"Wo sind Sie gerade?"

von Joseph Hanimann

Paris, 23. November 2020. Improvisation ist dem französischen Theater nicht unbekannt. Durch die Dauerimprovisation aufgrund ständig wechselnder Covid-Maßnahmen sind die Theater in Frankreich aber an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit und Experimentierfreude geraten. Nach dem Lockdown des Frühjahrs hatten sie einen reichhaltigen Saisonstart mit den entsprechenden sanitären Vorsichtsregeln ausgearbeitet, jedes auf eigene Weise. Für seine "Iphigenie" von Racine, eines der Highlights der neuen Spielzeit, hatte Stéphane Braunschweig am Théâtre de l’Odéon mit zwei gesondert spielenden Besetzungsteams geprobt, damit die Produktion weiterlaufen kann, falls ein Schauspieler positiv getestet wird. Doch auch das half nichts. Nach der Mitte Oktober verhängten Ausgangssperre ab 21 Uhr in Paris und anderen Städten, die die Aufführungen ins enge Zeitfenster zwischen Feierabend und Abendruhe zwängte, kam zwei Wochen später der zweite Lockdown fürs ganze Land. Und damit die Rückkehr für alle ans Fenster der Computerbildschirme.

Über die allenthalben praktizierten Livestream-Aufführungen hinaus versuchten manche sich auch im Experimentieren mit den spezifischen Möglichkeiten dieser neuen Formate. Zu den originellsten Beispielen gehört eine Produktion des Théâtre National de Bretagne in Rennes. Mit Jean Genets Stück "Splendid's" hatte dieses Haus eine sehr aktuelle Vorlage praktisch griffbereit.

Genets Gefängniszellen via Zoom

Sieben Kriminelle und ein ehemaliger Polizist halten sich mit ihrer Geisel, eine Millionärstochter, in einem von der Polizei umstellten Hotel auf. Das Mädchen ist aber schon tot. Um die Stürmung des Hotels durch die Polizei hinauszuzögern, erklärt der Bandenchef sich bereit, in den Kleidern des Mädchens sich auf dem Hotelbalkon zu zeigen.

Der Theaterleiter in Rennes, Arthur Nauzyciel, hatte das postum publizierte Stück Genets vor fünf Jahren schon mit amerikanischen Schauspielern auf Englisch herausgebracht. Während dem Eingeschlossensein zwischen den eigenen vier Wänden beim ersten Lockdown im Frühjahr wollten Darsteller und Regisseur diese Szenen des Ausharrens bis zum bitteren Ende zwischen den Hotelzimmerwänden wiederaufnehmen. Die Proben begannen auf Zoom. Von dem wegen Covid abgesagten Festival "Disparitions/Aparitions" des Nationaltheaters Rennes ist dieses Stück nun die einzige Veranstaltung, die halbwegs gerettet werden konnte.

Splendids RennesJean Genets "Splendid's" als Zoom-Inszenierung, die Mitte November vier Abende lang lief am Théâtre National de Bretagne in Rennes © TNB

Drei Abende lang spielten Mitte November die per Zoom aus ihren jeweiligen Wohnzimmern in New York, Los Angeles, Atlanta, Boston zusammengeschalteten Darsteller. Und auf der Internetseite des Theaters von Rennes konnte man seinen Zuschauerplatz vor dem Bildschirm reservieren. Mehrere Hundert aus aller Welt waren es am Premierenabend.

Tatsächlich haben die Kästchenbilder auf dem Computer etwas von den bei Genet immer wieder vorkommenden Hotelzimmern oder Gefängniszellen. Der Autor hat sein Stück "Spendid’s" 1948 im Gefängnis geschrieben und gleich danach seinen Film "Un chant d'amour" gedreht, in dem die Häftlinge durch Wandlöcher oder Klopfen untereinander und durch den Türspion mit einem Polizisten exhibitionistische Annäherungsspiele veranstalten. Der Film dient in der Aufführung als Einstieg. Und die physisch voneinander getrennten Darsteller müssen vor dem Kameraspion ihres Computers alle Interaktion auf die Sprache, auf Mimik und Gesten verlegen.

splendids 12 cr dit frederic nauczycielFantasierte Posen wie bei Genet, aber am Ende doch mehr eine lose Illusion: "Splendid's" © Frederic Nauczyciel

Das Experiment der sieben Gesellen in ihren Zoom-Zellen ist so interessant wie ernüchternd. Statt einer hoch ritualisierten Kollektivhandlung entsteht im digitalen Nirgendwo ein verpixeltes Mosaik aus rudimentär interagierenden Soloperformern. Synchronisiert kleiden sie sich aus und dann, wenn am Schluss bei der Stürmung der Polizist unter ihnen wieder Polizist werden will und einen nach dem anderen erschießt, mit weißem Hemd und Schlips wie zum Fest wieder an. Wo die fantasierten Posen bei Genet durch das Glücksdefizit der realen Figuren in der Wirklichkeit verankert werden, driftet hier das Ganze unweigerlich ins Reich der Vorstellung ab. Als wäre das Geschehen nur imaginiert im viereckig gerahmten Hirn jedes Einzelnen von ihnen. Theater als Hypothese für Krisenzeiten.

Telefon statt Programm für Krankenhäuser 

Der Krise direkt ins Auge zu blicken versucht man am Pariser Théâtre de la Ville. Dessen Leiter Emmanuel Demarcy-Mota hat erkannt, als man allabends noch von den Balkonen aus dem Pflegepersonal applaudierte, dass es zwischen Theater- und Krankenhäusern doch Verbindungen geben müsse.

