Tells Leute

von Frauke Adrians

15. Oktober 2020. Meine erste Begegnung mit dem "Ost-Theater" hatte ich zu Hause im Ruhrgebiet. Das Ensemble des Staatstheaters Schwerin war auf Gastspielreise, es muss 1990 gewesen sein, und spielte "Wilhelm Tell" im fernen Westen. Wahrscheinlich im Theater Duisburg, so genau weiß ich es nicht mehr. Was ich noch weiß: wie sehr mich dieser "Tell" mitriss. Dass in einem ostinszenierten Schiller die gerade erst über die reale Bühne gegangene Revolution mitspielen musste, das erwarteten wir Wessis im Saal selbstverständlich, unbedingt. Aber diese Inszenierung machte plötzlich nachempfindbar, wieviel Mut, Leidensdruck, Humor, Verschworenheit und Durchhaltevermögen zu einer Revolution gehören.

Was die Kirchen konnten, das konnten auch die Theater

Das war kein "Wir machen mal ne Montagsdemo, und dann ist der Geßler weg"-Tell und auch kein Heroen-Tell, das war ein glaubhaftes Ringen, ein Kampf auch mit den eigenen Ängsten. Besonders erinnere ich mich an zweierlei: dass das "einig Volk von Brüdern" zu seiner konspirativen Versammlung viele verschiedene Stühle mitbrachte – wenn alle für dasselbe Ziel kämpfen, müssen sie noch lange nicht zum uniformen Revolutionsheer werden. Und dass der "Tell"-Darsteller den Satz mit der hohlen Gasse runterleierte wie ein widerwillig auswendig gelerntes Gedicht. Die Schillerspruch-Evergreens aus dem "Tell" mussten zwar sein, waren eine Pflichtübung, hatten aber wenig zu tun mit dem, um was es hier eigentlich ging.

Erst viel später erfuhr ich, dass ich da nicht eine ostdeutsche Regiearbeit unter vielen gesehen hatte, sondern den Tell – Christoph Schroths "Wilhelm Tell", der in der DDR-Dämmerung als Aufruf zum Aufbegehren auf offener Bühne verstanden wurde und die Politprominenz beim Gastspiel in der Berliner Volksbühne im Oktober 1989 entsprechend empört haben soll. Was die Kirchen konnten, das konnten auch die Theater: Diskussions- und Schutzräume sein, Widerstand üben und so Träger der Revolution werden.

Ensembles und Orchester bringen ein bisschen Weltläufigkeit mit

1993 ging ich für ein Volontariatsjahr zur Thüringer Allgemeinen nach Erfurt, 1999, nach dem Diplom, kam ich auf Dauer wieder – und diesmal endlich ins Ressort Feuilleton. Aber ein Theater wie den Schweriner "Tell" fand ich in den Jahren 2000 ff. nicht mehr. Das lag zum einen daran, dass sich revolutionäres Brodeln auch auf der Theaterbühne nicht ewig fortschreiben lässt. Zum anderem lag es auch am Personal. Die Intendanten der Thüringer Bühnen waren inzwischen Wessis oder Schweizer. Ausnahmen: Axel Vornam (Rudolstadt) und Christine Mielitz (Meiningen). Sie war ein Star unter den Thüringer Intendanten – aber nicht wegen ihrer Ost-Herkunft, auch nicht so sehr als einzige Frau in der Theaterchefriege, sondern weil sie 2001 den kompletten "Ring des Nibelungen" auf die traditionsreiche, aber eher kleine Meininger Bühne wuchtete. Im Jahr darauf verließ sie Thüringen und ging nach Dortmund. Ihr Nachfolger, ein Schweizer, spielte das Meininger Theater zunehmend leer und blieb nicht lange.

TheaterErfurt 560 LutzEdelhoff uKontraste: Das Theater Erfurt, also die Neue Oper ... © Lutz Edelhoff

Es war nicht so, dass die Thüringer Bühnen nicht auch zehn Jahre nach der Wiedervereinigung interessantes, engagiertes, "relevantes" Theater machten; das gilt bis heute. Nur hätte ich das Theater Ost, seine Themen, seine Mittel, nicht mehr vom Theater West unterscheiden können. Auf die Idee, den "Nabucco"-Gefangenenchor oder die "Fidelio"-Kerkerinsassen in orangefarbene Anzüge zu stecken, kamen Regisseure nach 2001 in Ost wie in West. Auf ihre neue Ost-Heimat und auf bühnentaugliche "Ost-West-Probleme" blickten die neuen Intendanten aus West-Sicht, genau wie ich. Regisseure und Ensembles kamen aus Ost, West und zunehmend auch aus vielen anderen Ländern, und das tat Thüringen gut, fand ich. Zu den vielen Vorzügen eines Theaterhauses gerade in "Provinz"-Städten gehört ja, dass Ensembles und Orchester ein bisschen Weltläufigkeit in traditionell eher gleichförmige Gesellschaften bringen. Vor 20 Jahren jedenfalls empfand ich noch deutlich, dass beispielsweise die spanisch-brasilianisch-japanisch-ungarische Ballettkompanie von Nordhausen und die zunehmend international besetzten Orchester überall im Land einiges dazu beitrugen, den Blick der Oststadtgesellschaft zu weiten.

Jetzt nicht auch noch das Theater!

