Prosperos Bann

von Savas Patsalidis

Athen, November 2020. Wenige Jahre nach den Olympischen Sommerspielen von 2004 in Griechenland und der Hochstimmung, die sie begleitet hatte, erlebte die griechische Wirtschaft 2010 einen epochalen Zusammenbruch, dessen Folgen fast ein Jahrzehnt lang andauerten. Die Theaterszene war davon völlig unvorbereitet getroffen worden. Die Geldnot brachte enorme Schulden mit sich, unbezahlte Mieten und Probleme bei der Bezahlung der Mitarbeiter*innen. Selbst großen Häusern – denen es zunächst noch gelungen war, ihre Standards aufrechtzuerhalten – ging schließlich die Luft aus.

Theater gegen Lebensmittel

Nacheinander wurden die Theater zu drastischen Maßnahmen gezwungen. So begannen sie, Sonderpreise für Arbeitslose, Student*innen und von der wirtschaftlichen Lage besonders Betroffene anzubieten. In manchen Theatern zahlten Zuschauer*innen einfach nur noch, was sie zu zahlen in der Lage waren.

Damals, in den Jahren 2011/2012, startete das Nationaltheater Nordgriechenland seinen "Sozial-Theater-Laden". Statt mit Geld konnten die Leute ihre Eintrittskarten mit Lebensmitteln bezahlen. Die Verbindung des Theaterbesuchs mit dem Thema Essen und einem öffentlichen Wohlfahrtsgedanken war für die Kommunikation des National Theaters ein ganz neuer Weg. Weniger als 20 Prozent aller Künstler*innen waren in diesen schweren Krisenjahren überhaupt noch in der Lage, mit ihrer Arbeit den Lebensunterhalt zu bestreiten.

SocialTheatreStore Saloniki 560 NationalTheatreNorthernGreece uDer "Theater Sozial Laden" und seine Einkünfte im Jahr 2012 – ganz rechts: der Künstlerische Leiter des Theaters Sotiris Hatzakis © National Theatre of Northern Greece  

Glücklicherweise aber geschehen Wunder. Plötzlich begann die Zahl der Produktionen wieder exponentiell zu wachsen. Um 2010 fanden in Athen jährlich nur noch etwa 300 bis 400 Vorstellungen statt. Im Jahr 2020 brachte die Theaterszene in Athen trotz der wirtschaftlichen Depression, die sie so schwer getroffen hatte, wieder unglaubliche 1500 bis 1700 Produktionen heraus. Doch dann, Anfang März 2020, endete das Wunder mit der Covid-Pandemie.

Nach dem Schock kam die Wut

Für manche war der Ausbruch der Pandemie wie ein neuer "Krieg". Vielleicht kein Dritter Weltkrieg, aber doch ein Krieg. Das galt vor allem für die griechischen Millennials, für die Covid-19 innerhalb kurzer Zeit nun den zweiten großen Schlag darstellte. Kaum hatte ihr Leben nach dem Jahrzehnt der Finanzkrise wieder etwas Gestalt angenommen, sahen sie sich jetzt mit dieser global grassierenden Krankheit konfrontiert. Fürs Protokoll: Das Wort Pandemie kommt aus dem Griechischen: "παν=alle" und "δήμος=Menschen" – ist also etwas, das sich überall verbreitet und alle Menschen betrifft. Wieder wurden im Land Dutzende von Vorstellungen abgesagt oder auf unbestimmte Zeit verschoben. Auf erste Gefühle von Schock und Überraschung folgten Wut und Frustration. 

Für die Einen markiert der Ausbruch dieser neuen Seuche nun das Ende der postmodernen Peripetie und den Beginn einer Vierten Industriellen [HiTech] Revolution. Andere sehen ein Wiederaufflammen von Klassenkämpfen und sozialen Konflikten drohen, neue Kriege und tödliche Formen von Polizeigewalt, wie sie bereits in George Orwells dystopischem Science-Fiction-Roman "1984" vorweggenommen sind. Die Pandemie zwingt uns die Zukunft auf. Doch wir sind nicht darauf vorbereitet, ihr zu begegnen .

Selbst im optimistischsten Szenario müssen wir uns auf ein paar Jahre Krise einstellen, wenn wir den Expert*innen glauben können. Wie Vladimir und Estragon auf Godot warten wir nun, bis ein sicherer Impfstoff gefunden und eine Rückkehr zur Normalität möglich wird. Geben wir, wie König Ödipus, den Göttern die Schuld? – Übrigens ein Stück, das von der ersten, überhaupt überlieferten Pest-Epedemie während des Peloponnesischen Krieges (zwischen 430 und 426 v. Chr.) inspiriert wurde.