Wo die Schauspieler nicht mehr auf die Bühne konnten, entwickelte er mit den Spitälern zusammen ein Spielprogramm für die Krankenzimmer. In seinem Haus veranstaltete er auch öffentliche Begegnungen zwischen Ärzten, Forschern, Pflegern und Künstlern zu ausgesuchten Themen, begleitet von Lesungen und musikalischen Einlagen.

Und wo nun das ebenfalls nicht mehr geht, bietet das Théâtre de la Ville ein mit dem Autor Fabrice Melquiot erarbeitetes Programm "poetischer Telefonkonsultationen" an. Hundert Künstler aus verschiedenen Ländern stehen für Ferngespräche mit Opfern von kulturellen Entzugserscheinungen bereit. Die Termine sind täglich zwischen 10 und 19 Uhr per Internet beim Theater auszumachen. "Wo sind Sie gerade?" oder "Wie geht es Ihnen" sind die Standardfragen, die dann zum Vorlesen eines Gedichts, zum Vorspielen eines Lieds oder eines Musikstücks führen können. Und am Schluss wird eventuell ein poetisches Rezept ausgestellt.

Cadavre exquis mit dem Publikum

Auf andere Weise poetisch geht es am Pariser Théâtre National de la Colline her. Auf Live-Streaming und Online-Aufführungen wird dort ganz verzichtet. "Unser Angebot beschränkt sich auf eine reale Verbindung zwischen Sprechenden und Zuhörenden, wie sie zwischen dem durch ein Labyrinth Irrenden und der ihm den Faden Reichenden besteht", schreibt der Colline-Direktor Wajdi Mouawad in einem Manifest zur gegenwärtigen Krisenlage.

wajdi mouawad c simon gosselinWajdi Mouawad © Simon Gosselin

Das Programm seines Theaters steht im Zeichen Ariadnes. Es fächert sich in ein Bouquet reizvoller Initiativen auf. "Bouche-à-oreille" (Ins Ohr geflüstert) heißt ein gerade angelaufener Zyklus. Er besteht darin, dass Mouawad einem Partner, ob Künstler oder Zuschauer, per Telefon eine Geschichte erzählte, die dieser dann einem weiteren Partner weitererzählen musste, und so immer fort, bis die Geschichte am Ende des Lockdowns – wahrscheinlich stark erweitert – auf die reale Bühne des Theaters zurückkehren wird. Ähnlich läuft es im Zyklus "Cadavre exquis" nach dem surrealistischen Verfahren der kollektiven Geschichten- und Bildproduktion. Jeder muss in einer Videosequenz ans letzte Bild seines Vorgängers anknüpfen.

Im Zyklus "Papiersticken: Am Textfaden" schließlich bekommen 200 interessierte Abonnenten des Colline-Theaters per Post ein Wort samt einem Faden und einer Nadel zugeschickt, das sie nach einer bestimmten Anleitung aussticken sollen. Sobald das Theater wieder aufmachen kann, werden die Teilnehmer eingeladen, ihre Wortstickereien gemeinsam am Ort zu einem Text zusammenzufügen.

Überbrückung für Intermittents

Wann allerdings das sein wird, bleibt die große Frage. Macron hat allerdings in Aussicht gestellt, dass die Theater Mitte Dezember mit verschärften Sicherheitsregeln und unter Einhaltung der Ausgangssperre ab 21 Uhr wieder aufmachen können. Mehr als in Deutschland trifft diese Notlage in Frankreich, wo nur wenige Theater ein festes Ensemble haben, die Schauspieler und Bühnentechniker direkt. Da sie mehrheitlich jeweils für bestimmte Einzelproduktionen engagiert werden, stehen viele plötzlich ohne Einnahmen und womöglich bald auch ohne Arbeitslosengeld da.

Der französische Arbeitslosenschutz der "Intermittents" in den Bereichen Theater, Tanz, Oper, Konzert, Filmproduktion sieht vor, dass man mindestens 507 Stunden gearbeitet haben muss in den vergangenen 12 Monaten, um Anrecht auf maximal ein Jahr Arbeitslosengeld zu bekommen. Da seit Frühjahr so gut wie nichts mehr läuft, wurde die Zählung bis Ende August 2021 ausgesetzt. Jeder Registrierte bekommt bis dann Unterstützung, auch wenn er die Mindeststundenzahl nicht erreicht. Darüber hinaus versuchen der Staat, die Regionen und Städte, mit Hilfsprogrammen einzuspringen. So hat das Kulturministerium im Sommer eine Sonderhilfe von 432 Millionen Euro für das "Spectacle vivant" angekündigt und im Oktober dann nochmals 85 Millionen draufgelegt.

Dennoch dürften viele Truppen in Frankreich dieses Katastrophenjahr nicht überleben. Ob der Einfallsreichtum an Initiativen und Experimenten das Register der Theaterdarstellung künstlerisch nachhaltig erweitern, ist ungewiss. Immerhin versetzt er die Institution Theater in die Lage, ihr Betriebsmodell zu überdenken.

Hanimann Joseph cEnguerrand hfJoseph Hanimann ist Essayist und Kritiker in Paris, seit 1986 Kulturkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, danach für die Süddeutsche Zeitung. 2011 gewann er den Berliner Preis für Literaturkritik.