Goodbye Kreisky - Brut Wien
Matriarchat im Fußballstadion
von Martin Thomas Pesl
Wien, 25. November 2020. Was bisher geschah, teilweise lässt es sich in der Nachtkritik zu Nestervals Vorgängerproduktion "Der Kreisky-Test" nachlesen. Die war Mitte April 2020 und geprägt von großer Aufregung wegen des spontanen Einsatzes von Zoom und so. Jetzt, etliche Netztheater-Konferenzen später, sitzen wir also wieder vor unseren Rechnern.
Livestream aus dem Stadion
Auch diesmal hatte das Team um Herrn Finnland (Regie) und Frau Löfberg (Buch) ein immersives Echtleben-Theaterabenteuer geplant, in einem Fußballstadion, mit verschiedenen Kleingruppen, die den zahlreichen Performer:innen aus dem Nesterval-Ensemble treppauf, treppab durch die Räume folgen. Und auch diesmal ist ein Veranstaltungsverbot dazwischengekommen. Den Plan Z wie Zoom dürfte man diesmal schon in der Tasche gehabt haben, denn am Tag eins des Lockdowns kam die Info: Erworbene Karten (und bei diesem notorisch ausverkauften Trupp sind das stets: alle Karten) behalten ihre Gültigkeit.
Der Kult auf dem Feld Foto: Lorenz Tröbinger
Irgendwie kommt es einem aber mühsamer vor, jetzt wo es nicht mehr neu ist. Bevor es zur Sache geht, müssen Galerieansicht, Stummschalten, Bildschirmteilen nochmal ausführlich erklärt werden, in diesem Fall von Analyse044_Andrea: Pamina Puls moderiert mit einem Mix aus dienstbarer Reiseleiterin und News-Reporterin eine der sechs Break-out-Sessions, was in den übrigen fünf passiert, kann man nur erahnen. Endlich schaltet sie live (teils wirklich live, teils nur vorgespiegelt, das lässt sich nicht auseinanderhalten) in die Generali-Arena, das Stadion des FK Austria Wien, wo die 15 Überlebenden der freigelegten Untergrund-Anlage "Goodbye Kreisky" vorübergehend untergekommen sind.
Die Rituale der "Bedroten"
Auf dem Spielfeld huldigen sie in getragenen Gesängen und Tänzen ihrer Göttin, der verstorbenen Gertrud Nesterval, die dereinst mit ihrem Mentor, dem großen österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky brach, um heimlich unter der Erde Wiens die wahre Sozialdemokratie zu konservieren. Was sie hinterlassen hat, ist freilich ein gar nicht utopischer Haufen marxistisch gleichgeschalteter Frömmlinge, die sich die "Bedroten" nennen (kein Rechtschreibfehler) und à la "Brave New World" unhinterfragt den ihnen zugeteilten Aufgaben nachgehen. Nur dass hier die Männer die Wäsche machen und die Frauen Politik.
Die Überwacher*innen von Nesterval © Lorenz Tröbinger
Das Matriarchat regiert übrigens auch innerhalb der Kommissionen, die das Geschehen verfolgen und am Ende dessen Rechtmäßigkeit bestätigen sollen. Entscheidungen, etwa darüber, welchen Figuren man über das Gelände der Arena folgen möchte, treffen ausschließlich die Teilnehmerinnen – um peinliche Situationen zu vermeiden, hat Analyse044_Andrea anfangs alle nach ihren bevorzugten Pronomen gefragt. Die Kommissionskolleginnen votieren dann zum Beispiel nahezu einhellig dafür, nicht den Nesterval-Damen bei der Abhaltung ihrer Wahl zuzusehen, sondern den Herren beim Duschen.
Wuchtige Erzählung
Lasst euch gesagt sein, Männer: Es hat etwas Befreiendes, einmal nicht nach seiner Meinung gefragt zu werden – und beim Mitmachtheater nicht mitmachen zu dürfen! Die Gelegenheiten zum Eingriff sind ohnedies eher spärlich über die gut zweistündige Performance verteilt, die daher immer wieder dazu verleitet, sich genauso ablenken zu lassen wie bei jeder Homeoffice-Videokonferenz auch. Dass die Tänze auf dem Fußballfeld so körnig aussehen wie Fernsehbilder aus Nordkorea, mag gewollt sein, aber jeder dem überforderten Internet zum Opfer fallende Fetzen der Garderobengespräche mindert das Interesse an den zahlreichen Figuren, deren Beziehungsgeflechte und Ideen den Plot bilden.