Dass diese Ensembles nicht als Fremdkörper empfunden wurden und nicht als Luxus, wurde 2006 deutlich, als es in den Theater- und Orchesterstädten Demonstrationen gegen die Pläne der Landesregierung gab, mehrere Orchester aufzulösen und mehrere Theater zu reinen Bespielhäusern zu machen. Vielleicht schwang bei einigen Protestierenden das Gefühl mit, dass ihnen seit der Wende schon so vieles weggenommen worden sei: der Betrieb, der Job, das "Kollektiv", der wenig geliebte, aber gewohnte Staat – jetzt nicht auch noch das Theater! Aber wenn ich Demonstranten und Unterschriftensammler interviewte, begegnete ich immer auch einem Bildungs- und Kulturbürgersinn, den die DDR in 40 Jahren nicht kleingekriegt hatte, und einem Stolz auf "unser!!! Theater und unsere!!! Musiker", der nicht zu dem westlichen Vorurteil passte, die DDR-Menschen seien ja alle immer nur gezwungenermaßen mit der Arbeitsbrigade ins Theater geschlurft.

Schauspielhaus Erfurt MichaelSander wiki u... und die Ruine des Schauspielhauses Erfurt © Michael Sander / Wikipedia

Auch wenn der geplante Kahlschlag 2006/2007 ausblieb: Sparten wurden auch schon vorher abgewickelt, Orchester aufgelöst oder fusioniert. 2003 eröffnete Erfurt sein neues Theatergebäude. Die Missgunst, mit der dieser Schritt von Weimar aus kommentiert wurde – die beiden Städte sind einander in vergleichbarer Abneigung verbunden wie Köln und Düsseldorf –, fand ich peinlich und deplatziert. Aber dass die Landeshauptstadt pünktlich zur Einweihung der Neuen Oper Erfurt ihr Schauspiel schloss, war viel schlimmer. Bis heute ist Erfurt eine Landeshauptstadt ohne Sprechtheater; ein Unding. Der Verlust wird auch nicht durch das feste Kabarettensemble Die Arche aufgewogen, das es seit DDR-Zeiten in Erfurt gibt. 1993/94 ging ich mehrfach hin. Was soll ich sagen: Ich konnte über die Kabarettprogramme, die in meinen Ohren deutlich "DDR-mäßiger" klangen als das Schauspiel in Erfurt oder Weimar, nicht ein einziges Mal lachen. Die Pointen fand ich entweder zotig oder, wenn sie politisch sein sollten, so verbrämt, dass ich sie kaum als solche erkannte.

Problemfall: Kabarett

Auch eine Lesung des von meinen Thüringer Allgemeine-Kollegen hochgeschätzten Peter Ensikat 2010 war für mich enttäuschend – und ziemlich verwirrend: Ich war im ausverkauften Audimax der Erfurter PH umgeben von Menschen, die eine wissende Lachgemeinschaft bildeten, und konnte über Ensikats Anspielungen, die alle anderen zu Begeisterungsstürmen hinrissen, nicht mal grinsen. Das Humorunverständnis war gegenseitig: Meinen Ost-Kollegen waren West-Kabarettisten wie Volker Pispers oder Hagen Rether viel zu brachial. In der DDR war man es gewohnt, noch feinste an der Zensur vorbeigemogelte Andeutungen zu erspüren und zu interpretieren, oft auch zu überinterpretieren. Mich hingegen langweilten Kabarettisten, die nicht deutlich aussprachen, worum es ihnen ging. Immerhin konnten wir uns alle auf Dieter Hildebrandt einigen. Meinen Kollegen gefiel, wie er Sätze andeutungsreich verstotterte und nicht zu Ende brachte; mir gefiel, dass die Aussage dennoch unzweideutig war.

Die SchicksalssinfonieRudolstadt2010 560 PeterScholz uOrchesterzwist in Rudolstadt: "Die Schicksalssinfonie" 2010 © Peter Scholz

Für den Humor gilt 30 Jahre nach der Wiedervereinigung wohl das Gleiche wie fürs Theater: Falls es noch Unterschiede gibt, sind sie nicht gravierend – und auf jeden Fall eher reizvoll als irritierend. Zehn Jahre her ist es übrigens, dass Steffen Mensching und Michael Kliefert am Theater Rudolstadt ein herausragendes Stück für Schauspieler und Orchestermusiker zur Uraufführung brachten, "Die Schicksalssinfonie". Es handelt in fröhlicher Verzweiflung von der immer noch nicht abgewendeten Gefahr weiterer Orchester-Auflösungen. Schön wär’s, wir könnten dieses Kapitel endlich schließen.

 

adrians kleinFrauke Adrians, geboren 1971 in Mülheim an der Ruhr, studierte Journalistik und Geschichte in Dortmund. Sie war 15 Jahre lang Redakteurin bei der Thüringer Allgemeinen und ist heute Redakteurin der Zeitschrift "das Orchester".

 

Alle bisher erschienen Beiträge der Serie: 

Einführung ins Thema von Georg Kasch – Die Nackten, die Westler und der Osten
Teil 1 – Wie der Westler Christoph Nix ans (Ost)Berliner Ensemble kam
Teil 2 – Der Theaterkritiker Thomas Irmer über den Ost-West-Riss
Teil 3 – Reinhard Göber über das legendäre Parchimer Theater der Wendezeit
Teil 4 – Ist das Theater gentrifiziert? fragt Dramatikerin + Regisseurin Juliane Kann
Teil 5 – Kann der Intendant nur DDR? von Christian Holtzhauer, Intendant in Mannheim