Vielleicht mal beten

von Michael Wolf

1. Dezember 2020. Vor kurzem habe ich "Gott" gesehen, die TV-Adaption des Stücks von Ferdinand von Schirach (am Theater uraufgeführt in Berlin und Düsseldorf). Ich halte den Film für solide Fernsehunterhaltung, gestört hat mich nur der Titel. Denn es geht hier natürlich kein bisschen um Gott, sondern um die Frage, wie man die Tatsache des Todes gesellschaftlich am besten managt. Folgerichtig ist der Text als Gerichtsdrama angelegt. Das ist das Erfolgsrezept des Autors. Schirach bricht die ganz großen Themen auf ihre juristische Ebene herunter, leitet einen so gleichsam an einem schützenden Geländer entlang immerhin in Sichtweite existenzieller Abgründe. Und das ganz ohne transzendenten Schwindel, jeder Zweifel erübrigt sich hier, sicher führen die Argumente zum Ziel, am Schluss einer 90-minütigen Erörterung ist die Antwort auf eine weitere Frage nach Sein oder Nichtsein auch schon wieder geklärt.

Religiös wie philosophisch unmusikalisch

Das ist okay für die Primetime des Ersten, fürs Theater ist es wenig. Nun mag man einwenden, dass von Schirach kein Theatermann ist, er hat für sein Infotainment nur einen weiteren Distributionskanal gewonnen. Allerdings sieht es in weiten Teilen des Theaters gar nicht so verschieden aus. Man benutzt hier zwar auch mal Worte statt Wörter, schreibt "Gott", "Mensch" oder "Tod" in seine Stückankündigungen, weicht deren Bedeutungen aber aus, statt ihnen nachzuspüren, begnügt sich mit dem Profanen.

kolumne wolfEin Beispiel: Im ersten Lockdown, im Frühjahr, landete Albert Camus' "Die Pest" plötzlich wieder auf den Bestsellerlisten. Die Theater wollte da nicht hintanstehen. Sie streamten Lesungen des Buchs, erkoren es eilfertig zum Stoff der Stunde. Allerdings ganz unabhängig von seinem Inhalt, geht es bei Camus, sieht man von einer historischen Lesart ab, die auf die Besatzungszeit Frankreichs zielt, doch nicht um eine konkrete Katastrophe, und ganz sicher nicht eigentlich um eine Seuche, sondern um die Last der Existenz schlechthin, um das Skandalon des Todes und mehr noch um die Grundlosigkeit, jemals geboren worden zu sein.

Es ist schwer vorstellbar, dass Theatermacher sich insbesondere für diese Punkte interessieren, wenn sie wohl bald zahlreich den Roman adaptieren. Ich erwarte Toilettenpapier-Witze, Drosten-Imitationen und Querdenker-Chöre. Denn ein Großteil dieser Branche ist religiös wie philosophisch leider unmusikalisch, da mangelt es sowohl an Ehrgeiz als auch offenbar am Interesse, tiefer zu bohren.

Was hält die Welt im Innersten zusammen?

Ob Trump, Klimawandel, AfD, ökologische, politische oder moralische Katastrophen, Theater ist dabei, will mitreden und die Welt verändern. Wie diese Welt aber überhaupt beschaffen ist, gar was sie im Innersten zusammenhält, über diese Frage nuscheln Schauspieler gern verlegen hinweg, denn warum sich überhaupt mit etwas befassen, was man in den letzten Jahrtausenden noch nicht zufriedenstellend geklärt hat? Meine Antwort wäre: gerade deswegen.

Menschen sind nicht nur soziale, politische oder psychologische Wesen. Was darüber hinausgeht, adressieren Theater aber nur selten. Man spricht lieber den Bürger, den Diskursteilnehmer, den Mann oder die Frau an und damit Ausdifferenzierungen der menschlichen Existenz, über deren grundlegende Verfasstheit zu spekulieren scheinbar nicht lohnt.

Mehr Philosophie wagen

Dabei wäre das Theater prädestiniert für so etwas wie eine transzendente Forschung. Die Stoffe dafür sind ohnehin schon da, sie werden nur nicht entsprechend gelesen. Gerne verweisen Dramaturgen zum Beispiel darauf, dass ihre Kunst eng mit der attischen Polis, letztlich mit der Demokratie, verwandt ist. So historisch anzweifelbar diese Sichtweise ist, fällt doch auf, dass sie viel seltener den kultische Ursprung der Bühnenkunst betonen. Und so geht es bei Inszenierungen von Aischylos oder Sophokles denn auch oft um Populismus, Autokraten und radikale Parteien, als müsste jede Abstraktion bei der nächsten Tagesschau Halt machen.

Was für eine Verschwendung an Potenzial! Jenseits der Gotteshäuser und Universitäten fiele mir kein geeigneter Raum ein, sich mit den Hard facts des Seins auseinanderzusetzen, also: mehr Philosophie wagen, laut denken, anstatt gleich klug zu meinen, vielleicht sogar mal versuchsweise auf der Bühne beten, und sei es auch nur, um die fehlende Antwort zu beklagen. Ich sähe gern ein solches Stück, eines mit dem Titel "Gott", das diesen Namen auch verdient, ein Stück, das wagt, groß zu denken und Größe zu denken.

 

Michael Wolf, Jahrgang 1988, ist Redakteur bei nachtkritik.de. Er mag Theater am liebsten, wenn es schön ist. Es muss nicht auch noch wahr und gut sein. 

 

Zuletzt bedauerte Michael Wolf das Verschwinden von Genres im Theater.

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