Den Königsweg verfehlt

von Andreas Wilink

Köln, 18. Dezember 2020. Nichts ist wie jemals zuvor, die Zeit verwüstet und schöne Tage sind zu Ende, mag der die Atemluft raubende Würgegriff auch ein anderer sein, damals im Spanien Habsburgs, der katholischen Inquisition und des "Schreckens der Geschichte" (Mircea Eliade) und während unserer akuten Heimsuchung. Und weil eben alles anders ist und eine Premiere ohne Publikum im virtuellen Raum und von Kameras aufgezeichnet stattfindet, damit sie überhaupt sein kann, darf auch die Kritik vielleicht der Regel zuwider laufen und den Kritiker ins Spiel bringen. Eine meiner ersten nennenswerten Theaterkritiken, die sich auf ein eben solches Ereignis bezog, war der "Faust" am Schauspiel Köln, inszeniert von dem dort 1979 bis 1985 amtierenden Intendanten Jürgen Flimm, mit Hans Christian Rudolph, Wolf-Dietrich Sprenger und Susanne Lothar. Das liegt beinahe vier Jahrzehnte zurück. Meine Überschrift lautete: "Abschied vom Lustort Welt". Sie passt auch für das bald endende Jahr 2020. Und leider auch für diesen in seiner Absicht aller Ehren werten Inszenierungs-Versuch.

Königsweg zum Herzen des Dramas

Der in Gießen geborene, in Köln zum Rheinländer ausgebildete Flimm kehrt zurück an sein früheres Theater, wenn auch nicht an den Offenbachplatz, sondern in das nach Mülheim verlagerte Schauspiel-Depot, um Schillers "Don Karlos" zu inszenieren. Die offene, von Säulen umstellte, erdige Szene, auf der die Personen in Parallelaktionen ihren Verrichtungen nachgehen, wird nach hinten abgeschlossen durch Videoprojektionen, bei denen in der Silhouette von Puppenfigurinen diffus die Gesichter der Darsteller und allerlei Fantasie-Bilder wie holländische Windmühlen und die marschierende Wehrmacht aufblenden.

DonKarlos3 2000 ClaerchenHermannBausSchiller'sche Tafelrunde mit Ines Marie Westernströer, Jörg Ratjen, Sophia Burtscher © Clärchen und Hermann Baus

Was tun, wenn hinter der Autorität des Vaters wahrhaftig eine Majestät und nicht nur eine Herrschernatur aufragt und das ödipale Dreieck auf die Spitze getrieben ist? Es gibt mehrere Blutbahnen zur Herzkammer von Schillers großem Drama: das vom Kampf des Sohnes um den, mit dem und gegen den Vater ist der Königsweg. Historische Revolten wie die der flandrischen Provinzen gegen das spanische Joch sind immer auch historisch im Sinne von abgelebt und ad acta gelegt. Nicht so der psychologische Konflikt. Der bleibt virulent, beinahe egal in welcher Maske. Am Schauspiel Köln sind es der Vergangenheit entnommene Kostüme. Allein, sie stammen aus der Schiller-Klassik und Zeit des Entstehens. "Man präsentiert falsche Gleichzeitigkeiten, wo echte Ungleichzeitigkeiten zu demonstrieren wären", wie Hans Mayer – im Übrigen gebürtiger Kölner – pointiert festgestellt hat.

Kein Abgeordneter der ganzen Menschheit

Marek Harloff in jämmerlichem Aufbegehren, pubertärem Wallen, sich entblößender Emphase und stotternd weinerlichem Ich-Tamtam ist als Karlos ein Schreihals, der es kaum schafft, eine Landkarte der Niederlande aufzufalten und eine Intrige wohl nicht einmal verpatzen könnte. Wie der Sohn so der Vater: ein Wüterich ohne Statur, der das Bildnis seiner Königin zerfetzt und sich die kaputte Leinwand wie eine Metzgerschürze umhängt. Philipp hat bei Bruno Cathomas etwas von einem Zirkusdirektor, der sich sogleich den Applaus der Manege einholt, sich in seinen Echos suhlt, "Großer Gott, wir loben Dich" dudelt, sich psychopathologisch flagelliert, im Dreck wühlt und seine solitäre Einsamkeit – verschleudert. Marquis Posa (Nicolas Lehni), mit Kinnbärtchen und Nickelbrille weniger "ein Abgeordneter der ganzen Menschheit" als vielmehr ein wackerer Sozialdemokrat wie Ferdinand Lassalle, verkündet seine Ideale als Reformpädagoge und harkender grüner Gärtner.

DonKarlos1 2000 ClaerchenHermannBausWüterich ohne Statur: Bruno Cathomas als Philipp II. © Clärchen und Hermann Baus

1601, drei Jahre nach dem Tod von Philipp II., wurde in der Provinz Saragossa Baltasar Gracián geboren, der 18-jährig im Jesuitenorden Aufnahme fand und dessen immens einflussreiches, unter anderem von Arthur Schopenhauer ins Deutsche übertragene "Handorakel und Kunst der Weltklugheit" eine Sammlung scharfsinniger Aphorismen für erfolgreiche Überlebenstechniken ist. Karlos und Roderich Posa hätten das Regelwerk gut gebrauchen, Gracián für seine Ideen des Sich-in-Form-Bringens und der Entwicklung von Strategien der Kälte den hohen Herrn vom Escorial zum Vorbild nehmen können. Dass, wie Schiller die Höflinge raunen lässt, "der König geweint" habe, muss angesichts dieser Verhaltenslehre eine Ungeheuerlichkeit sein. Denn der Mensch möge sich in Zucht nehmen, kristalliner Geist sein, hinter dem Äußeren nicht die Gebrechen der Individualität sehen lassen.

