlicher älterer Herr nahm meinen Anruf entgegen. Ich sagte ihm, wer ich sei und dass mich die kurze Botschaft auf der Postkarte verwundert hätte. Er war tatsächlich der Verfasser der fraglichen Zeilen und zeigte sich hoch erfreut, dass ich mich persönlich meldete. Nein, den "Faust" habe er nicht gesehen. Und die Inszenierungen, die er seit meinem Amtsantritt 2018 im Schauspiel des Nationaltheaters besucht habe, hätten mit der DDR auch nichts zu tun.

Autokino Holtzhauer u"Faust" im Mannheimer Autokino im April 2020 © Christian Holtzhauer

Er fand auch nicht alles schlecht, was wir so machten, aber insgesamt sei ihm das Schauspiel schon seit vielen Jahren zu modern, daher hätten seine Frau und er ihr gemischtes Abo gekündigt und gingen seither vor allem in die Oper. Bei dem Postkartenmotiv mit der geballten Faust habe er sich sofort an DDR-Propaganda erinnert gefühlt, und da er irgendwo gelesen habe, dass ich aus Weimar käme (dort hatte ich gearbeitet, bevor ich nach Mannheim wechselte), sei für ihn "alles klar" gewesen. "Den Osten kennt man ja", sagte er. Auch sei er nach dem Mauerfall mal dort gewesen. Er habe übrigens früher als Lehrer an einem Gymnasium in der Nähe von Mannheim unterrichtet, Latein und Geschichte, und außerdem längere Zeit im Ausland gelebt. Aha. Vor Pauschalurteilen, die Menschen auf ihre Herkunft reduzieren, schützte ihn diese Lebenserfahrung offenbar nicht.

Ohne Mauerfall keine Volksbühne

Kann ich nur DDR, mache ich tatsächlich DDR-Theater? Mir fällt es zwar schwer zu beschreiben, was eine DDR-Theaterästhetik überhaupt ausgemacht haben könnte oder worin sich das ostdeutsche und das westdeutsche Theater unterschieden, aber vielleicht prägt meine Ost-Vergangenheit meine Theaterarbeit ja mehr, als ich mir bisher eingestehen wollte?

Zum Zeitpunkt des Mauerfalls war ich 15. Abgesehen von ein paar Aufführungen im Theater der Freundschaft (dem heutigen Theater an der Parkaue) und später als Schüler im Deutschen Theater und im Berliner Ensemble hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt nur sehr wenig Theater gesehen. Meine eigentliche Theatersozialisation begann Mitte der 1990er Jahre. Ich wurde zuerst zum Theaterzuschauer und später zum Theatermacher vor allem durch das Theater, das durch den Zusammenbruch der DDR und die deutsche Vereinigung überhaupt erst entstehen konnte.

Ohne Mauerfall keine Volksbühne. Die Volksbühne, das war ja nicht nur der Ossi Frank Castorf, auch wenn er sicher bis vor kurzem ihr prominentestes Aushängeschild war und Generationen von Regisseur*innen bis heute nachhaltig prägt. Die Volksbühne war anders als alle Theater, die ich kannte. Sie war ein Theater, das in den ersten Jahren der Castorf-Intendanz die Kritikerinnen vor Wut schäumen ließ und in das meine Eltern niemals gegangen wären (das machte sie besonders attraktiv). Sie war ein Gravitationszentrum, an dem Ost und West, Vergangenheit und Gegenwart mit einem großen künstlerischen Knall aufeinander trafen: Castorf auf Marthaler auf Kresnik auf Schlingensief auf Pollesch auf Lilienthal

Wo man herkam schien mir damals egal

Ohne den Mauerfall und die darauf in Windeseile folgende ökonomische Abwicklung der DDR wäre aber auch nicht jene im weitesten Sinne freie Szene entstanden, die sich nicht länger in ihren Hinterhoftheatern verbarrikadierte, sondern lustvoll neue Räume eroberte, künstlerische Genregrenzen einriss, Sprach- und Ländergrenzen spielend überwand und ästhetisch oftmals neue Maßstäbe setzte. Die politischen und gesellschaftlichen Konflikte rund um den deutschen Einigungsprozess sowie der enorme Leerstand und die günstigen Mieten und Lebenshaltungskosten machten Berlin in den 1990er Jahren zu einer idealen Spielwiese für Künstler*innen aus allen Teilen der Welt. Neue Kommunikationsmöglichkeiten und der Durchbruch des Billigflugverkehrs beschleunigten diesen Prozess noch.

Karte Holtzhauer u"Kann der Intendant nur DDR?" © Christian Holtzhauer

Die meisten Protagonist*innen jener Entwicklung stammten aus dem Westen, wenn nicht gar aus Übersee, doch wo man herkam, schien mir, der selbst nichts zu verlieren, sondern der im Gegenteil durch den Mauerfall ein unvorstellbares Maß an persönlicher Freiheit gewonnen hatte, damals egal. Zum Ossi wurde ich erst, als ich älter wurde - und in den Westen zog.

