Gespenster im Wiener Wald

von Katrin Ullmann

Hamburg / Online, 7. November 2020: Eine Art "Geistervorstellung" kündigt Karin Beier zu Beginn des Livestreams an. Eine Premiere aus dem Deutschen Schauspielhaus, dessen Intendantin sie ist, zwar live gespielt und live gestreamt, doch ganz ohne Publikum im Saal. Und tatsächlich entwickelt diese Aufführung gleich zu Beginn eine geisterhafte Stimmung. Minutenlang lässt Regisseurin Heike M. Goetze die Darsteller*innen still durch ihren kargen Bühnenraum streifen. Dort hängen ein paar fast vollständig entlaubte, dürre Bäume von der Decke und stehen ein paar schlichte Holzbänke herum, ein Waschbecken und ein WC. Von irgendwoher beißt sich immer wieder, hinterhältig und hartnäckig, ein Kichern über die leise knisternde Soundkulisse (Musik: Fabian Kalker). Brennt dieser Wiener Wald? Züngelt hier irgendwo ein nicht sichtbares Feuer? Langsam, fast unmerklich, aber stetig?

Albtraumhafte Puppen ohne Mimik

Heike M. Goetze inszeniert zum ersten Mal am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg und hüllt ihre Inszenierung von Ödön von Horváths "Geschichten aus dem Wiener Wald" von Anfang an – Goetze verantwortet auch Bühne und Kostüme – in eine alptraumhafte Atmosphäre. In einem vielbunten Kostümpatchwork aus gemusterten Stoffen (eher Blumen für die Damen, eher Streifen und Wildtier-Prints für die Herren) bewegen sich die sieben Darsteller*innen über die Bühne.

WienerWald 3 560 ArnoDeclair u Verhüllte Gesichter, böses Gekicher – als gingen Geister zur Arbeit. Oder Puppen, die aus dem Spielwarenladen des Zauberkönigs ausgebrochen sind? © Arno Declair

Zunächst wortlos gehen und stehen sie, wiegen sich in den Hüften, setzen sich auf die Bänke, waschen sich ruhig, ziehen Schweinehälften zur Seite, verhaken sich im Geäst der herabhängenden Bäume, stellen sich kurz zueinander, bevor sie sich wegdrehen und auf die Bänke sinken lassen. Nicht nur ihre Körper und – mit brav geknoteten Tüchern – ihre Köpfe sind verhüllt, sondern – und, das macht das Alptraumhafte aus – mit dünnen, gemusterten Tüchern auch ihre Gesichter. Ihrer Mimik, ihres Ausdrucks beraubt, scheint es, als wären diese Figuren allesamt Schaufensterpuppen, die sich selbstständig gemacht haben. Puppen, die zunächst zögernd über die Bühne gehen, fast unsicher tastend. Dazu das Knistern von überall, eine lauernde dröhnende Musik und dieses, fiese blöde Kichern, das nicht aufhören will.

Sehnsüchtig nach Liebe brüllen und singen

Die puppenhaft anmutende Kostüm-Idee ist zum einen womöglich eine Anspielung auf die "Puppenklinik", die dem "Zauberkönig" (Josef Ostendorf) gehört, der seine Tochter Marianne (Eva Maria Nikolaus) in ökonomisch schwierigen Zeiten mit dem Metzger Oskar (Jan-Peter Kampwirth) – "Fleischhauerei, das ist doch was Solides" – verheiraten will. Jener Spielwarenladen liegt in derselben Straße wie Oskars Metzgerei und auch die Tabaktrafik, die Mathilde (Julia Wieninger) betreibt. Alles im achten Bezirk in Wien. Zum anderen unterstreichen diese verhüllten Gesichter das Typen- und Maskenhafte der Horvath'schen Figuren.

Dass durch diese starke Setzung schließlich die Corona-Hygieneregeln auch in Schauspiel-Nahdistanz erfüllt werden, erscheint wie eine Nebensache. Dennoch agieren die Horvath-Figuren an diesem Abend vor allem auf Distanz. Sie brüllen, singen sehnsüchtig nach der Liebe (die absolut beeindruckende Eva Maria Nikolaus studierte vor ihrem Schauspielstudium Klassischen Gesang) und – zumindest der "Zauberkönig" und Oskar – feiern lauthals das Patriarchat als einzig wahre Paar-Daseinsform.

