Liebesgrüße aus Montevideo

von Georg Kasch

Dessau, 26. November 2020. Was wird hier erzählt? 1. Ein Dramatiker fliegt nach Montevideo in Uruguay, um sich die Uraufführung seines Auftragswerks anzuschauen, verheddert sich aber stattdessen in der Stadt. 2. Eine Geheimagentin reist ihm hinterher, weil sie ihn für einen Platin-Schmuggler hält, geht aber ebenso in der Unmenge an Spuren verloren. 3. Ein vermeintlicher Theaterdirektor lässt durchblicken, dass die Uraufführung eine reine Sponsoren-Abzocke war und nie stattgefunden hat.

Aber ist das wirklich so? Was tatsächlich geschieht, ist auch nach gründlichem Textstudium nicht so leicht zu ergründen. Denn einerseits lässt Michel Decar dieselbe Geschichte von drei Menschen sehr verschieden erzählen – da werden je nach Sichtweise aus einem Souvenir ein Geheimsymbol, aus einem kleinen Frühstück ein dekadentes Gelage, aus Arbeitsbeziehungen erotisch aufgeladene Dreiecksgeschichten. Andererseits sind die Monologe durch zahlreiche Motive und Figuren miteinander verknüpft und drehen sich ohnehin um die großen Themen Liebe, Begehren, Tod. Decar schreibt seine dramatischen Texte ja schon länger in einer Art magischem Realismus, wo eine konkrete Situation jederzeit in Traumlogik kippen kann.

Debüt als Regisseur

"Nachts im Ozean" ist das erste Stück, das der Autor selbst inszeniert (jedenfalls nach seinen Erstlingen an der Uni-Studiobühne). Die Uraufführung am Anhaltischen Theater passt in ihrer Absurdität zum Text: Wegen Corona dürfen nur eine Handvoll Kritiker*innen und wenige Mitarbeitende ins Dessauer Haus. Einzeln hocken sie auf der geräumigen Bühne und blicken über die Spielfläche in den riesigen Saal: Weil die Nebenspielstätte nicht coronatauglich ist, dient diese "Raumbühne" vorübergehend als Lösung für die kleineren Projekte.

NachtsimOzean1 1200 Claudia Heysel Laura Eichten als Geheimagentin Nightingale © Claudia Heysel

Uraufführung ist allerdings ein großes Wort für ein Stück, das bereits vor eineinhalb Jahren als Hörspiel herauskam, ebenfalls in der Regie des Autors. Diese Erstverwendung steckt tief im Text, dessen drei Monologe anschaulich und verführerisch die Reaktionen der Menschen beschreiben, die Hitze Montevideos, die altmodische Schwere des Hotels. Wenn Begegnungen, Gespräche, Handlungen schon in elegant knisternder Prosa festgehalten sind – was bitte soll die Bühne dann noch zeigen?
Nicht viel.

Goethe fördert

Die drei Spielenden treten nacheinander in Laura Kirsts schwarz glänzenden Kostümen auf wie Edelgrufties und sprechen ihre Texte. Niklas Herzbergs Dramatiker Moskowitz schlackert dabei unmotiviert mit den Armen und wirkt auch sonst ziemlich halbseiden; Laura Eichtens Geheimagentin Nightingale umgarnt die Worte und die verhüllten Bühnengegenstände wie eine Spinne, um am Ende dem Gegner ins Netz zu gehen; Roman Weltziens Cáceres mit Spiegelglatze überm schwarzen Gehrock zappelt wie ein durchgeknallter James-Bond-Bösewicht herum (und zieht einen damit merkwürdigerweise in seinen Bann).

Jeweils gegen Ende ihrer Ausführungen holen sie einige der Laken von den Säulen, Statuen und Büsten, die nun gipsweiß die Bühne bevölkern: Erinnerungen an eine europäische Kultur, die einst die Welt besiedelte, auch Montevideo. Und die es jetzt wieder versucht, etwa mit Moskowitz' Stück (über ein deutsches Nazi-Schiff, die vor Montevideo versenkte Admiral Graf Spee), das unter anderem vom Goethe-Institut gefördert wird.

NachtsimOzean4 1200 Claudia Heysel Die Geschichte steht Spalier © Claudia Heysel

Lange lässt der Regisseur Decar, der ja wissen muss, was der Autor Decar gewollt hat, offen, wohin die Reise des Textes geht. Ein wenig Geisterstimmung und surreale Kippmomente fügt er hinzu, lässt die Tonspur hörspielartig knacken (Lukas Darnstädt war schon für den Hörspielsound zuständig), dazu ein wenig das Licht wabern. Stellt drei goldene Gegenstände auf Podesten aus, die als zentrale Motive durchs Stück geistern: einen Hasen, eine Badehose (in glänzender Geschenkverpackung), ein Handy.

Nur für Verrückte

Vor allem aber legt er mit dem strippenziehenden Cáceres nahe, dass das eigentliche Stückthema nicht die drei Versionen einer Geschichte sind. Sondern all die Spuren und Zeichen, die einem Ozean gleich die Welt und das Netz bevölkern und die zu interpretieren unmöglich ist. Wer es versucht, wird verrückt – oder Weltverschwörer.

Was ebenso gegenwärtig erscheint wie die stückinterne Suche nach einem fiktiven (und vermutlich nicht existierenden) Theater, die eine reale Geisterpremiere in einem fast leeren Theater feiert. So erweist sich als größte Leistung des Regisseurs Decar, dass der Text des Autors Decar wirkt, als wäre er eben erst geschrieben worden. Und das ist doch schon was. Für Bilder, die sich am Text reiben, müssen dann andere sorgen.

 

Nachts im Ozean
von Michel Decar
Uraufführung
Inszenierung: Michel Decar, Bühne und Kostüme: Laura Kirst, Musik: Lukas Darnstädt, Lichtdesign: Miriam Damm, Dramaturgie: Alexander Kohlmann.
Mit: Niklas Herzberg, Laura Eichten, Roman Weltzien.
Premiere am 26. November 2020
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

https://anhaltisches-theater.de

 

Kritikenrundschau

Versuchsanordnungen wie diese seien "auf der Bühne immer dann interessant, wenn sich die Figuren plötzlich gegen das Schicksal wenden, das ihnen der allmächtige Autor auferlegt", so Eberhard Spreng im Deutschlandfunk (27.11.2020). Das passiere in Decars "Nachts im Ozean" nicht, allein schon, weil das metaphorisch auf die Welt der Museen verweisende Bühnenbild ins diffus Symbolische führe. "So wird aus dem Spiel Spielerei." Und doch schlage etwas aus der Motivwelt des Stücks in die Wahrnehmung dieses Abends: "Wenn man aus dem leeren Theater ins ausgestorbene abendliche Dessau heraustritt, ist man nicht ganz sicher, ob hier gerade, genau wie in Montevideo, eine Uraufführung stattgefunden hat."

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