Von den 30 Jahren seit der Wiedervereinigung habe ich mittlerweile zehn in Baden-Württemberg verbracht. Als ich Anfang 2004 für ein Vorstellungsgespräch das erste Mal nach Stuttgart reiste, war ich verblüfft. Mauerfall, Vereinigung, der rasante Umbau der Gesellschaft, wie er vor allem in Berlin-Mitte stattgefunden hatte – all das schien am deutschen Südwesten zumindest auf den ersten Blick spurlos vorübergezogen zu sein. Meine Erfahrungen und meine Erinnerungen, die sich in Berlin immer auch an konkreten Orten festmachen ließen, interessierten dort niemanden. Warum auch.

Wie man's macht

Mich erstaunte damals nur (und erstaunt heute noch immer), wie sehr der alte Westen mit sich im Reinen zu sein schien. Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR war die Gesellschaft komplett durcheinander gewirbelt worden, alte Netzwerke waren zerrissen, neue hatten sich formiert, und auch 30 Jahre nach der Wende habe ich den Eindruck, dass das gesellschaftliche Gefüge auf dem Gebiet der untergegangenen DDR durchlässiger ist. Im Südwesten dagegen erscheint mir Vieles noch an seinem alten Platz: Wer schon früher zu den tonangebenden sozialen Schichten gehörte, der tut es immer noch. Man muss die unausgesprochenen Codes kennen, wenn man dazu gehören will, muss wissen, in welchen Vierteln man wohnt, auf welche Schulen man seine Kinder schickt, in welche Kreisen man verkehrt und in welchen besser nicht. "So wie wir es machen (und zwar schon immer), so ist es richtig", scheint ein ziemlich weit verbreitetes und oftmals unausgesprochenes Grundverständnis zu lauten. Mir dagegen, der als Teenager erlebt hat, wie Menschen, die eben noch behauptet hatten, alles richtig zu machen und besser zu wissen, von einem Tag auf den anderen nicht mehr ernst zu nehmen waren, ist diese Selbstsicherheit irgendwie nicht gegeben.

Ich habe gern in Stuttgart gelebt und gearbeitet. Mit Hasko Weber als Intendant des Staatsschauspiels, Jörg Bochow als Chefdramaturg und vielen weiteren Kolleg*innen, die wie ich DDR-sozialisiert waren, war hier tatsächlich viel gelebte Ost-Erfahrung versammelt. Waren wir deshalb ein Ost-Theater? Vielleicht wurden wir gar nicht so selten von außen auch so wahrgenommen, womöglich sogar als als eine Art Fremdkörper, gespürt habe ich das allerdings kaum. Ich erinnere mich jedoch an eine Zuschauerin, die mich 2007, als wir einen Themenschwerpunkt anlässlich des 30. Jahrestags des "Deutschen Herbsts" veranstalteten, wütend zur Rede stellte, was wir Ostdeutsche uns erlauben würden, sie als Stuttgarterin (stellvertretend für das gesamte Stuttgarter Publikum) über ihre Geschichte belehren zu wollen. Was wüssten wir schon darüber. Sie wäre schließlich dabei gewesen, wir dagegen nicht. Mein Argument, dass es uns nicht darum gehe, jemanden zu belehren, sondern dass wir lediglich zeigen wollten, wie Künstler*innen heute auf den linken Terrorismus und die Ereignisse in Stuttgart-Stammheim blicken, konnte sie nicht überzeugen. Der Versuchung, mit der Gegenfrage zu kontern, warum so viele Westdeutsche glauben, über das Leben in der DDR urteilen zu dürfen, habe ich damals widerstanden. Weil ich persönlich im Übrigen auch überzeugt davon bin, dass man nicht immer selbst dabei gewesen sein muss, um sich ein Bild machen zu können.

Wem bedeutet die Jahreszahl 1917 was?

Ich erinnere mich auch an eine Inszenierung von Michail Bulgakows Stück Die Flucht 2009. Das Stück spielt im russischen Bürgerkrieg in unmittelbarer Folge der Revolution. Der historische Kontext erschien uns erklärungsbedürftig, weshalb ich als für diese Produktion verantwortlicher Dramaturg regelmäßig Einführungen und Nachgespräche rund um die Aufführung anbot. Ich erzählte dann von den Roten und den Weißen, von Panzerzug und Panzerkreuzer, von Eisenbahn und Elektrifizierung und immer wieder von 1917 und der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution. Irgendwann wurde mir klar, dass diese Schlagworte in den Köpfen meines Publikums offensichtlich nicht dieselben Reflexe auslösten wie bei mir. Für mich, der immerhin zehn Jahre lang eine real-sozialistische Bildungs- und Erziehungsanstalt besucht hatte, war die Jahreszahl 1917 einer der wichtigsten historischen Meilensteine und vor allem der zentrale Gegenstand der über die Jahre zwar hohl gewordenen, aber dennoch ja sehr realen sozialistischen Propaganda und Folklore. 1917, Russland, Kommunismus und alles, was danach geschah, bedeuteten der Mehrzahl meiner Stuttgarter Zuhörer*innen jedoch – nichts.

