Allein in ihrem Kampf

von Andreas Klaeui

Zürich, 5. November 2020. Whistleblowerin / Elektra – Der Titel des Abends ist sein dramaturgisches Programm: Yasmine Motarjemi ist Wissenschafterin und Spezialistin für Lebensmittelsicherheit. Sie arbeitete für die Weltgesundheitsorganisation WHO, bis Nestlé sie abwarb als Verantwortliche für die Lebensmittelsicherheit des Konzerns. Bekannt wurde Motarjemi, weil sie einen Mobbingprozess gegen Nestlé angestrengt und schließlich gewonnen hat.

Außmaß einer Tragödie

Nestlé förderte sie erst und stellte sie dann kalt. Warnungen vor Sicherheitsrisiken – zum Beispiel Biskuits, an denen Babys ersticken können, oder Melamin-Zumischungen in zugelieferten Rohprodukten – kamen nicht gut an. Motarjemi wurde im Kader ausgegrenzt und 2010 entlassen.

"Ich habe über dreißig Jahre lang der Gesellschaft gedient", sagt sie jetzt bitter. "Ich habe Leuten Arbeit beschafft, Wissenschaftler zu Nestlé gebracht, Arbeitskollegen ausgebildet und trainiert. Sie nutzen meine Arbeit, zitieren meine Forschung. Sie rücken auf der Karriereleiter nach oben, werden Head of this, Head of that, Professoren, Direktoren. Und vor Gericht: stehe ich allein." Allein in ihrem Kampf: wie Elektra. Wir sagen ja oft so leichthin, etwas habe die Ausmaße einer griechischen Tragödie. Anna-Sophie Mahler nimmt die Wendung beim Wort.

Whistleblowerin 1 560 Cristiano Remo.jpgElektra heute und gestern: Die Schauspielerin Sascha Ö. Soydan und die Sopranistin Mona Somm © Cristiano Remo

Auf der Bühne stehen zwei Frauen, die Opernheldin mit Wurzeln in der Antike und die Heldin von heute. Da ist die vernichtete Topmanagerin im Alltagsdress, die sich vierzehn Jahre lang keinen Fehler erlaubt, auch nicht im Privaten, um sich in ihrem Kampf nicht angreifbar zu machen. In feuerroter Opern-Robe tritt die Richard-Strauß-Heroine auf.

Zustände am Genfer See

Die Schauspielerin Sascha Ö. Soydan berichtet mit eindringlicher Zurückhaltung, mit geradezu quälender Beherrschtheit von den skandalösen Missständen, gegen die die Sicherheitsmanagerin anzukämpfen versucht, und von dem kruden Mobbing, mit dem sie zur Strecke gebracht werden soll.

Mit skeptischem Erstaunen nimmt sie zur Kenntnis, dass sich Theaterleute für sie interessieren, die doch stets nur von Wissenschafter*innen umgeben war. Schüchtern erzählt sie von ihrem "Jardin de rêves et de souffrance", der gerade so schön blühe.

Whistleblowerin 5 Cristiano RemoHoffen auf Katharsis: Sascha Ö. Soydan  © Cristiano Remo

Im Maß, in dem sie sich nochmal ihrer Geschichte aussetzt, ringt sie um Fassung. Der Zuschauer ist da längst selber fassungslos über die Zustände, die am Genfersee offenbar herrschen. Hinter einem quadratischen Bassin blüht der Trost- und Trauer-Garten in beinah surrealen Vallotton-Farben, später senkt sich ein Hodler-Genfersee-Prospekt davor, zuletzt für Elektras Auftritt der Ausblick in die rot-goldenen Ränge eines Opernhauses.

Überzeitliche Dimensionen

Das alles verspricht Halt und Schönheit, wo es keine mehr gibt. Die Sängerin Mona Somm interveniert mit expressiven Einwürfen aus der Strauß-Partitur, zuletzt mit einer längeren Szene, in der die ganze bis dahin mit so viel Aufwand zurückgehaltene Emotionalität ihren grandiosen Ausbruch findet. Auch wenn diese gewissermaßen arbeitsteilige emotionale Unterfütterung und Ästhetisierung am Anfang in ihren Anstrengungen, einen Pseudo-Dialog zwischen den beiden Frauen herzustellen, noch etwas manieriert wirken mag – sie erweist sich zusehends als hilfreicher, weil raumgebender Kontrapunkt. Denn sie hebt den Gerichtsfall in die überzeitliche Dimension der klassischen Tragödie, die diese Geschichte wahrhaftig hat. Der Zuschauer erlebt sie mit Eleos und Phobos. Und hofft auf Katharsis.

