La Périchole - Thomas Schulte-Michels bebildert Jacques Offenbach, zum Glück auch mit Dagmar Manzel
Die Idee steckt im Hochzeitskleid
von Wolfgang Behrens
Berlin, 15. Oktober 2008. Und plötzlich, mitten im zweiten Akt, öffnet sich der Vorhang und gibt den Blick auf die Idee des Abends frei. Bis dahin hatte sich alles vor dem Bühnenportal auf einer samtrot ausgelegten Schräge abgespielt, doch nun sieht man in die Tiefe hinter dem Vorhang, sieht etwas, das ein wahrhaft himmelwärts strebendes Himmelbett sein könnte, sich dann aber als unterer Teil eines kolossalen Brautkleides erweist, welches samt Braut vom Schnürboden herniederschwebt. "Aah! Ooh!" raunt es im Zuschauerraum. In dem Kleid steckt Dagmar Manzel – und sie ist die Idee.
Seit Dagmar Manzel vor einigen Jahren am Deutschen Theater mit gutem Publikumserfolg Jacques Offenbachs "Großherzogin von Gerolstein" darstellte, hat sie sich vermehrt im Gesangsfach umgetan und ist seit Ende der vergangenen Spielzeit sogar an der Komischen Oper – in "Kiss me, Kate" unter der Regie Barrie Koskys – zu erleben. Mit Thomas Schulte-Michels, dem Regisseur der "Gerolsteinerin", ist sie nun ans Berliner Ensemble gegangen, um sich erneut an Offenbach zu versuchen.
Opéra Bouffe mit starker Frau
Diesmal gilt es der "Périchole" – jener armen Bänkelsängerin, die Hungers wegen ihren Partner Piquillo verlässt, um dem Vizekönig von Peru als Mätresse zu dienen, und die am Ende dann doch, nach der wundersamen Unlogik der Offenbach'schen Operette, unberührt in den Armen ihres eigentlichen und ursprünglichen Geliebten landet. Dagmar Manzel stürzt sich in diese Rolle mit aller ihr zu Gebote stehenden Virtuosität: Sie ist mal Vollweib, mal Trotzkopf, mal gibt sie die Unschuld vom Lande, dann die zeternde Xanthippe. Sie gurrt und zwinkert, was das Zeug hält, sie schäkert und stänkert, sie führt komisch gestakste Tanzschritte vor und glänzt in der sogenannten Griserie-Ariette (das ist verdeutscht: "Rausch-Liedchen") mit einer hinreißend verkicherten Trunkenheitsnummer.
Doch seltsam: Alle sängerschauspielerische Verve der Manzel kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie nicht wirklich ein aufschließendes Verhältnis zu ihrer Figur gefunden hat. Schmerzlich zeigt sich dieser Mangel in der berühmten Briefarie – sowohl melodisch als auch emotional die Klimax der Operette –, in der Périchole für ihren Piquillo eine verzweifelte Abschiedsbotschaft verfasst. Dagmar Manzel singt das schön – und mehr auch nicht. Der eigenartigen Offenbach'schen Legierung aus Trauer, Einsicht in die Notwendigkeit und retrospektivem Liebesglück vermag sie keinen nur irgendwie gebrochenen Ausdruck zu verleihen. Am Ende der Arie fahren aus einer Seitenloge aufmerksamkeitsheischend zwei Musikantenarme hervor, die die letzten Töne im Triangelgeklingel versenken – hier offenbart sich der blanke Wille zum bedeutungsfreien Kitsch.
Weder Gesellschaftssatire noch musikalischer Hochgenuss
Das unzweifelhaft komische Talent der Manzel könnte den Abend tragen – wenn da etwas zu tragen wäre. Doch um die Diva herum tobt gefälligstes (und – dem Schlussapplaus zufolge – auch gefallendes) Kunstgewerbe. Offenbachs amüsiersüchtige Masse, die gänzlich freiwillig ein offensichtlich idiotisches System (an der Spitze steht ein Vizekönig!) stützt, um nicht in den Abgrund blicken zu müssen, über dem sie tanzt – was ließen sich daraus, ohne gleich in platte Aktualisierungen zu verfallen, für entlarvende Funken schlagen, die auch noch unsere Gegenwart erhellen würden.
Bei Thomas Schulte-Michels aber steht es von vornherein fest: Tua res non agitur – Deine Sache wird hier nicht betrieben. Der Chor steckt in ästhetizistisch verfremdeter Abendgarderobe vergangener Zeiten oder trägt pittoresk gebundene Chiffon-Schals zur Schau, die eine oder andere Frisur wirkt wie von Robert Wilson skulpturiert – lächerlich uninteressante Pappkameraden alle miteinander.