Hastige digitale Survival-Kits

Als Mitte März alle griechischen Theater schließen mussten, sahen weit über freie 5.000 Schauspielerinnen und Schauspieler ihre Existenzgrundlage gefährdet. Ihre Bemühungen um staatliche Unterstützung hatten wenig Erfolg. Das Kulturministerium gewährte zwar Hilfen in Höhe von zwei Millionen Euro plus weitere vier Millionen Euro für den Theatersektor. Im Vergleich zu den Rettungspaketen, die andere Länder aufgelegt haben, ist das jedoch eine zu vernachlässigende Summe. Bald wurde nur allzu deutlich, dass die neue Realität neue Strategien erforderte und die Künstler*innen sich selbst helfen mussten. Wenn Künstler*innen schließlich eines sind, dann erfinderisch und belastbar.

So begann die griechische Theater-Szene nach und nach eine Reihe von digitalen Survival-Kits zu entwickeln – darunter das Streaming aufgezeichneter Bühnenproduktionen oder Live-Streaming neuer Produktionen, die oft hastig und virtuell erstellt und verbreitet wurden: Live-Diskussionen, Schauspieler und Schauspielerinnen, die online Auszüge aus abgesagten Vorstellungen aufführten oder aus Theaterstücken lasen; Prominente, die aus dem Lockdown heraus Gedichte oder Persönliches präsentierten. Online wurden Meisterklassen von Regisseuren, Dramaturgen und Dramatikern angeboten, einige kostenlos, andere gegen ein geringes Entgelt.

Bewohnbare Zukunft

Die umtriebige wie innovative Onassis-Stegi-Stiftung startete im April ihr eigenes, spartenübergreifendes Projekt mit dem Titel ENTER und beauftragte Dutzende lokaler und internationaler Künstler*innen (u.a. Akira Takayama, Kareem Kalokoh und Daniel Wetzel), in 120 Stunden etwas Persönliches für die digitale Zeitkapsel der Stiftung zu produzieren, das – den Worten der Organisatoren zufolge – "die Erinnerung an diese Zeit für künftige Generationen bewahren würde". Ziel des Projekts war kein Quarantäne-Tagebuch, sondern "eine Reihe von Originalwerken, die unter den Bedingungen des 'Hier und Jetzt' geschaffen wurden, um Menschen auf der ganzen Welt zusammenzubringen". 

Für die Saison 2020/21 legte die Stiftung unter der Überschrift The Future N.O.W (New Original Work) jetzt ein weiteres Projekt auf, an dem sich Künstler*innen aus verschiedenen Bereichen beteiligen können. Angesichts einer von der Seuche geprägten neuen Weltordnung vertritt die Stiftung die Meinung, dass "es uns allen obliegt, neue künstlerische Verfahren zu erschaffen." Das Projekt The Future N.O.W. will genau dies tun: "einen Weg für die Kommenden einschlagen – mutig und frech erklären, dass die Zukunft bewohnbar ist".

Das analoge Theater digital am Leben halten

In Athen hat das Nationaltheater – eine weitere wichtige Institution dieses Landes – eine Reihe von Freiluftprojekten und Publikumsveranstaltungen durchgeführt. Im Sommer brachte es seine Hauptproduktion "Die Perser" nach Epidaurus, wo im Juli 2020 zum ersten Mal in der Geschichte dieser antiken Stätte überhaupt eine Produktion live gestreamt wurde und damit weltweit Zuschauer*innen erreichte. "Ich habe das getan, um das Theater am Leben zu erhalten", so Dimitris Lignadis, der künstlerische Leiter des National Theaters, auf einer Pressekonferenz vor der Eröffnung. 

Zwei weitere Produktionen des Epidaurus-Festivals konnten im Sommer 2020 nach den strengen Richtlinien des Kulturministeriums live aufgeführt werden. Alle anderen Produktionen wurden jedoch abgesagt – ein schwerer Schlag für die griechische Theaterszene, für die das Athen-Epidaurus-Festival in den Sommermonaten immer ein wichtiger Arbeitgeber ist.

Das Dimitria-Festival in Thessaloniki ging vollständig online, während das vom Nationaltheater Nordgriechenlands organisierte Wald-Festival (zu dessen Kuratorenteams ich gehöre) abgesagt werden musste. Nun ist die Ausgabe 2021 des Festivals in Planung.

Auch im Herbst rissen die Schwierigkeiten nicht ab. Denn Anfang Oktober 2020 öffneten nur wenige Theater wieder ihre Türen, nachdem das Kulturministerium Anweisung gegeben hatte, dass nicht mehr als 30 bis 50 Prozent ihrer jeweiligen Kapazität ausgelastet werden dürfe. Doch selbst diese eingeschränkte Möglichkeit zu spielen hielt nicht lange an. Denn nun traf eine zweite, viel härtere Pandemiewelle das Land. Im November schlossen die Theater wieder und können jetzt nur hoffen, dass sie irgendwann im Jahr 2021 wieder öffnen dürfen.

Das wurde diskutiert

In den Monaten der künstlerischen Isolation wurden in der Theaterszene viele Themen heftig diskutiert:

– Ob sich zum Beispiel aus der Krise eine ganz neue digitale Theaterästhetik – vielleicht sogar ein neues Genre – herausbilden würde, das in der Lage ist, die ontologische Verankerung des Theaters im "Hier und Jetzt" grundsätzlich in Frage zu stellen. Oder ob es sich bei den digitalen Formaten einfach nur um ein Phänomen handelt, das aus der Notwendigkeit und dem Druck der Krise entstand.