 

whistleblowerin / elektra
Dokumentarisches Theater mit Operngesang
Uraufführung
Konzept und Regie: Anna-Sophie Mahler, Ausstattung: Sophie Krayer, Recherche und Konzept: Sylke Gruhnwald, musikalische Bearbeitung: Stefan Wirth, Sound Design: Marcel Babazadeh, Dramaturgie und Konzept: Julia Reichert.
Mit: Mona Somm, Sascha Ö. Soydan
Premiere am 5. November 2020
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

theaterneumarkt.ch

Kommentare  
Whistelblowerin, Zürich: wunderbar + verwirrend
Ein wunderbarer Abend, Theater Neumarkt wieder mal gross! Jetzt war sogar Yasmine Motarjemi, um die das Stück ja geht, nach Zürich gekommen und hat sich das Stück angeschaut. Wenn bloss die drei Theaterleiterinnen die verwirrenden Begriffe "playground", "akademie" und "digital" aus den Ankündigungen streichen würden. Denn verwirrend sind diese Begriffe, wenn man sich durch die Homepage des Neumarkttheaters bewegt und ein Stück, einen Abend wählen möchte.
Whistelblowerin, Zürich: Diskursalarm
ich stimme michael zu, der abend ist wunderbar! einfach, klug und politisch. so ein format so noch nicht im schauspielhaus gesehen oder in der neuen gessnerallee. aber auch ich bin immer wieder verwirrt wegen den überschriften. für mich ist es egal was drüber steht, ich verstehe die einteilung nicht. allgemein finde ich: immer viel diskussionen oder diskurs aber nicht so viel theater. schade.
Whistelblowerin, Zürich: Thank you!
The true heroes of our society!

This is a letter of thanks to the Whistleblowerin / Elektra theatre group and the few journalists and friends who have seen and shared my concerns about food safety management at Nestlé.

Dear Friends

Mixing opera and theater to tell my story! ? I would never have imagined such an event, even in my dreams. The play is so beautifully performed that I even had the pleasure of witnessing my own nightmare, my own agony (https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=18814:whistleblowerin-elektra-neumarkt-%20theater-zuerich-anna-sophie-mahler&catid=38&Itemid=40)

When I first shared my experience, I imagined that my colleagues in the food and public health sectors would be interested in learning and sharing my outrage. Instead, it was you, the theater and opera people, who showed interest and understood me! Of course, in the background, there were some courageous journalists who dared to investigate my story and report it. There were also a few sensitive people, capable of seeing beyond appearances, who supported me in my journey through this nightmare that has been going on for more than 15 years.

Isn't it strange that it was you, my friends from the theater and opera, who understood what was at stake in my story, and not the thousands of experts in food safety and public health? This is the irony of our world! We focus on the messenger without seeing the message. One day we kill the messenger, another day we make him/her a hero/heroine But the real heroes are you and the few people who have seen evil and dared to say the word: Voldemort!

So often I see our world as Plato's cave. I come to share with my fellow citizens and colleagues of the past what is wrong.They look at the pictures shown to them at conferences and listen to each other's speeches, sometimes indoctrinated by unscrupulous leaders, without wanting to see and learn the reality I bring to them.
They look at the pictures shown to them at conferences and listen to each other's speeches, sometimes indoctrinated by unscrupulous leaders, without wanting to see and learn the reality I bring to them.


For years I walked alone in a desert. Few people cared what I had to say. I talked to myself and to the birds and wondered if what I was experiencing was real, if it was normal, if it was right. I questioned myself so often that I felt like I was going crazy. I went to the doctor every two weeks to ask if everything was all right in my head? How could I see what no one else could see?

Relatively speaking, few people could hear me. But you, my friends from the theater and the opera, and a few other rare people and brave journalists, you heard me. You have seen the pain, the suffering, the anguish, the appalling situation, the tragedy but also the beauty and the sacrifice,...

This play peformed with so much talent, empathy, intelligence and courage will remain an unforgettable event in my life, and you my friends forever.

Yasmine Motarjemi
Former Head of Food Safety, Nestlé
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