Sterne lügen nicht

von Georg Kasch und Christian Rakow

31. Dezember 2020. Nachdem wir 2020 mit Überraschungen eher unschöne Erfahrungen gemacht haben, gehen wir jetzt auf Nummer sicher. Folianten auf, Sternkonstellationen geprüft – Sterne lügen nicht.

Sternenhimmel 560 s.kunka pixelio.de uDie Sterne müssen's wissen © S.Kunka / pixelio.deUnd siehe da: 2021 steht im Zeichen der Resilienz. Saturn hilft uns, mit unangenehmen Dingen klarzukommen. Allerdings mischt auch Planet Uranus mit, der für überraschende Wendungen und Sinnsuche sorgt. Ist das, was wir bislang gemacht und geschaut haben, wirklich zielführend? To stream or not to stream? Was haben wir im Theater gesucht – und worauf kommt es am Ende an?

Jupiter im Wassermann weckt in uns auch den Wunsch, andere zu unterstützen. Im Theater gilt wie außerhalb: Seid solidarisch, haltet zusammen! Und kauft halt auch mal ein Online-Ticket. Jetzt ist nicht die Zeit für Abrechnungen, sondern für Neuanfänge!

Widder (21.3.-20.4.) – will mit dem Kopf durch die Wand

Theaterschaffende: Weniger bockig tun, dafür große Sprünge wagen! Schonen Sie 2021 Ihre Stimme, brüllen Sie nicht auf Proben. Rammbockstöße sind nur bei Revierkämpfen mit der kommunalen Kulturpolitik angebracht.

Zuschauer*innen: Auf Rausrennen mit Türknall können Sie im ersten Jahresviertel verzichten. Passen Sie bei Theaterstreamings auf, dass Sie ihren Laptop nicht zerhacken. Die Escape-Taste reagiert auch auf leichten Knopfdruck. Wenn die Bühnen wieder live spielen: Gehen Sie zu Lucia Bihler – da tragen alle Hörner.

Medea 1 560 GinaFolly uDer Stier, hier Zeichen rasender Wut in Leonie Böhms Zürcher Medea* mit Maja Beckmann © Gina Folly

Stier (31.4.-21.5.) – genussfreudige, organisierte Materialist*innen

Theaterschaffende: Genuss gibt's derzeit nur abseits von Bühne und Kantine. Bier im Biobecher to go. Prob(ier)en Sie Schiller fürs Sofa mit Sherry oder Shakespeare in der Home Edition mit Scotch Whiskey. Aber ab Frühjahr dann: feuchtfröhlich auf die Rollende Roadshow!

Zuschauer*innen: Opulenz und Abo-Planungssicherheit gibt's wieder ab Herbst. Mars und Pluto sorgen bis dahin für stete Erneuerung. Der nächste Stream ist immer der nächste. Und Open Air hat Flair. Setzen sie drauf, dass Thomas Ostermeier oder Matthias Lilienthal ihre Sommerbespielungspläne wahr machen.

Zwillinge (22.5.-21.6.) – aktive Chaot*innen mit Charme

Theaterschaffende: Corona-Zwänge sind so gar nicht Ihr Ding! Spätestens ab Mai erweitert sich Ihre Spielwiese zunehmend – dann legen Sie mit Jupiter und Saturn im Rücken doppelt los. Vorurteilsfrei und immer auf der Suche nach Neuem gehen Sie mit Rüping'scher Spielfreude ans Werk.

Zuschauer*innen: "Das bisschen Theater, das ich gucke, kann ich selber spielen", sagt Ihnen Ihr Sternbild frei nach Kurt Tucholsky. Nutzen Sie die Theaterauszeit zum Anfang des Jahres mit Puppenspiel für die Kleinen daheim. Wenn's dann wieder auf den Guckkasten-Bühnen losgeht, lassen Sie alle wissen: Das geht besser! Lasst mich mal ran!