– Gibt wirklich eine Nachfrage nach Online-Aktivitäten außerhalb der Künstler*innen-Community und regelmäßige Online-Theatergänger*innen? Ist die breite Öffentlichkeit tatsächlich bereit, den Wunsch, sich zu versammeln, um sich zu einem Publikum zu verbinden, aufzugeben um stattdessen digitale Projekte und Bemühungen anzunehmen?

– Ist das Theater für das bürgerliche Leben überhaupt noch von Bedeutung? Wie kann die Kunst diese Barriere wieder durchbrechen und auf dieses schwierige sozio-politische Momentum reagieren?

– Nicht zuletzt stellt sich die Frage, ob das Theater nach dem Ende dieser Seuche einfach da weitermachen kann, wo es aufgehört hat. Wenn die Infrastruktur des Theaters in Trümmern liegt, ist die Seuche dann nicht nur Stichwortgeberin für einen viel umfassenderen Strukturwandel?

Natürlich könnte das Theater aus all dem auch gestärkt hervorgehen. Es gibt dafür historische Beispiele. Die Künste haben auch nach dem Ersten Weltkrieg, nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch von 1929 und nach dem Zweiten Weltkrieg wieder triumphiert. Warum also nicht auch diesmal? Doch das ist die optimistischste aller Annahmen.

... der schwarze Hades ist an Grabgesängen reich

Persönlich glaube ich, dass es zu früh ist für entgültige Antworten. Die Geschichte mag voller Brüche und Krisen sein. Für das Theater ist die aktuelle die wahrscheinlich Verheerendste, die es jemals durchlaufen hat. Der Weg heraus wird all unseren Verstand, all unsere Entschlossenheit und großzügige staatliche Unterstützung beanspruchen.

Brecht hat einmal gesagt, dass "neue Zeiten neue Formen des Theaters erfordern". Dies ist nun eine neue Zeit, und nur sie wird zeigen können, wie diese Formen aussehen. Auch wird die Zeit zeigen, ob Situationen wie die jetzige wirklich geeignet sind, Revolutionen auszulösen. Sie wird außerdem zeigen, ob Theater virtuell sein und trotzdem noch Theater genannt werden kann; ob beim Fehlen des Live-Applauses "unserer will'gen Hände", wie Shakespeare im Epilog von "Der Sturm" schreibt, Prosperos Entlassung aus seinem Bann überhaupt noch bewirkt werden kann.

Vorerst hören wir aber noch das Echo von Sophokles' fernem Ruf, der uns daran erinnert, dass Geschichte nie aufhört, sich selber zu recyceln – manchmal als Farce (nach Marx) und manchmal als Tragödie.

Schwer fuhr der feuertragende, der Gott und jagt –
Die Pest, die widerwärtigste! – die Stadt, wodurch
Sich leert das Haus des Kadmos und der schwarze
Hades an Wehgeschrei und Grabgesängen reich wird.

Wir sollten das im Kopf behalten, während wir nun diese schmerzhafte Phase der Neudefinition durchlaufen und nach einer neuen Poetik der Repräsentation Ausschau halten.

Hinübergleiten in einen Traum

Abschließend möchte ich anmerken, dass ich in den letzten sechs, sieben Monaten Dutzende von Stunden damit verbracht habe, gestreamte Online-Vorstellungen aus Griechenland, aber auch aus anderern Ländern zu verfolgen und darüber zu schreiben. Ich leide inzwischen an einer Überdosis solchen Theaters ebenso, wie ich an einer Überdosis virtuellen Weltbürgertums leide, virtueller Wissenschaft, virtuellen Hybriden aller Art sowie virtueller Gemeinschaft an sich.

Ich kann es kaum erwarten, ins Live-Theater zurückkehren zu können, mit anderen Menschen die gleiche Luft zu atmen, Menschen, die für ihre Eintrittskarten Schlange stehen und sich dann darauf vorbereiten, ihre Plätze einzunehmen – in Erwartung des magischen Live-Moments.

Ja, ich vermisse diesen magischen Augenblick: physisch anwesend zu sein, wenn alles anfängt. Als würde ich in einen Traum hinübergleiten. Das bekomme ich niemals online.

Es gibt nichts Vergleichbares.

 

(Übersetzung aus dem Englischen: Esther Slevogt)

 

savaspatsalidisSavas Patsalidis ist Professor für Theatergeschichte und -theorie, u.a. an der Drama Academy des National Theatre of Northern Greece und der Aristoteles Universität Thessaloniki. Darüber hinaus ist er Theaterkritiker, Vorsitzender des Griechischen Kritiker*innenverbandes und Chefredakteur von Critical Stages, dem Magazin des Internationalen Verbands der Theaterkritiker*innen.  

savaspatsalidis.blogspot.com