Das Echo von Willy Brandt

von Atif Mohammed Nour Hussein

9. November 2020. "ERINNERUNGEN – ERINNERUNGSRÄUME. Und wie Musik uns da hinführt zu diesen Bildern und Gefühlen, die da alle abgespeichert in unseren Körpern lagern wie in großen Archiven. Was erinnere ich?" Falk Richter: Small Town Boy.

Was erinnere ich?

Bundesarchiv Bild 183 1989 1118 018 Berlin Grenzübergang Bornholmer Straße RobertRoeske uBerlin Grenzübergang Bornholmer Straße, November 1989 © Robert Roeske, Bundesarchiv Bild 183 1989 1118 018 

10. November 1989, vormittags, Ost-Berlin, Bornholmer Straße. Ein endloser Strom von Menschen, von Ost nach West. Nicht zögerlich, tastend oder suchend. Zielstrebig, ohne zu eilen. Geduldig. Die Bornholmer Straße – sehr breit, geteilt von den Straßenbahngleisen in der Mitte, gesäumt rechts und links von baumbepflanzten Wegen, Parkspuren, großzügigen Fußwegen mit Vorgärten –, schien perfekt. Einen Moses brauchte es nicht. Es war auch kein "Auszug", keine Flucht. Sondern ein Verlangen, eine Sehnsucht, eine Hoffnung. Die meisten gingen zu Fuß, nur wenige fuhren mit dem Auto. Und doch gaben die den Ton an. Den Takt für diese Manifestation des Sich-Befreit-Fühlens: Aus Autoradios plärrte Lambada. In Endlosschleife. Der Hit des vergangenen Sommers:

Derjenige, der mich zum Weinen gebracht hat,
Ging eines Tages weinend weg.
Er wird weinen, wenn er sich eines Tages an eine Liebe erinnert,
Die er nicht beachtet hat. …
Das Lied, das Lachen und der Schmerz – eine Liebesmelodie.
Ein Augenblick, der in der Luft bleibt.

Kinderlandverschickung in den Westen

28. November 1989, abends, Düsseldorf, Schauspielhaus. "Don Juan oder der Steinerne Gast". Regie: Bernhard Klaus Tragelehn.
Wenige Tage zuvor mit einem Freund, Benjamin Tragelehn, im Nachtzug nach Köln. Eine Idee seiner Eltern – sein Vater hatte den Abend schon 1988 inszeniert, als an Mauerfall noch nicht zu denken war. Jetzt: Kinderlandverschickung zu Freunden unserer Familien. Raus aus Berlin. Zu laut. Zu voll. Einheitstaumel. Kein Entkommen. In Köln ist Frieden. Wir, die Jungs aus dem Osten, werden von Herzen begrüßt – vom befreundeten Vater aus Westfalen, Autor und Publizist, von der Mutter aus Thüringen, Journalistin (wie unsere Mütter), und deren Sohn, gerade fertig mit dem Abitur, unser Alter. Wir werden ausgefragt, bewirtet, versorgt mit der wahrscheinlich größten privaten Videosammlung. "Monty Python's Flying Circus" – alle Folgen bis morgens früh um acht. Dann Kölner Dom. Dann "Fawlty Towers" – alle Folgen. Um die Ecke in der Kaufhalle, die hier "Deutscher Supermarkt" heißt, sprechen die Leute türkisch, arabisch und russisch.

"Don Juan" ist nichts Besonderes – Theater eben. Sganarelle ist Winfried Glatzeder, der Typ aus Die Legende von Paul und Paula – selbst eine Legende. In der DDR. Jetzt spielt er eben im eben noch sehr fernen Westen. Warum das alles so war, lerne ich Jahre später. Auf der Schauspielschule. In Schöneweide. Von Professor Karl Mickel: Die Biermann-Ausbürgerung war da nur noch eine zeitgeschichtliche Fußnote. Viel wichtiger jedoch: Tragelehns ältester Sohn hatte zum ersten Mal eine Inszenierung seines Vaters gesehen. Und es war besonders, sehr besonders …

SS-Runen in der Perle der Uckermark

10. November 1989, vormittags. Willy Brandt auf den Stufen des Roten Rathauses: … jetzt wachse zusammen, was zusammen gehöre...  Später Abend. Prenzlauer Berg. Vor dem Fernseher. Vor dem Rathaus Schöneberg: Brandt, Momper, Kohl, Genscher, Waigel. Es wird die (bundes)deutsche Nationalhymne gesungen. Brandt wird bejubelt, Kohl ausgepfiffen. Brandts Verheißung vom Vormittag klingt nach. Plötzlich ist in diesem Echo eine Drohung versteckt.