Flucht 560 Sonia Rothweiler u"Die Flucht" 2009 in Stuttgart: Florian von Manteuffel, Michael Stiller, Till Wonka, Lisa Bitter © Sonia Rothweiler

Die Unterschiedlichkeit von Erfahrungen und Erwartungen, die an diesem Beispiel deutlich wird, die Vertrautheit mit oder das Nicht-Einordnen-Können von Zeichen und den mit ihnen verknüpften Bedeutungen stellt das Theater vor eine ziemliche Herausforderung. Sicher, jede einzelne Zuschauer*in macht sich ihren eigenen Reim auf das, was auf der Bühne geschieht, und doch andressiert uns das Theater immer als Gruppe, als Publikum.

In Stuttgart stellte ich fest, dass ich offensichtlich anders sozialisiert war als ein nicht unerheblicher Teil unseres Publikums. Das war, was etwa Prägungen durch popkulturelle Ereignisse anbelangt, oft einfach nur eine Altersfrage. In Bezug auf insbesondere meine Schullaufbahn sowie Wende, Wiedervereinigung und deren Auswirkungen auf mein unmittelbares Umfeld unterschieden sich meine Erfahrungen jedoch deutlich von denjenigen der Menschen, mit denen ich jetzt zu tun hatte.

Wie man wird, wer man ist

Die Frage, wie man wird, wer man ist, welche Ereignisse und Erfahrungen unsere Identität - sowohl die individuelle wie auch die kollektive – formen, rückte in den vergangenen Jahren zunehmend ins Zentrum meiner künstlerischen Arbeit. Das war beim Kunstfest Weimar so, wo ich aufgrund meiner DDR-Sozialisation glaubte, für die Empfindlichkeiten und Befindlichkeiten meines Publikums besonders empfänglich zu sein (keine Ahnung, ob das stimmte), und das ist auch hier in Mannheim so.

Ich halte die Frage nach der Bedeutung der Herkunft für die Gegenwart keineswegs für rückwärtsgewandt. Im Gegenteil. Wir erleben gerade in vielen Bereichen ein Aufbegehren gegen eine Gesellschaft, die – oftmals unausgesprochen – unter dem Verweis auf die Herkunft ganze Gruppen von Individuen auf bestimmte Plätze zu verweisen versucht. Wir wissen, dass es sehr wohl eine Rolle spielt, aus welchem sozialen Milieu wir stammen, wo unsere Eltern herkommen oder welche Muttersprache wir sprechen. Wir beklagen oftmals lautstark den Verlust des Gemeinsamen – also dessen, worauf sich alle berufen können, weil es alle auch so und nicht anders erlebt haben – und wissen doch, dass dieses Gemeinsame nicht länger aus einer von allen geteilten Vergangenheit entstehen kann. Womöglich ist es meine eigene Differenzerfahrung – die Erfahrung, eben anders geprägt worden zu sein als die Mehrzahl der Menschen um mich herum – die mich antreibt, nach dem zu suchen, was uns zu dem gemacht hat, wer oder was wir sind und nach dem, was uns künftig verbinden könnte. Vielleicht ist dieses Erkenntnisinteresse eine spezifisch ostdeutsche Art, Theater zu machen. Dann kann ich eben nur DDR.

Der pensionierte Gymnasiallehrer, den unsere "Faust"-Symbolik so erbost hatte, schickte mir übrigens ein paar Tage nach unserem Telefonat erneut eine Postkarte und bedankte sich für das offene Gespräch und das Angebot zur Auseinandersetzung. Er freue sich auf künftige Schauspielaufführungen und auf die persönliche Begegnung mit mir.

 

Holtzhauer Christian c Thomas MuellerChristian Holtzhauer, geboren 1974 in Leipzig und aufgewachsen ist Ost-Berlin, studierte Musik- und Theaterwissenschaften in Berlin und Toronto. Von 2001 bis 2004 arbeitete er als Dramaturg an den Berliner Sophiensaelen und von 2005 bis 2013 am Schauspiel Stuttgart. 2014 übernahm er die Leitung des Kunstfests Weimar. Seit 2018 ist er Schauspielintendant am Nationaltheater Mannheim.

 

Alle bisher erschienen Beiträge der Serie: 

1. Oktober 2020: Auftakt  von Georg Kasch – Die Nackten, die Westler und der Osten
3. Oktober 2020: Teil 1 – Wie der Westler Christoph Nix ans (Ost)Berliner Ensemble kam
5. Oktober 2020: Teil 2 – Der Theaterkritiker Thomas Irmer über den Ost-West-Riss
7. Oktober 2020: Teil 3 – Reinhard Göber über das legendäre Parchimer Theater der Wendezeit
8. Oktober 2020: Teil 4 – Die Dramatikerin und Regisseurin Juliane Kann fragt: Ist das Theater gentrifziert?