Rasend und freundlich

von Georg Kasch

Dessau, 30. Oktober 2020. "So", sagt Athene, zündet sich eine Zigarette an und blickt skeptisch ins Publikum. Da sitzen wir, das Volk von Athen, und scheinen die Göttin nicht so recht zu überzeugen. Eben erst hat sie die Demokratie erfunden und die Manipulation unerfreulicher Ergebnisse gleich mit. Außerdem konnte sie von Athen schlimmste Gefahr abwenden, indem sie die Erinnyen, die antiken Rachegöttinnen, so lange bequatschte, bis aus ihnen die freundlichen Eumeniden wurden. Jetzt bauen sich die neuen Schutzgeister als Freiheitsstatuen auf mit Gesetzbuch und Fackel. Klar, die USA, älteste noch existierende Demokratie der Welt, ist in denkbar schlechter Verfassung. Athenes finaler Blick scheint zu sagen: Das hat man jetzt davon, das Mutterrecht für die Volksherrschaft zu opfern. Am Ende kommt immer ein Macho und macht alles kaputt.

Sympathien eindeutig verteilt

Matri- und Patriarchat knallen ordentlich aufeinander in Christian von Treskows "Eumeniden"-Inszenierung im Anhaltischen Theater Dessau. Der Konflikt steht so im letzten Teil von Aischylos' "Orestie" und wird in Walter Jens' beschwingt zugänglicher Übersetzung auch deutlich herausgearbeitet: Hier die Erinnyen, die wütend Blutrache fordern. Dort Apoll und Orest, die Jungs, die sich den Muttermord ausgedacht haben.

Eumeniden2 1000 ClaudiaHeyselRache verlangen die Erinnyen, hier im Bühnenbild von Nicole Bergmann © Claudia Heysel

Nur schlägt sich Aischylos eher auf Orests Seite, während von Treskows Sympathien deutlich bei der Frauengang liegen. Anfangs ist das noch nicht ausgemacht, nimmt der Abend eher gemächlich Anlauf. Da beschmiert sich Andreas Hammers Orest, eigentlich ein smarter Dreitagebart-Bürotyp in Hemd und Krawatte, in Apolls Tempel Gesicht und Arme mit Blut, bevor er mit seiner Klage anfängt: Ja, er hat die Mutter gemordet, aber auch deshalb, weil Apoll ihn unter Druck setzte. Und der Gott, bei Tino Kühn ein freundlich-unbestimmter Politiker mit Goldschlaghosen und Kothurn-Sohlen, beruhigt ihn: alles unter Kontrolle, wird schon.

Hüftschwung aus der Unterwelt

Nicole Bergmann hat für den Kampf der Geschlechter eine zugleich archaische wie postapokalyptische Landschaft geschaffen aus rostigen Quadern und Vertiefungen: oben thronen die Olympier, unten wuseln die Sterblichen und die Unterwelt-Göttinnen. Als sie erwachen, kommt überhaupt erst Dynamik in die Sache. Ihre Chorführerin – Yevgenia Korolov – entwickelt sich schnell zum Zentrum des Abends mit ihrer hinreißenden Mischung aus bissiger Ironie, cooler Rotzigkeit und wagemutigem Hüftschwung. Ein Gott muss schon tief in die Argumente- und Trickkiste greifen, um hier parieren zu können. Ihre sieben Mitstreiterinnen, Sängerinnen aus dem Dessauer Opernchor (ein Trumpf der Mehrspartenhäuser!), treiben derweil die Texte virtuos ins Zischen, Krächzen, Hecheln.

Gemeinsam mit Jürgen Grözinger an den Perkussionsinstrumenten entwickeln sie einen Rhythmus, dessen Sog man sich kaum entziehen kann. Wenn ihre Sprechstimmen dabei in gesungene Melodien übergehen, deren Harmonien sich in kleinsten Intervallen aneinander reiben, ist das nicht nur eine Verneigung vor dem antiken Vorbild (da sangen die Spieler auch), sondern zugleich faszinierendes Musik-Theater. Sie alle stecken in schwarzen Kostümen, die wirken, als hätte Kristina Böcher zusammengenäht, was der Fundus hergibt: Brustpanzer, Krinolinen, Tüll und auf dem Kopf immer gleich zwei Hüte verschiedenster Epochen übereinander. So werden aus ihnen Geschichts-Zombis, mythische Wesen aus einer vergangenen Zeit.

