Die Orestie - Georg Schmiedleitner macht Aischylos' Trilogie zu einer Angelegenheit für alle
Zwischen Blut und Badelatschen
von Georg Kasch
Nürnberg, 11. Oktober 2008. Merkwürdig, dieses "DAS GEHT EUCH ALLE AN", das der jugendliche Chor zu Beginn an die hintere Bühnenwand sprüht. Sollte Theater nicht immer alle angehen? Und versteht sich das nicht von selbst bei der "Orestie" des Aischylos, dieser legendenhaften Geburt der europäischen Demokratie aus blutigem Krieg und Familienmord?
Michael Thalheimer hat das vor zwei Jahren nicht so plakativ auf die Bühne seiner viel diskutierten Berliner Zwei-Stunden-Orestie geschrieben, diese Botschaft aber mit orgelnder Chorgewalt auf die Zuschauer einprasseln lassen. Georg Schmiedleitner, Dauergast am Schauspiel des Staatstheaters Nürnberg, zitiert in der Ausweichspielstätte Tafelhalle kraftvolle Momente daraus: Die blutüberströmten Köpfe, aus denen wild die Augen blicken, der Chor, der in seiner Suada bei "TUN LEIDEN LERNEN" in der Da-Capo-Schleife hängen bleibt, die Psycho-Ticks der Handelnden.
Doch greift er immer tiefer in die theatrale Wunderkiste und erzählt mit weiteren Versatzstücken die "Orestie" zwischen Pathos und Parodie, Empathie und Ironie so spannend, als läse und sähe man sie (trotz Déjà-vu-Erlebnissen) zum ersten Mal.
Am Anfang ist das Melodrama
Das Volk von Argos ist jung, besteht aus autonomen Aggro-Kids und steht im Dauerregen. Unter den Chorführern Julia Bartolome und Marco Steeger bauen sich die jungen Erwachsenen vom Theaterjugendclub des Staatstheaters vor der Nebelmaschine oder dem Publikum in immer neuen Formationen auf, um rhythmisch und kraftvoll ihre Wut hinauszuschreien. Klytaimnestra, bei Elke Wollmann zunächst ein ziemlich heruntergekommenes blondes Gift, nimmt den Gatten am Ärmel, verkauft dem Publikum den kriegstraumatisierten Agamemnon als Helden und ordnet sich dem Macho zum Schein unter.
Dazu wabern Suspense- und Mystery-Musik oder griechische Folklore, begleiten Hardrock-Gitarrenriffs Agamenons Auftritt, der die erste Publikumsreihe leutselig mit Handschlag begrüßt und Sprachaussetzer mit Gebrüll überspielt. Schmiedleitners Melodram-Dramaturgie geht auf: Bei so viel Machoekel, bei so viel Mutterleid in der Iphigenie-Erzählung sind die Zuschauer-Sympathien zunächst klar verteilt.
Dann splattert es
Das ändert sich im zweiten Teil rasant, wenn sich Felix Axel Preißlers Orestes und Julia Bartolomes Elektra im Wald der liliengeschmückten Hängemikrofone suchen, finden und vor Grabkerzen trauern, während der Chor (Jutta Richter-Haaser zwischen bitterem Greis und Jugendtrotz) die beiden kühl diszipliniert und sich Vamp Klyti den Weg auf die Bühne mit einem kräftigen Messerschnitt durch die Stoffwand bahnt – Johann Jakob Bachofens Entdeckung des "Mutterrechts" und Freud lassen grüßen.
Kein Wunder jedenfalls, dass sie und Aigisthos (Thomas Nunners dickbäuchiger Debiler ist eine grandiose Steigerung seines Agamemnons) splatternd mit einem Schnappmesser hingerichtet werden. Die Amme ist mit dem Mikro ganz nah an der todesröchelnden Klytaimnestra.
Und schließlich: ein Wahl-Spiel
Von dieser durchaus amüsanten Blutrunst bleiben in der TV-kompatiblen Demokratie-Farce des dritten Teils nur noch die Erynnien als putzige, vor allem beleidigte Zombies und ein bibbernder Orestes übrig. Marco Steegers Apollon trägt als Gott mit Siegerlächeln wie seine Schwester Gott-Weiß und wechselt, als er sich bei seinem Schützling einsaut, einfach das Jackett. Der siegesgrinsende Apollon und Julia Bartolomes elegante Garbo-Athene halten das Wahl-Spiel souverän an den Fäden: Nachdem im Publikum die "Stimmsteine" eingesammelt werden, die es in der Pause erhalten hatte, zählt Athene nicht nach, sondern fühlt wie ein Medium, dass beide Haufen gleich groß sind, ist verwirrt, mauschelt mit Apollon.