Mehr noch als die Internetverbindung erweist sich letztlich das Format des Game-Theaters als zu schwach für die wuchtige Erzählung, die hier unbekümmert hingestellt wird: Nachkommen einer Kreisky-Abtrünnigen, die noch nie den Himmel gesehen haben, werden aus einem Bunker gerettet und erleben innere und äußere Konflikte im Kontakt mit einer aus den Fugen geratenen Umwelt: Sollen sie zusammenbleiben, aber wenn ja, dann wie? Sollen sie in die Welt hinaus? Hallo, das will ich als teuer produzierte, mindestens dreistaffelige Netflix-Serie mit komplexen Charakteren und tollen Schauspieler:innen sehen, nicht Improübung vom Reißbrett.
Für das beherzte Umstellen von einem Medium auf das andere verdient Nesterval natürlich dennoch Respekt. Für den "Kreisky-Test" gab es bei der Nestroy-Verleihung im Oktober den Corona-Spezialpreis. Wenn es diese Kategorie 2021 wieder geben muss – was sich wohl niemand wünscht –, ist Nesterval bestimmt wieder gut im Rennen.
Goodbye Kreisky
von Nesterval
Regie: Herr Finnland, Buch: Frau Löfberg, Choreografie: Jerôme Knols, Setdesign: Andrea Konrad, Sounddesign: Alkis Vlassakakis, Josef Rabitsch, Film: Lorenz Tröbinger, Kostüm: Andy Reiter, Dramaturgie: Andi Fleck.
Mit: Sabine Anders, Eva Billisich, Rita Brandneulinger, Gellert Gerson Butter, David Demofike, Cuqui Espinoza, Andreas Fleck, Julia Fuchs, Nicole Gerfertz, Laura Hermann, Miriam Hie, Peter Hörmanseder, Romy Hrubeš, Niklas-Sven Kerck, Astôn Matters, Willy Mutzenpachner, Pamina Puls, Josef Rabitsch, Andy Reiter, Johannes Scheutz, Michaela Schmidlechner, Chiara Seide, Claudia Six, Simon Stockinger, Alexandra Thompson, Alkis Vlassakakis, Martin Walanka, Christopher Wurmdobler.
Premiere am 25. November 2020
Dauer: 2 Stunden, eine sehr kurze Pause
www.brut-wien.at
www.nesterval.at
Kritikenrundschau
Katrin Nussmayr von der Presse (27.11.2020) schreibt, der Abend enttäusche im Vergleich zum Vorgänger, was auch daran liege, dass die Teilnehmerkapazität um ein Vielfaches erhöht worden sei. "Statt wirklich mit Impro-versierten Schauspielern zu interagieren, beobachtet man nun, in Gruppen zusammengefasst, ein vorgegebenes Schauspiel und kann lediglich von Szene zu Szene wechseln." Und weiter: "Zu behäbig muten viele Dialoge an, nur Weniges passiert wirklich 'live', erst nach zwei Stunden gibt es eine handlungsrelevante Entscheidung zu treffen: So wird das Ganze bald witzlos."
Margarete Affenzeller vom Standard (26.11.2020) lobt "das tolle Sounddesign von Alkis Vlassakakis und Josef Rabitsch". Sie resümiert: "Für Lockdown-Bedingungen war das gar nicht wenig Theater, auch wenn die bildschirmblaue Konferenzästhetik alles rastert."
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Denkt man an die Wahl in den USA, die vor kurzem die Bildschirme füllte, lässt sich das total gut nachvollziehen. Eine permanente Überproduktion von irrelevanten News, die nur darauf abzielt das wahre, recht banale Problem zu vertuschen, das des amerikanischen Wahlsystems.
Als auf zwei Stunden komprimiertes Online-Mitmachtheater zünden die Ideen nicht wie erhofft und wird das Potenzial nicht ausgeschöpft.