Zur viertelironischen Kolportage ausgedünnt

In Köln das Gegenteil dieser Staatsraison. Vom Eise befreit: alles überhitzt, schwitzig, lauthals, trommelumwirbelt, outriert und überhaupt, wie einmal der Alba des Jörg Ratjen es tut, mit vollem Mund gesprochen. Dazu soll die eingespielte "Tristan"-Musik passen, auch wenn die Parallele von Wagners sich an sich und den anderen verlierenden Liebespaars zur Karlos-Elisabeth-Eboli-Beziehung schief gezogen scheint. Wenn nicht alles täuscht, sprießt musikalisch auch – Hommage an den Schiller-Freund Goethe? – das Röslein auf der Heiden; zudem triumphiert Bachs Weihnachtsoratorium und weint seine Matthäus-Passion. Dick aufgetragen!

Schillers Psycho-Thriller, der die Winkel der Seele ebenso wie die Korridore der Macht ausleuchtet, dünnt sich in Köln nicht nur wegen der Text-Striche zur viertelironischen Kolportage aus. Jürgen Flimm, so unterstelle ich, wird mehr Achtung haben für die Träume, auch, seiner Jugend, die einst anderes gewesen sein müssen als knäbische Revolte. Immerhin ein Traum erfüllt sich, indem Flimm mit dem Ex-Wally Bockmayer-, Kölner Filmdose-Star Ralph Morgenstern als an Krücken humpelnde Kardinals-Kuriosität den Kniefall vor seiner eigenen kölschen Vergangenheit vollzieht.

 

Don Karlos
von Friedrich Schiller
Regie: Jürgen Flimm, Bühne: George Tsypin, Kostüm: Polina Liefers, Video: Rocafilm, Licht: Michael Gööck, Dramaturgie: Lea Goebel, Musik: David Schwarz.
Mit: Sophia Burtscher, Bruno Cathomas, Yuri Englert, Marek Harloff, Melanie Kretschmann, Nicolas Lehni, Ralph Morgenstern, Jörg Ratjen, Ines Marie Westernströer.
Online-Premiere am 18. Dezember 2020
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspiel.koeln

 

 

Kritikenrundschau

"Ein großes, atemloses, hechelndes Geschrei" habe Jürgen Flimm inszeniert, was den Kritiker André Mumot von Deutschlandfunk Kultur (18.12.2020) von Anfang an irritierte. "Ich habe den Eindruck, dass das auf einem sehr alten Missverständnis beruht", so Mumot: "Dass man Theatertexte, gerade auch klassische Theatertexte, damit intensiver macht, dass man jeden einzelnen Satz in einer völligen extremen Erregung auf die Bühne bricht, ins Publikum wirft." In der letzten Reihe sitze aber gerade niemand, sondern alle säßen vor den Bildschirmen. "Auch darauf ist keinerlei Rücksicht genommen worden." Flimms eindeutig für die Bühne konzipierte Inszenierung wirke "völlig aus der Zeit gefallen" und das Medium Live-Stream sei "nicht wirklich gut genutzt worden".

Befremdlich findet das "hysterische Neurosenkasperletheater" Christine Dössel von der Süddeutschen Zeitung (21.12.2020). Marek Harloff gebe den Don karlos als "weinerlichen, pampigen Hampel", der Infant sei ein "Infantiler", und Bruno Cathomas’ Philipp II "kein Zoll ein König". Einfach nur ein Premierenmitschnitt sei der "Don Karlos“ zudem – "alles genau so, wie es eher nicht (mehr) sein sollte", nachdem die Theater nun Monate lang neue Digitalformaten ausprobiert hätten. "Auf Mitte und Nähe" fokussiere der Mitschnitt, obwohl "die scheußlich modernistische Bühne von George Tsypin" auf Breite angelegt sei. "Was am Rand passiert, wo offenbar alle Darsteller stets zugegen sind und damit auch ein System der Bespitzelung und Kontrolle am Hofe von König Philipp II. mitspielen, ist allenfalls zu erahnen." Stark gekürzt, ergebe die Geschichte in Flimms exaltierter Version keinen Sinn. "Theater zum Abschalten."

"Flimms Regie-Metier waren in den letzten Jahren vor allem die Opern – das merkt man jetzt, wo er einen Theaterklassiker inszeniert, nicht nur an den wiederholten Wagner-Einspielungen zwischen den Szenen, sondern auch an der grundsätzlich zurückhaltenden Art seiner Schauspielerführung. Er arrangiert das Geschehen eher, als dass er es inszeniert", schreibt Simon Strauß von der FAZ (21.12.2020). "Während die Frauen hier meist in Stoffbergen untergehen und wenig Chance auf einen durchdringenden Auftritt bekommen, nimmt der Abend immer dann Fahrt auf, wenn Nicolas Lehni als Posa auftritt."

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