"Im Zweifel für den Angeklagten", na klar – aber nur, weil es ihr gerade in den Kram passt. Jetzt wird sie selbst zur Agitatorin, besticht die Erinyen, die sich gleich zivilisieren und ihre Kleidung richten, mit Pfründen, bevor die großkoalitionäre Versöhnung der Parteien mit Händeschütteln, Umarmungen und Dauerlächeln besiegelt wird. Nur der gebeutelte Michel-Orestes, für den sich plötzlich niemand mehr interessiert, blickt sie und uns verwirrt und verständnislos an.
Dieses Theater geht an – mit oft starken, detailreichen Bildern (Papierschiffchen auf den Regenpfützen, Asche im Wind, ausgestellten Leichen zwischen Inquisition und Abu Ghuraib), einem in Atem haltenden Tempo (trotz der vier Stunden Dauer), vor allem aber mit einer beeindruckenden Spielwut. Bei der nächsten Bundestagsdebatte lächelt ganz sicher auch Bartolomes Athene sybellinisch von einer Hinterbank.
Die Orestie
von Aischylos. Übersetzt von Peter Stein
Regie: Georg Schmiedleitner, Bühne: Stefan Brandtmayr, Kostüme: Cornelia Kraske, Musik: Sebastian Weber.
Mit: Julia Bartolome, Heimo Essl, Tanja Kübler, Thomas Nunner, Felix Axel Preißler, Jutta Richter-Haaser, Marco Steeger, Elke Wollmann sowie 16 jugendliche Choristen.
www.staatstheater-nuernberg.de
Weitere Inszenierungen der Orestie: von Roger Vontobel in Essen, von Sandrine Hutinet in Karlsruhe, von Lars-Ole Walburg in Düsseldorf, von Markus Heinzelmann in Jena, von Michael Thalheimer in Berlin und von Wolfgang Engel in Leipzig.
Kritikenrundschau
"Eine gewichtige und dabei federleichte Aufführung ist geglückt", urteilt Dieter Stoll in der Abendzeitung (13.10.2008) über Georg Schmiedleitners Nürnberger "Orestie"-Inszenierung. Alles werde nah am Original entwickelt und an "starken Sinn-Bildern" entlang geführt. Die Bühnenbilder Stefan Brandtmayrs seien ein "Sammelplatz für die Bündelung vieler Eindrücke", und der "an- und aufregende Umgang mit allen technischen Möglichkeiten der Tafelhalle ist die Basis, auf der die Entfaltung des hier eindeutig höchstklassigen Schauspiel-Ensembles möglich wird".
Einen "langen und zum größten Teil faszinierenden Theaterabend" hat Steffen Radlmaier von den Nürnberger Nachrichten (13.10.2008) gesehen, einen "großen, mutigen Wurf". Zwei wesentliche Pluspunkte der Inszenierung seien: die wunderbar zeitgemäße Übersetzung von Peter Stein und "ein genialer Regie-Einfall von Schmiedleitner, der das Stück nicht nur radikal gekürzt, sondern auch die problematische Rolle des Chors ganz neu interpretiert hat: In jedem der drei Teile tritt der Chor in anderer Form und Funktion auf". Bewundernswert seien nicht nur "Schmiedleitners genaue Sprachregie, sondern auch sein Gespür für irritierende Rätselbilder, die er sparsam, aber wirkungsvoll einsetzt. Die Spannungskurve steigt die ganze Zeit an, die Zuschauer können sich nicht wegducken, sie erleben in der Tafelhalle eine ungeheuerliche Familientragödie hautnah bis zur Schmerzgrenze."
In der Nürnberger Zeitung (13.10.2008) moniert Hans-Peter Klatt, dass der Boden der erst kürzlich renovierten Tafelhalle abgewetzt sei, da "die Schauspieler schon bei den Proben Sandpapier unter ihre Schuhe geklebt hatten", damit aber "nicht nur auf der Bühne, sondern im ganzen Haus" herumgelaufen seien. Der Besuch der "Orestie" lohne aber "in vielerlei Hinsicht schon. Die Mehrzahl der Darsteller (...) ist großartig, die Inszenierung eindrucksvoll mit schauerlichen Toneffekten. Außerdem bekommt man vier Stunden Theater für sein Geld. Dazu die Erkenntnis, dass Gewalt immer wieder nur Gewalt gebiert, dass Rache der falsche Weg ist. Aber dies zeigen auch andere, modernere Stücke, in denen die Darsteller tatsächlich miteinander spielen und nicht nach altgriechischer Manier stundenlang ins Publikum deklamieren ..."
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