Von obendraußen im Hochwald her

von Janis El-Bira

Berlin, 21. Oktober 2020. Wenn es dämmert auf der Bühne, erreicht dieser Abend Handke-Terrain. Dort, wo es knirscht und rauscht und keiner dem Kenner einen Gifthäubling für ein Stockschwämmchen vormachen kann. Wo kein Höckchen dem Stöckchen gleicht und die "Alleinspieler" ihre Gänge tun. Im Wald also, wo sonst, wird der Knabe Zdeněk Adamec, Jahre bevor er sich auf dem Prager Wenzelsplatz mit Benzin übergießen und anzünden sollte, von der Mutter allein gelassen. Fast einen ganzen Tag lang, so berichtet es nun die Schauspielerin Lorena Handschin mit bassem Staunen, ernährte er sich dort von Blaubeeren, bis die Mutter im letzten Sonnenlicht doch zurückgekehrt sei. Keinen Moment lang habe Zdeněk sie vermisst an diesem "Schatzort", den er viel später nur ein einziges Mal noch einem besonderen Menschen zeigen sollte. Als dieser "Zweite" ungerührt blieb, sei auch Zdeněk nie wieder an jenen Ort gepilgert: "Was ihm geblieben ist von seinem Angezogenwerden durch die Lichtung obendraußen im Hochwald, war einzig die Scham."

Mit Sphärenklängen und Dimmereffekten

Programmatischer wird es nicht in diesem jüngsten Stück von Peter Handke, das nach der Uraufführung bei den Salzburger Festspielen nun seine deutsche Erstaufführung erlebt. Und programmatischer wird es erst recht nicht in Jossi Wielers Inszenierung, die im Moment dieser Erzählung mit Sphärenklängen und Dimmereffekten klarmacht, dass wir uns dem Kern der Sache nähern. Bis dahin nämlich war dieser so vage geblieben wie die Figur, um die es dem Titel nach geht. Aus Protest am Zustand der Welt hatte sich Zdeněk Adamec im Jahr 2003, gerade 18jährig, in einem weltweit beachteten Suizidfall öffentlich in Brand gesetzt. Ein Opfer, dessen Dimension die Vorstellbarkeit übersteigt. Und ein Rätsel, dem Handkes kleine Bühnenschar in diesem wunderlichen Text umwegreich nachsinniert.

ZdenekAdamec2 3000 Arno Declair uZwischen Säulenheiligen: Marcel Kohler, Linn Reusse, Lorena Handschin, Felix Goeser, Regine Zimmermann, Bernd Moss © Arno Declair

Bei Wieler sind das sechs Musiker*innen, deren Musiker*innensein für den von der Opernbühne zum Schauspiel zurückgekehrten Regisseur erstaunlich wenig zur Sache tut. Bühnenbildner Jens Kilian hat um sie herum ein angedeutetes Bahnhofscafé mit Jukebox gebaut, dessen Wände mit den lebensgroßen Ikonen stilisierter, weiblicher Heiliger bedeckt sind. Dazwischen wird wortreich und so abstandssicher wie man es sich nur vorstellen, aber wirklich nicht wünschen könnte, aneinander vorbeigestochert.

Zdeněks Schicksal und Biographie werden erwogen, kontextualisiert, herbeispekuliert. Stammte er aus einer böhmischen Kreuzfahrerfamilie? Wie war er im Fußball, wer waren seine Eltern? Und was treibt all diese Menschen da draußen eigentlich zu jenen "seltsamen neuen Spielen" und "Scheinaktivitäten", wenn sie in ihre Handys plappern und im Leeren fuchteln? Es kalauert ("Adamec, der Steinmetz aus Humpolec"), betet und grübelt.

Meister im Sublimieren kleiner Schönheiten

Jossi Wieler macht aus diesem verkappten Konversationsstück zwar ein reichlich fußlahmes Stehcafé, dessen ästhetischer Bewegungsradius ungefähr dem jener Säulenheiliger an den Wänden entspricht. Aber der Text ist gut verteilt, rhythmisiert sich in den besten Passagen weg von seiner papiernen Anmutung und immer wieder gelingt es dem Ensemble, gleichsam die Schwammerl aus der mitunter trüben Handke-Suppe zu fischen.

Mit Vergnügen hört und sieht man Regine Zimmermann zu, wie ihr wunderbarer Sprechsopran die Worte "Schlamassel" und "Kuddelmuddel" in den Himmel juchzt. Felix Goeser salbadert und mansplaint eindrücklich, wann immer er dran ist. Lorena Handschin und Linn Reusse ziehen das Pathos in feinen Fäden aus der Luft und stellen die kleinen Handke-Brisanzmarker ("Balkan", "alte Jungfer") mit bösem Witz frei. Marcel Kohler gibt auch stimmlich ein erdiges Bassfundament dazu. Man wünschte sich ein Hörstück mit dieser Besetzung.