 Bundesregierung B 145 Bild 00048578 Foto Klaus Lehnartz Willy Brandt vor dem Schöneberger Rathaus am 10. November 1989 © Klaus Lehnartz / Bundesregierung B 145 Bild 00048578

Freitag, 20. April 1990, abends, Templin, Puppentheater. Zurück von irgendeinem Auftritt. Drei Vorstellungen in drei Stunden: "Hase und Igel". Frühlingsfest oder Dorffest oder … Das Puppentheater, mitten in der Stadt, in einer (erstaunlich) aufwendig restaurierten Villa – Templin ist Luftkurort. Die Perle der Uckermark. Mit der am vollständigsten erhaltenen Stadtmauer in Deutschland. Draußen ist es bereits dunkel. Puppen in den Fundus räumen, Vorhänge ausbreiten, noch feucht vom Regen. Tonanlage ins Technikzimmer schleppen. Abschließen nicht vergessen. Geräusche an der Haupttür. Sekunden später: sieben große Kerle im winzigen Theatersaal. Lange Haare. Schwarze Lederwesten mit SS-Runen. Schwere Stiefel. Das Echo von Willy Brandt. Das Echo der Hymne. Das Echo der Pfiffe. Weißes Rauschen … 20. April 1990 – Adolf Hitlers 101. Geburtstag.

Friedrich steht noch

Das Rostocker Sonnenblumenhaus brennt. Schon in Hoyerswerda hieß es zur Lageeinschätzung: "Es besteht einheitliche Auffassung dazu, dass eine endgültige Problemlösung nur durch Ausreise der Ausländer geschaffen werden kann."

Oktober 1992, Berlin-Schöneweide, weit im Südosten. Hässlich. Grau. Herbst in Berlin. In der Schule für Schauspielkunst "Ernst Busch" Szenen wie aus Fame. Gesprochen wird Badisch, Berndeutsch, Baseldytsch, Räteromanisch, Wienerisch und Bühnendeutsch. Die wenigen Sachsen und Thüringer verkneifen sich ihren Dialekt. Meistens.
"Ist Ihre Hautfarbe ein Problem für Sie?" – Das ist die erste Frage, die mir in der ersten Unterrichtsstunde im ersten Semester gestellt wird. Das Echo von Willy Brandt. Das Echo der Hymne. Das Echo der Pfiffe. Die Kommilitonin aus Basel flüstert der Kommilitonin aus Bern irgendetwas zu...

November 1980, Ostberlin, Straße Unter den Linden. Das Reiterstandbild "Friedrich der Große" wird sechs Meter vom ursprünglichen Standort entfernt aufgestellt.

Bundesarchiv Bild 183 W1127 030 Berlin Denkmal Friedrich IIjpgDas Reiterstandbild Friedrich II. wird 1980 erneut Unter den Linden errichtet © Karl-Heinz Schindler / Bundesarchiv Bild 183 W1127 030

Januar 1996, Maxim Gorki Theater, Studiobühne. "Weihnachten bei Ivanovs" – Russische Avantgarde. 10. Vorstellung. Nebenan im Großen Haus: Premiere "Der Hauptmann von Köpenick". Auf der Bühne: Harald Juhnke als Hauptmann und Katharina Thalbach als Regisseurin. Im Foyer: Eberhard Diepgen und Regine Hildebrandt. Großer Medien-Rummel. Blitzlichtgewitter. So geht gesamtdeutsche Prominenz. Draußen, ums Eck: Friedrich steht noch. Der Palast der Republik auch. Noch zehn Jahre. Dann ist er weg. Der Palast. Ein anderer, ein alter wird seinen Platz einnehmen. Schwer gerüstet mit Kuppel und Kreuz. Das ist dann aber erst heute. 2020. Und vorher wird "Königin Shermin" inthronisiert werden.

Du fällst zu sehr auf

Ein typischer Sonnabendabend zwischen 1979 und 1989. Zu Hause: "Wo geht ihr hin?" – "Ins Theater." – "Was kuckt ihr an?" – "Der kaukasische Kreidekreis." – "Habt ihr Geld dabei?" – "…" – "Ohne Geld geht man nicht aus dem Haus. Hier zwei Mark." – Eintrittskarten für Schüler kosten 55 Pfennig – davon 5 Pfennig Kulturbeitrag. Blieben noch 45 Pfennig pro Nase für einen Schwarzen Tee in der Pause.
Ins Theater zu gehen, war normal. In die Oper, ins Ballett zu gehen, war normal. Da gehörte ich hin. Das Seminar zur Theatergeschichte der DDR hätte ich wahrscheinlich selbst geben können, wenn es eines gegeben hätte …

Februar 1994, Berlin-Schöneweide, erste Studioinszenierung. Eine Ensembleszene. Kurze Ansagen. Wir probieren. Unterbrechung: "Sorry, aber Du kannst in der Szene nicht mit dabei sein. Da soll Allgemeinheit sein. Du fällst zu sehr auf." Das Echo von Willy Brandt. Das Echo der Hymne. Das Echo der Pfiffe. Magdeburg. Himmelfahrtskrawalle.