 Eumeniden3 1000 ClaudiaHeyselMuttermörder unter Druck: Andreas Hammer als Orest © Claudia Heysel

Warum aber wird bei so viel weiblicher Kraft Athene zur Verräterin an der Sache ihrer Geschlechtsgenossinnen, wenn sie am Ende den Ausschlag für Orests Freispruch gibt? Weil das ewige Morden mal ein Ende haben muss. Von Treskow inszeniert einen packenden Gerichts-Showdown, in dem man auch deshalb mit den Frauen mitfiebert, weil sie die weitaus stärkeren Spielerinnen sind: Christel Ortmanns Diven-Athene im Empire-Goldkleid, ein müde-resoluter Filmstar, der es gewohnt ist zu herrschen, saugt an ihrer Zigarettenspitze und zettelt den Prozess an.

Hier dreht Korolovs Ober-Erinnye so richtig auf: "Ist das ein Wunschkonzert oder sind wir hier vor Gericht?", putzt sie Orest runter, der vor Athene steht wie ein kleiner Junge mit schlechtem Gewissen. Mit Apoll verbeißt sie sich derart verbal, dass beide zu extemporieren beginnen. Während die Souffleuse so panisch wie entgeistert im Textbuch blättert, wird uns noch mal die gesamte verworrene Atriden-Vorgeschichte um die Ohren gehauen: Wer war zuerst schuld? Schon klar, dass dieser endlose Faden zerschnitten werden muss, und koste es das Matriarchat.

Aufräumarbeit in Frauenhand

Am Ende kommt Orest also mit einem blauen Auge davon: im Zweifel für den Angeklagten. Und er, der eben noch um Fassung rang und alle Verantwortung auf Apoll schob? Wirft sich in machohafte Fußballer-Siegerposen und rasselt mit den Waffen. Fehlte nur, dass er sich auf die Brust trommelte! Was so unangenehm ist wie Apolls arroganter Abschied. War das die ganze Aktion wert?

Die Aufräum- und Überzeugungsarbeit ist dann ohnehin wieder Frauensache: Wie Ortmanns und Korolovs Göttinnen den Umwandlungskompromiss aushandeln und der Chor noch einmal richtig aufdreht, ist zum Niederknien! Am Ende spricht Athene nicht zu den Eumeniden, sondern zu uns: "Seid dem Freundlichen freundlich". Für die Unfreundlichen aber, also die breitbeinigen Feinde der Demokratie, wäre eine Prise Erinnyen-Kratzbürstigkeit vermutlich hilfreicher.

 

Die Eumeniden
von Aischylos

Nachdichtung und szenische Bearbeitung von Walter Jens
Inszenierung: Christian von Treskow, Bühne: Nicole Bergmann, Kostüme: Kristina Böcher, Musik: Jürgen Grözinger, Leitung Opernchor: Sebastian Kennerknecht / Jürgen Grözinger, Lichtdesign: Miriam Damm, Dramaturgie: Kornelius Friz.
Mit: Yevgenia Korolov, Andreas Hammer, Christel Ortmann, Tino Kühn, Nicole Widera, Kristina Baran, Grazyna Fenger, Gerit Ada Hammer, Sabine Jeschke, Ines Peter, Jeannette Spexárd, Constanze Wilhelm.
Premiere am 30. Oktober 2020
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

anhaltisches-theater.de

Kritikenrundschau

"Ein Theaterstück, bei dem es also ums Grundsätzliche geht. Eins, das auch als solches noch immer funktioniert. Zumindest, wenn man es so verdichtet und unaufdringlich vergegenwärtigt, wie es Regisseur Christian von Treskow in der Bearbeitung von Walter Jens gelungen ist", schreibt Joachim Lange von der Deutschen Bühne (31.10.2020). "Zu einem grandiosen Höhepunkt wird der Streit zwischen Apoll und der Chorführerin der Erinyen. Sie fallen sozusagen aus der Rolle und gehen aufeinander los, als wären sie im aktuellen US-Wahlkampf."

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