ZdenekAdamec1 3000 Arno Declair u Juchzt und salbadert eindrücklich, mit bösem Witz und erdigem Bassfundament: das Ensemble © Arno Declair

Und da ist schließlich noch Bernd Moss, der mit Stehkragenhemd, halbzerschlissenem Mantel und randloser Brille dem Handke Peter verblüffend ähnlich sieht. Womit man dann doch wieder im Wald, also beim Programm dieser Angelegenheit wäre. Denn bestimmt steckt in Zdeněk Adamecs existenzieller Waldeinsamkeitserfahrung auch der späte Selbstentwurf des Autors Handke. Am von der Inszenierung ungut zusammengestrichenen Ende des Textes besingt der jedenfalls wieder einmal die Anmut von Knopf und Strumpf: "Das Schälen eines Apfels genügt, und ich weiß: Ich bin auf dem besten aller denkbaren Planeten."

Im Sublimieren kleiner Schönheiten bleibt Handke unbedingt ein Meister. Die Verzahnung seiner Eigentlichkeitssuche im Unterholz mit Zdeněk Adamecs aktivistischer Selbstopferung zu zwei Seiten derselben Modernekritik wäre aber die tatsächlich spannende Anmaßung, die in diesem Stück vergraben sein mag.

 

Zdeněk Adamec
von Peter Handke
Regie: Jossi Wieler, Bühne und Kostüme: Jens Kilian, Musik: Arno Kraehahn, Licht: Thomas Langguth, Dramaturgie: Bernd Isele, Tilman Raabke.
Mit: Felix Goeser, Lorena Handschin, Marcel Kohler, Linn Reusse, Regine Zimmermann.
Premiere am 21. Oktober 2020
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

"Im Gegensatz zur Salzburger Uraufführung dieses poetischen Theatertextes, in der mit allen Mitteln versucht wurde, seine Gebrochenheit zu inszenieren und ihn als hörspielartige Klangcollage schwach in Szene zu setzen, vertraut Jossi Wieler für die deutsche Erstaufführung souverän auf die Zugkraft der Sätze", schreibt Simon Strauss in der FAZ (23.10.2020). "Ihnen bereitet er den Raum und orchestriert sie mit großer Sorgfalt."

Jossi Wieler beweise, "dass Handkes Text ein lohnender Theaterstoff sein könnte", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (23.10.2020). Wieler verteile den Text auf drei Schauspielerinnen und drei Schauspieler, "die er anleitet wie ein kleines Kammerorchester".

"In vielen Passagen klingt der fundamental pessimistische Anti-Modernismus des Autors Handke mit", gibt Michael Laages im DLF Kultur "Fazit" (21.10.2020) zu Protokoll. "Iin reines Denk- und Grübel-Stück ist das." Jossi Wieler, "stets ein Meister der Zurückhaltung", setze ganz auf die Wirkung des erzählenden Textes "und das DT-Ensemble geht ganz und gar auf in Suchbewegungen", so Laages: "Viel zu schnell wird ja viel zu apodiktisch über den Autor Handke geurteilt, zuletzt noch einmal nach dem (völlig verdienten) Nobelpreis – dieser Abend jetzt ist für all jene, die immer noch mit Handke denken lernen mögen."

Jossi Wieler mache in seiner ersten Regie am Deutschen Theater aus dem Konstrukt irrlichternder Mutmaßungen "auch keine handfeste Sache", schreibt Ute Büsing auf rbb online (23.10.2020). "Aber er führt die ausgewiesenen Meinungspezialisten in Sachen Selbstverbrennung Zdeněk Adamecs doch behutsam in die je eigenen Seelenabgründe." Dem Ensemble des Deutschen Theaters gelinge "ein Grenzgang".

"Man soll schauen, nicht interpretieren, und das Geschaute erst recht nicht werten. Es soll für sich stehen. Gut. Nur manchmal fragt man sich, ob Handkes Kunst überhaupt ein Gegenüber braucht", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (23.10.2020).

Christine Wahl schreibt im Tagesspiegel aus Berlin (online 23.10.2020, 17 Uhr): Im Bühnenbild stünden in einer "mutmaßlich aerosolfreien Aufführung" die Schauspieler*innen, warteten in "gebührendem Abstand" auf ihre Einsätze, "nesteln hier an einer Perücke oder da an einem absichtsvoll vergessenen Instrument" und versuchten, dem "90-minütigen Entlangreden" an der Selbstverbrennung des 18-Jährigen einen je eigenen Tonfall zu verleihen. Dessen Leben werde "mehr oder weniger vage und assoziativ beschworen, hin und her gewendet und ausdrücklich im Deutungsoffenen belassen".

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