Amerika, deine Sterne

von Andreas Klaeui

Solothurn, 16. Oktober 2008. "Mamma dammi cento lire che in America voglio andar" – mein Vater, der in der Südschweiz aufgewachsen war, pflegte beim Duschen zu singen, und zu seinen Standards gehörte der Auswanderersehnsuchtsohrwurm. Daran musste ich bei der Lektüre von Gerhard Meisters "Amerika" unweigerlich denken: "Mama, gib mir hundert Lire, damit ich nach Amerika fahren kann …". Mitte des neunzehnten Jahrhunderts waren in Europa im Zug der industriellen Revolutionen viele Landschaften verarmt, und die Wirtschaftsflüchtlinge hatten ein Ziel: Amerika, das es besser hatte. Weit ist das nicht weg, noch klingen die Auswandererlieder in unseren Ohren. Auch wenn heute Europa selber zum "Amerika" für Migranten geworden ist.

Das Schiff legt ab, das Schiff geht unter

Annemarie, Erika, Christen, Hans und Michel heißen sie bei Gerhard Meister, währschafte Glarner Namen, und die Szenen tragen synoptische Überschriften wie die Kapitel einer erbaulichen Chronik: "Der Gemeindepräsident hat ein Problem und der Auswanderungsagent die Lösung dafür", "Hat man in Amerika die gleichen Sterne über sich wie hier?", "In Le Havre bekommen die Auswanderer etwas in den Magen und geben dafür eine Unterschrift", "Das Schiff legt ab, das Schiff geht unter" und so unerbaulich weiter. Bis es die Schweizer Boat People stinkend auf Coney Island anschwemmt, wo sie kurz Abwechslung in den langweiligen Softeisbadenachmittag bringen.

Hans findet dann einen Job im Feinschmeckerlokal und muss die Essensabfälle mit Rattenkugeln vergiften, bevor er sie in den Müll gibt. Damit seine Landsleute sie nicht essen; herumlungernde Vaganten stören das Bild. Christen stellt fest, dass es in Amerika ist wie überall, und nimmt sich das Leben. Auf Michel und Annemarie schießen Securities.

Amerikas Sterne über Glarner Wiesen

Gerhard Meister hat recherchiert. Die Rattengiftstory ereignet sich täglich in Brasilien, die fromme Rede des Glarner Ratsherrn an die Auswanderer ist authentisches 1845. Die Fundstücke verwandelt er in "Amerika" zur heftigen, manchmal fast schwindelerregend krassen, dennoch im Ton immer ganz unaufgeregten Migrantenchronik.

Der Anachronismus hat System, der Auswanderungsagent spricht zum Beispiel in der ersten Szene schon von einer "klassischen Win-win-Situation"; zwei Yankees versuchen die auswanderungswilligen Schweizer mit einer Filmkampagne abzuschrecken. Auch dies ist, nebenbei, nicht erfunden, nur aufgelesen: Das Migrationsamt der Schweiz hat namens der EU so ein Filmchen hergestellt (http://de.youtube.com/watch?v=YIMOd2n-Hm0). Zeiten und Nationalitäten kippen ineinander, das hat eine unpathetische Drastik, die aber grosse Schicksals-Echoräume öffnet. Und dann gibt es wieder behutsam poetische Ruhemomente, Stellen von zaghafter Zärtlichkeit wie jene, in der der amerikanische Sternenhimmel und die heimischen Heuwiesen in der Fernwehphantasie verschmelzen und alles zusammen ist dann gar nicht jugendfrei.

Volkstheater derb, deftig und ernst 

"Cento lire io te li dò, ma in America no, no, no …" (100 Lire geb ich Dir, aber Amerika nein, nein, nein ...).  In der Uraufführung in Solothurn kam dies Lied nicht vor, dafür ein schweizerdeutsches Heimwehlied, ein christlicher Angstchoral beim Schiffsuntergang, farbige World Music – das Ostinato bleibt dasselbe. Regisseur Nils Torpus vom freien "Theater Marie" (Aarau), das das Werk in Auftrag gegeben und mitproduziert hat, verteilt die Figuren auf fünf Darsteller, so viele wie den Schiffbruch überleben; in einem Kostümpatchwork aus 19.-Jahrhundert-Armeleute-Lumpen, Ethno-Patterns, zeitgenössisch Proletarischem schlüpfen sie wechselweise in Rollen und Haltungen.

Torpus setzt auf eine Volkstheater-Ästhetik und klare Zeichen. Die Bühne ist so vollgerümpelt mit trockenem Brot wie Heidis Frankfurter Schrank; der gutbürgerliche Ratsherr serviert Kaffee in United Colours of Nespresso; die Szenenüberschriften stehen in Schablonenschrift auf einem Flipchart. Die ungemein spiellustige Truppe gibt dem Affen Zucker, das geht bisweilen hart an die Karikatur, kann derb sein und deftig, und ist dann wieder mit dem Text von grossem innerem Ernst.

Natürlich sind die negativen Figuren recht bös denunziert - dies gehört zur Ästhetik. Es gibt aber keinen Zeigefinger (nur mal eine angedeutete geballte Sozialistenfaust), kein Pathos. Erstaunlich: Das ergibt zeitgenössisches politisches Theater, und es ist weder engstirnig noch trocken, sondern saftig und prall.

 

Amerika
Uraufführung
von Gerhard Meister Regie: Nils Torpus, Bühne: Renato Grob, Kostüm: Nic Tellein.
Mit: Samuel Eschmann, Miriam Japp, Francesca Tappa, Thomas U. Hostettler, Herwig Ursin.

www.theater-biel/solothurn.ch

 

Kritikenrundschau

"Als Ganzes ein Gewinn" ist die Urauführung von Gerhard Meisters Stück aus Sicht von Tobias Hoffmann, der sich den Abend für die Neue Zürcher Zeitung (18.10.) angesehen hat. Das ist für Hoffmann hauptsächlich der siebten Szene zu verdanken. Zuvor findet der Abend aufgrund gelegentlich zu polemischer und wohlfeiler sozialkritischer Rhetorik nicht immer seine volle Zustimmung. Doch Szene sieben beeindruckt ihn schon mit einer Aufzählung der auf der Überfahrt nach Amerika Verstorbenen. "Wie Miriam Japp diese Reihung von Namen und von knapp geschilderten Episoden in ein Stück bewegender Erzählkunst verwandelt, dürfte jedes Publikum den Atem anhalten lassen." Für Hoffmann besteht das Frappierende an dieser Szene auch in der Vorstellung, das auch Schweizer Auswanderer einst elende "Boat-People" sein konnten. Gerade von hier aus erschließt sich für ihn dann auch das ganze Gefüge des Stücks, "das die Grenze zwischen den USA und Mexiko und zwischen Afrika und Europa, die abgetakelten Segelschiffe von damals und die Schlepperboote von heute in eins fallen" lasse und die "Hungrigen aller Zeiten und aller Länder" ins gleiche Boot setzte. Vom "suggestiven Schlussmonolog" der am Ende einzig überlebenden Annemarie fühlte sich der Kritiker schließlich als Mitglied der Satten "sozusagen auch ins Boot geholt – nicht um gemeinsam zu sinken, sondern um mitmenschlich zu sein".

 

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