Veit Schubert vereinigt im Vizekönig einige abgenudelte Duodezdiktatoren-Operettenklischees: vom bedauernswerten, in Liebesdingen zu kurz gekommenen Schuljungen über den kalt lächelnden Tyrannen bis zur losgelassenen Schießbudenfigur – immerhin kann er das spielen, und er kann auch – was eine durchaus Offenbach'sche Kunst ist – gut schlecht singen.
Irrsinn der Musik, das Auf und Zu der Türen
Was man von den meisten Nebenrollen nicht sagen kann, denn hier wird leider allzu oft schlecht schlecht gesungen, zu sehr wird auf den vermeintlichen Opernton geschielt. Und zudem ist das musikalische Arrangement Uwe Hilprechts, das dem anfänglich solistischen Klavier nach und nach instrumentale Farbtupfer hinzufügt, von souveräner Witzlosigkeit und verlässt nie die Sphäre einer harmlosen Salonorchesterbearbeitung (wie sehnt man sich nach den schräg-kaputten Klängen Sylvain Cambrelings zu Marthalers "Pariser Leben").
Am schlimmsten aber wiegt, dass Schulte-Michels den so oft auf die aberwitzigste Weise durchdrehenden, auf genialisch unsinnige Art abhebenden musikalischen Einfällen Offenbachs nichts, aber auch gar nichts an szenischem Irrsinn entgegenzusetzen weiß: Seine Chor- und Personenführung erschöpft sich in biedersten Posen und einer halbwegs beherrschten Tür-auf-Tür-zu-Mechanik. Der große Karl Kraus schrieb einmal von der Distanz "zwischen dem tiefen Unsinn, der das Wesen, und dem flachen Sinn, der das Unwesen der Operette bedeutet". Am Berliner Ensemble wird man Zeuge ihres Unwesens – eine Dagmar Manzel allein als Idee genügt eben nicht.
La Périchole
von Jacques Offenbach
Libretto von Henri Meilhac und Ludovic Halévy
Für das Berliner Ensemble bearbeitet nach der Übersetzung von Heinrich Voigt
Regie und Bühne: Thomas Schulte-Michels, Musikalische Leitung und Arrangement: Uwe Hilprecht, Kostüme: Tanja Liebermann, Chorleitung: Michael Nündel, Choreografie: Norbert Steinwarz.
Mit: Dagamar Manzel, Daniel Friedrich, Veit Schubert, Martin Schneider, Michael Rothmann, Christopher Nell, Uli Pleßmann, Roman Kaminski, Franziska Junge, Anke Engelsmann, Ursula Höpfner-Tabori, Chor und Orchester.
www.berliner-ensemble.de
Mehr lesen zu Thomas Schulte-Michels: Im August 2008 inszenierte er im DT Berlin Arthur Millers Hexenjagd.
Kritikenrundschau
Für Welt-Kritiker Manuel Brug (17.10.) lahmt bei Offenbachs "Périchole" im BE "der allzu billig angerührte Spaß von Anfang an". Zur "gedankenarmen Regie" des "Routinier" Thomas Schulte-Michels "quietschen und geigen grell die Musiker des Orchesterchens". Der Text wirke "lustlos abgespult", die Partitur habe kaum "melodiösen Charme". Im BE klinge "nicht nur jede Latinonummer nach Klatschmarsch", sondern sähe auch die Périchole "eher wie eine Obdachlosenzeitungsverkäuferin in der lokalen S-Bahn" als wie die "Callas von Lima" aus. Dagmar Manzel zeige einfach "(zu) wenig Varianten ihrer ungeküssten Katharina, markiert die burschikose Dampframme und stachlige Kratzbürste". Das ermüde auf Dauer und rutsche "ins Ulknudelige ab". Um sie herum herrsche auch bloß "viel heiße Spielluft und Darsteller-Trübsinn", vor allem bei dem "hölzernen Daniel Friedrich, der selbst seine Couplets nur knödeln kann". Roman Kaminski und vor allem der "leise, feine Götz Schubert als albinohaft spinnöser Don Andrés" machen dem Rezensenten hingegen "mehr Spaß als die deutlich unter Wert verkaufte Hauptsache Manzel".