WienerWald 2 560 ArnoDeclair uVielbuntes Kostümpatchwork beim Geistertreffen © Arno Declair

Kein Wunder, dass Marianne sich an ihrem Verlobungstag, den Oskar feist auf der Keramik sitzend verbringt, zu Alfred (Daniel Hoevels) hinüberrettet. Rhythmisch gymnastisch schwingen sie dann ihre Arme, im Gleichklang und doch ungleich. Immerhin: Für Marianne ist dies der Aufbruch in ihr eigenes Leben: "Ich geh direkt aus mir heraus und schau mir nach". Später wird sie diese Verbindung bereuen und das gemeinsame Kind verlieren. Später ist diese Liebe für Hoevels' Alfred nurmehr ein Unbeteiligtes "ich bin da in etwas hineingeraten".

Überblendete, mittanzende Bilder

Fragmentarisch und doch eindringlich skizziert Goetze bis zu diesem bitteren Stückende Mariannes Geschichte, erzählt von anderen Wiener-Wald-Geschichten, von Liebeleien, Badefreuden und Übergriffen und auch in einer langen, ekstatischen Silent-Disko-Szene vom Auskommen Mariannes als Nachtclub-Tänzerin. Dann sind die Live-Kameras (Marcel Didolff, Antje Haubenreisser, Peter Stein, Florian Dermastia) mittendrin und nah und wacklig dran. Aufnahmen werden überblendet und verwischt – und tanzen mit. Ein Vorteil von Film und Livestream (Schnitt: Alexander Grasseck).

Denn umso bedrückender (und starrer) ist die nachfolgende Stille und Goetzes letztes Bild: eine Marianne im Blut bespritzen Hochzeitskleid, die ihr – dann entblößt – Gesicht und Haar tief in den Körper einer Babypuppe vergräbt. Erschreckend gut (die gelenkte Blickführung durch die Kameras vergisst man bald) funktioniert Goetzes alptraumhafte Livestream-Inszenierung. Die maskenhaften Figuren berühren, gerade durch ihre Anonymität und Austauschbarkeit, die Schauspieler*innen lassen Schaudern, gerade durch das Ungefähre in ihrer Figurenzeichnung. Eine atmosphärisch dichte "Geistervorstellung", deren Geister noch lange nicht tot sind.

 

Geschichten aus dem Wiener Wald
von Ödön von Horváth
Regie, Bühne und Kostüme: Heike M. Goetze, Musik: Fabian Kalker, 
Licht: Annette ter Meulen, 
Dramaturgie: Ralf Fiedler, LiveStream Kamera: Marcel Didolff, Antje Haubenreisser, Peter Stein, Florian Dermastia
, LiveStream Schnitt: Alexander Grasseck
, Schnittassistenz: Vanessa Holtappels,
Ton: Roman Schneider, Kai Altmann
Mit: Simon Brusis, Daniel Hoevels, Jan-Peter Kampwirth, Eva Maria Nikolaus, Josef Ostendorf, Maximilian Scheidt, Julia Wieninger
Livestream-Premiere: 7. November 2020
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.de

 

Kritikenrundschau

Heike M. Goetze präsentiere sich als radikale, überaus konsequente Ästhetin, schreibt Annette Stiekele im Hamburger Abendblatt (9.11.2020). Die Kostüme gäben den Figuren etwas durchweg Künstliches, Enthumanisiertes. "Sie sind bloße Träger von Bewusstsein, allerdings eines verrohten, sehr reduzierten Bewusstseins." Durchweg drastisch deklamierten sie die Horváth-Sätze, "agieren mit der Heftigkeit ihrer Verzweiflung, das Milieu ist spürbar und zugleich aufgelöst". Stiekele schließt: "Eine baldige Live-Premiere ist dieser unerbittlich eigenwilligen Inszenierung sehr zu wünschen."