ERINNERUNGSRÄUME.

1. Oktober 1984, Ostberlin, Platz der Akademie (Gendarmenmarkt). Das wiedererrichtete Gebäude des Preußischen Staatstheaters, als Theater von 1934 bis 1945 von Gustaf Gründgens geleitet, wird als Konzerthaus eingeweiht. Als "Symbol eines geistig-kulturellen Zentrums der Kunst und Wissenschaft".

13. Februar 1985, Dresden. Vierzig Jahre nach der Zerstörung im II. Weltkrieg: Wiedereröffnung der Semperoper mit Carl Maria von Webers "Freischütz", der ersten deutschen Nationaloper.

Im Fernsehen Sachsens Glanz und Preußens Gloria. Was glänzt da? Wessen Glorie erstrahlt da? Während das Land zerfällt. Welche deutsche, nationale Größe wird da behauptet? Das ist alles so falsch – jede Pappkulisse ist ehrlicher. Die Gipsstuckaturen bröckeln, noch ehe sie getrocknet sind. Titel der Farce: Der Sozialismus in den Farben der DDR.

Das machen wir mit allen

3. Oktober 1990, Prag, Karlsbücke. Blauer Himmel. Sonnenschein. Es ist klar, warum es das Goldene Prag genannt wird … Abends Theater. Eine Komödie. Tschechisch. Tatsächlich sehr schnell. Ich habe vergessen, worum es ging.

April 1998, morgens, Frankfurt a.M., Assistenz an der Oper. Kurz vor dem Willy-Brandt-Platz. Ein Streifenwagen hält direkt neben mir. "Ausweis!" – "…?" – "Passport!" – "Warum?" – "Das machen wir mit allen, die hier neu sind." – Zwei Jahre später beginnt Jürgen Rüttgers seinen NRW-Landtagswahlkampf mit der Kampagne "Kinder statt Inder!"

2015 ScreenshotSzene aus "2015 – Into the Unknown" © Screenshot

10. Oktober 2014, Hamburg, Deutsches Schauspielhaus, abends, Podiumsdiskussion zu Rassismus im Theater. Gefragt nach einem Abschlussstatement, bitte ich darum, zu bedenken, dass wir, wenn wir die großen Hauptbühnen weiß halten und die "migrantischen Projekte" in die Studios schieben, ein Theater der Segregation schaffen. Ich werde ausgebuht. Das einzige Mal, bisher. Wuchs zusammen, was zusammen gehört? Ich war gerade zurück aus Zimbabwe. Achtzehn Künstler*innen. Acht Sprachen. Eine Story. 2015 – Into The Unknown.

Der Osten war Heimat mit seinen Theatern

April 2010, Erfurt, Premiere "Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran". Der NSU war noch nicht "enttarnt", eine neue protofaschistische Partei okkupierte noch nicht die deutschen Parlamente. Auf dem Domplatz erinnerten noch Reste an die letzte Osterkirmes und noch konnten wir ungehindert das Theater mit sufistischen Weisheiten fluten … Dezember 2019, kurz vor Weihnachten, Erfurt. Wiederaufnahme. – Das Bild von Willy Brandt auf dem Balkon des Erfurter Hofs schiebt sich dazwischen. "Willy Brandt ans Fenster!" lautete die Forderung im März 1970. Heute heißt es: "…die Bühnen sollen stets auch klassische deutsche Stücke spielen und sie so inszenieren, dass sie zur Identifikation mit unserem Land anregen."

Der Osten war Heimat mit seinen Theatern. Berlin ist immer noch Heimat. Deutschland – eins? uneins? zerrissen? geeint? – ist es nicht. Mit seinen Theatern? Vielleicht. Irgendwann.

 

AtifHusseinAtif Mohammed Nour Hussein, 1967 in Berlin (Ost) geboren, ist Regisseur und Szenograph. Er studierte an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch". Er wurde mit dem Max-Reinhardt-Preis und dem Friedrich-Luft-Preis ausgezeichnet sowie mit Arbeiten zu verschiedenen nationalen und internationalen Festivals eingeladen. Er lebt in Berlin.

 

Alle bisher erschienen Beiträge der Serie: 

Einführung ins Thema von Georg Kasch – Die Nackten, die Westler und der Osten
Teil 1 – Wie der Westler Christoph Nix ans (Ost)Berliner Ensemble kam
Teil 2 – Der Theaterkritiker Thomas Irmer über den Ost-West-Riss
Teil 3 – Reinhard Göber über das legendäre Parchimer Theater der Wendezeit
Teil 4 – Ist das Theater gentrifiziert? fragt Dramatikerin + Regisseurin Juliane Kann
Teil 5 – Kann der Intendant nur DDR? von Christian Holtzhauer, Intendant in Mannheim
Teil 6 – Warum Ost und West im Theater kaum noch zu unterscheiden sind, beim Lachen aber sehr wohl