"Dem Leben draußen, der Weltrealität" stünde Jacques Offenbach 2008 "so fern wie nie", konstatiert Frederik Hanssen im Tagesspiegel (17.10.). "Die Letzten, die seinen Witz, seine Sozialkritik noch verstanden" hätten, seien die DDR-Bürger gewesen, wo jedoch Gedankenfreiheit und statt Monarch/Partei das Geld regiere, wirke Offenbach "unglaublich gestrig". Schulte-Michels erzähle die Dreiecksgeschichte in einem entsprechen zeitlos "märchenhaften Bühnen-Irgendwo" "handwerklich brav" und mit "irrealem Touch" nach. Der Chor klinge "verblüffend gut", die wenigen Instrumente seien klug eingesetzt und Dagmar Manzel singe "wieder großartig". Sie hole "das Maximum aus ihren Nummern heraus", gestalte die Melodien souverän und liefere "ein Kabinettstückchen als betrunkene Braut ab", müsse jedoch "aufpassen, dass ihr die "flinkzüngige Göre nicht zur Charge wird". "Prachtweiber" könne die Manzel "inzwischen fast zu gut", weshalb hier ein anderer, nämlich Veit Schubert als Vizekönig zum Star werde, indem er bei der "Witzfigur des Stückes" gerade "alles Rumpelstilzchenhafte" vermeide und als trauriger Clown die Herzen gewinne.
Wolfgang Fuhrmann schreibt in der Berliner Zeitung (20. 10.): "Es wird zu wenig Operette gemacht in Berlin, denkt man sich oft, wenn die Opernhäuser den einundelfzigsten Wagner oder Strauss produzieren. Wenn sie sich dann aber zur Operette aufraffen, die Opernhäuser, hätten sie es lieber bleiben lassen sollen." Die Operette ist nun zwar laut Fuhrmann an einem Schauspieltheater besser aufgehoben, "schließlich verlangt sie nach Beweglichkeit, Darstellungskunst, Witz, deutlicher Aussprache im Singen wie Sprechen" und "schließlich gibt es in Berlin die großartige Dagmar Manzel, die gerade erst an der Komischen Oper in Cole Porters "Kiss me Kate" triumphiert. "Nur: Eine Manzel macht noch keine Operette." Denn das, "was Regisseur und Bühnenbildner Thomas Schulte-Michels da rund um die Primadonna angerührt hat, das lahmt auf ganzer Linie, es ist nicht nur musikalisch, sondern auch schauspielerisch eine Unterforderung aller Beteiligten". Einzig eben Dagmar Manzel "zieht die Begeisterung auf sich – gewiss zu Recht, freilich läuft, so ganz ohne Widerstand, ihre Virtuosität auch leer und verfällt in frühere Routinen".
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ich kann ihnen versichern, dass KEINER der musiker missmutig gelaunt war..im übrigen:weder meine kollegin aus der staatskapelle noch ich haben die premiere gespielt.informieren sie sich.
grundsätzlich gehöre ich zu denen, die sich vor einem Beitrag informieren, so auch dieses Mal, versprochen. Ich fürchte, das Problem liegt hier aber eher in meiner unbedarften Ausdrucksweise. Meinen Kommentar lesend, halte ich ihn in der Tat für missverständlich und entschuldige mich. Staatskapelle hin oder her (sämtliche Musikerpositionen sind ja unabhängig hiervon hervorragend besetzt gewesen): was ich ausdrücken wollte, war eine Bestärkung meiner Kritik an der musikalischen Verantwortung und war um Gottes Willen nicht gegen die musikalische Ausführung an sich gerichtet. Vermutlich hätte kein Musiker Besseres aus diesem (meiner Meinung nach) Arrangement-Unfall machen können. Das lag nicht an den Musikern, egal ob freischaffend oder Orchestermitglied. Ich hoffe, ich konnte dies klarstellen und freue mich auf ein nächstes Mal, allerdings nicht im BE, sondern in Oper / Philharmonie etc. Meine Empfehlung, Steinebrunner.
deprimierend ein "staatstheaterpublikum", das die lahme sache (auch von d. manzel nicht zu rettende)beklatschte, als wärs ein wirklich ein knaller.
würde das in der nichtsubventionierten unterhaltungs - oder der offtheaterszene mit entspr. weniger aufwand geboten, wärs ein flop.
und aus dem stück könnte man was machen - erinnere mich an eine wesentlich einleuchtende und damit auch lustigere inszenierung von jerome savary in paris.
ja, operette in berlin ist oft ne katastrophe.
itteantworten und danke schön RS
email: schourack@hotmail.com
und ob jetzt "k" oder "ch" ist genau derselbe alte hut wie die bayern mit ihrer "kemie" oder.
es gibt _die_ eine richtige aussprache nicht.