Krebs (22.6.-22.7.) – fürsorglich, launenhaft, sensibel

Theaterschaffende: Ihre Scheren können Sie 2021 einpacken. Mit Diplomatie und Engagement wird das Ihr Jahr! Nutzen Sie die Motivation durch Neptun und zeigen Sie dem Publikum, was Sie an Fürsorge zu geben haben. Abende mit "Expertinnen des Alltags" und Bürgerbühnen-Gemeinschaftsgefühle sind Ihr Ding.

Zuschauer*innen: Nehmen Sie Flops nicht persönlich! Eine gute Mischung aus Intuition und Pragmatik wird Sie weit bringen, wenn Sie zum Jahresstart den Digitalen Spielplan durchforsten und später dann wieder den Leporello ihres Herzenstheaters.

DasReichderTiere 560 DavidBaltzer uZiemlich am Ende, dieser König der Tiere: Ernst Stötzner als Löwe in Jürgen Goschs Uraufführung von Roland Schimmelpfennings Das Reich der Tiere am Deutschen Theater Berlin 2007 © David Baltzer

Löwe (23.7.-23.8.) – kann vor Kraft und Lebenslust kaum gehen

Theaterschaffende: Löwen können Kritik schwer schlucken. Wie gut, dass fürs erste 2021 noch keine Spiralblock-Hyäne im Parkettsessel kauert. Ab dem zweiten Jahresdrittel fliegen dann wieder die Fetzen. Aber nicht gleich übertreiben: Abende mit mehr als vier Stunden sind erst fürs letzte Jahresdrittel angezeigt.

Zuschauer*innen: Löwen sind geborene Rampensäue. Und lieben ebensolche. Sebastian Hartmann, Ulrich Rasche und Frank Castorf lassen Sie sich zum Fraß vorwerfen. Alexander Scheer und Andreas Döhler wollen Sie brüllen sehen. Nur die großen Steaks. Zunächst heißt es 2021 allerdings noch: Durchhalten und sich nicht entmutigen lassen! Castorfs kalorienreicher "Fabian" (am Berliner Ensemble) wurde bereits drei Mal vom Speiseplan verschoben.

Jungfrau (24.8.-23.9.) – Ordnung ist das ganze Leben

Theaterschaffende: In der Krise hilft das Erbsenzählen – danach lassen Sie besser mal Fünfe gerade sein! Verzichten Sie auf Proben am Morgen, geben Sie am Abend lieber etwas Extrazeit bei Konzeptionsgesprächen in der Kantine. Plutos Energie wird Sie durch die Nacht tragen.

Zuschauer*innen: Seien Sie nicht verzagt: Die nächste hochpräzise Installation von Susanne Kennedy oder Ersan Mondtag kommt bald und wird Sie passgenau selig stimmen.

Waage (24.9.-23.10.) – charmante, kokette Diplomat*innen

Theaterschaffende: Sie sind das Herz eines jeden Hauses und Produktionsteams. Gerade jetzt, in Zeiten der Ungewissheit, lieben alle Ihre Ausgeglichenheit. In diesem Jahr stellen Sie kollektive Intendanzen mit mindestens zwanzig Führungspersonen und ebenso vielen unterschiedlichen kulturellen und ästhetischen Prägungen zusammen. Der Diversitätstriumph ist Ihnen sicher!

Zuschauer*innen: Wägen Sie nicht zwischen Komödie und Tragödie ab. Greifen Sie zu Yael Ronen!

Skorpion (24.10.-22.11.) – Analysegenies mit Eifersuchtsproblem

Theaterschaffende: Rache, das wissen Sie als Theatermensch natürlich, fällt den Rächenden am Ende meistens auf die Füße. Also halten Sie Ihre Gefühle besser im Zaum! Vermeiden Sie nächtliche Kommentare auf nachtkritik.de (sie werden ohnehin nicht veröffentlicht). Packen Sie ihre Wut lieber in Ihren neuen Doku-Abend! Oder ziehen Sie mit Schlingensief'schem Widerspruchsgeist ins Feld. Gegner gibt es genug.