Im NDR 90,3 Kulturjournal (9.11.2020) heißt es über den Abend: "Das Atmosphärische schluckt jede Nuance. Online ist diese Premiere ein zweifelhafter Genuss. Die Stimmen sind nicht immer zuzuordnen, alles suppt ineinander." Und weiter: "Das menschliche Gesicht. Hier wird der Abend plastisch, hierhin führt er: Es ist ein starker, ein mutiger Versuch, Kunst zu machen aus dem Jetzt. Aus diesen Masken, diesem Abstandsgebot. Schon ein hartes Los für ein Ensemble, das Gesicht nicht zeigen zu können. Das macht den Abend auch zu einer Zumutung."
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Kommentare  
Wiener Wald /Stream, Hamburg: diffuses Nirvana
Geister- und rätselhaft war die wortlose erste Viertelstunde dieses Abends, bei der die Spieler*innen wie Zombies über die Bühne huschten. Ihre Gesichter sind hinter Tüchern und Masken verborgen, die Regisseurin Heike M. Goetze selbst entworfen hat. Auch später, als die ersten Worte fallen, ist das Horváth-Personal nur schwer zu unterscheiden. Als „fremdartig-unfertige Menschen“, die man kaum Individuen nennen könne, sehe Goetze und ihr Dramaturg Ralf Fiedler die Figuren aus dem Volksstück.

In ausführlichen, philologisch interessanten Aufsätzen im Programmheft begründen sie die Regie-Entscheidung, warum alle Spieler*innen hinter Masken verschwinden, mit zahlreichen Belegen für ihre These, dass die „Maske“ und die „Demaskierung“ zentrale Begriffe in Horváths Werk sind. Der Preis dieser Regie-Entscheidung ist jedoch, dass auch die gesamte Inszenierung an Konturen verliert und in einem diffusen Nirvana versinkt.

Zwischen geckerndem Lachen, einer Parodie auf die Wiener Walzer-Seligkeit und Schweinehälften, die über die Bühne gezerrt werden, vollzieht sich eine Horváth-Freestyle-Version, bei der Josef Ostendorfs „Zauberkönig“ noch am klarsten zu erkennen ist.

Heike M. Goetze überrascht bei ihrer ersten Arbeit in Hamburg mit einer sehr experimentierfreudigen und eigenwilligen ästhetischen Handschrift. Erst vor wenigen Wochen polarisierte ihre Inszenierung von Sivan Ben Yishais „Liebe/eine argumentative Übung“, einem stummen, tranceartigen Tanz, bei dem der Text über weite Strecken nur auf einem Schriftband mitlief. Ähnlich schwer zugänglich ist auch diese Horváth-Inszenierung.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/11/07/geschichten-aus-dem-wiener-wald-schauspielhaus-hamburg-kritik/
Wiener Wald /Stream, Hamburg: ohne Gesichter
Zunächst ein großes Dankeschön für den technisch perfekten Live stream der Premiere. Ein Experiment, welches super geklappt hat. Natürlich ohne die einmalige Atmosphäre einer normalen Premiere, aber ein wunderbares Lebenszeichen des Schauspielhauses.

Leider wurde es dann aber ein sehr schwer verständlicher Abend. Die einzelnen Figuren wurden erst im Laufe des Stückes zu Charakteren mit individuellen Eigenschaften, ihre Masken verhinderten einen wirklichen Zugang zu ihren Gefühlen . Für mich standen alle Darsteller damit nur stellvertretend für Bevölkerungsgruppen ihrer Zeit. Auch ihre Aktionen waren bis auf den eindringlichen Schluss, sehr alltäglich.
Möglicherweise hat die Regisseurin auch genau dieses beabsichtigt- also zu zeigen, dass die Personen nur stellvertretend für das Verhalten der Gesellschaft stehen.
Aber Theater hat so viele gestalterischen Möglichkeiten. Warum beraubt man sich dieser und spielt ohne Gesichter, ohne individuelle Kostüme?
Ich konnte kein Programmheft vorab lesen. Ich möchte es auch nicht müssen. Ich bin jederzeit zum Mitdenken bereit. Aber ich möchte Gefühle sehen und nicht nur anonyme Masken.
Geschichten aus dem Wienerwald, Hamburg: Zumutung
ZUMUTUNG, auf der ganzen Linie.
Eine bis zur Unkenntlichkeit verzerrte Inszenierung, Eines ansonsten nachvollziehbaren Theaterstücks.
Im Einzelnen möchte man die Regisseurin fragen, was sie sich dabei gedacht hat!!?
Horvath wäre sicherlich entsetzt, was aus seinem hervorragendem Stück gemacht worden ist.......und wir haben das Theater nach 30 Minuten verlassen müssen. Rolf und Ursula Grimm
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