Zuschauer*innen: Sie wollen immer alles ganz genau wissen. Schauen Sie den neuen Doku-Abend ihres Fellow-Skorpions. Oder Konzeptkunst von Anta Helena Recke.

wilhelm tell 560 andy stueckl uDer berühmteste Schütze der Theaterliteratur: Wilhelm Tell, hier 2018 in Oberammergau mit Rochus Rückel © Andy Stückl

Schütze (23.11.-21.12.) – Optimist*innen mit Mission

Theaterschaffende: Sie zielen immer aufs Ideal. Drücken Sie aber nicht zu fest ab – niemand möchte belehrt oder bekehrt werden. Holen Sie sich das richtige Maß an Didaktik bei Milo Rau und Hans Werner Kroesinger. Falls Sie zeitweise etwas unsicher werden, was Ihren Beruf betrifft, liegt das an Jupiter. Er will Sie verführen, etwas anderes als postbrechtianische Lehrstücke zu machen.

Zuschauer*innen: Warum sind wir da? Ergibt das alles einen Sinn? Die großen Fragen haben Konjunktur auf den Bühnen – und Sie sind in Ihrem Element. Gönnen Sie sich einen Schuss Herbert Fritsch zum Ausgleich!

Steinbock (22.12.-20.1.) – Achtung vor diesen Hörnern!

Theaterschaffende: Schon wieder welche, die mit dem Kopf durch die Vierte Wand wollen. Man muss Ihnen dicke Kulissenbretter aufbauen, damit es richtig splittert, wenn Sie in neue Sphären vordringen. Die Synthese aus Netztheater und Echtleben-Spiel wird in diesem Jahr Ihnen vorbehalten sein! Mars gibt Ihnen dafür Mut, Energie und Willenskraft.

Zuschauer*innen: Scharren Sie nicht mit den Hufen! Nutzen Sie die Corona-Auszeit, um Geduld und Durchhaltevermögen zu üben. Der nächste Vinge/Müller-Seh-Marathon oder die nächste Tour mit Gob Squad durch die Nacht kommen bestimmt.

Wassermann (21.1.-19.2.) – originelle Innovationslokomotiven

Theaterschaffende: Sie sind die Master of Digital-Desaster – und haben gerade alle Hände voll zu tun. Erst mal herrscht weiterhin das Chaos, das bekanntlich die beste Zeit ist (sagt Bertolt Brecht). Ab der Jahresmitte stärkt Saturn dem Wassermann den Rücken. Lassen Sie jetzt Ihre legendäre Kreativität sprudeln und bauen Sie gemeinsam mit den Steinböcken am Hybrid-Theater der Zukunft mit!

Zuschauer*innen: Sie sind für alles offen. Egal ob Volkstheater reloaded von Kay Voges oder bügelfaltenfeste Josefstadt. Nutzen Sie Ihren Charme und nehmen Sie Ihre Freunde mit auf Ihre Streifzüge.

Fische2 Willkommen OsnabrueckOkt2020 560 c Uwe LewandowskiVorne heißt es in Osnabrück "Willkommen", hinten warten die Fische © Uwe Lewandowski

Fische (20.2.-20.3.) – die Einfühlenden

Theaterschaffende: Für hochsensible, zurückhaltende Fische mit Helfersyndrom sind Krisenzeiten natürlich Stress pur. Aber bald kommt Ihre Zeit: Dann sind romantische Kassenhits gefragt, die die Häuser sanieren. Endlich dürfen Sie auch im Sprechtheater hemmungslos mit Musik und Tanz crossovern!

Zuschauer*innen: Fische sind ein dankbares Publikum. Sie stehen nicht gerne im Vordergrund, sondern lassen lieber anderen den Vortritt. Die Sterne raten zu Anna-Sophie Mahler und Leonie Böhm. Im Anschluss an den Theaterbesuch kommentieren Sie auf nachtkritik.de: "Ein wunderbarer Abend, danke an alle Beteiligten! Theaterglück."

 

 

Und wie war 2020?

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Zum Jahresrückblick der Redaktion geht es hier.

Wem der Sinn nach einem spielerischen Jahresrückblick steht, sei das Theaterquiz ans Herz gelegt.

 

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