Warum das Theater sich jetzt entscheiden muss, wie es sein will – Debatte um die Zukunft des Stadttheaters
Der Abgrund der Ent-Solidarisierung
von Tim Tonndorf
13. Januar 2021. Die öffentlichen Kommentare bzw. Reaktionen auf die Proteste gegen die ausufernden "Nichtverlängerungen" (vulgo: Kündigungen) in Osnabrück, Eisenach/Meiningen, Greifswald, etc. zeigen deutlich einen Abgrund, auf den das deutsche Stadttheatersystem zusehends zusteuert: Eine Montagelinie der Zeitgeist-Imitation auf Sparflamme mit einigen teuren, verchromten Edelstücken und einem großen Haufen komplett austauschbarer Zahnräder.
Deutsche Sehnsuchtsfigur: Der Intendant
Das Theater, das stets vom Menschen, durch den Menschen, für den Menschen zu erzählen sucht, vergisst, dass es eben Menschen sind, die sein Herz bedeuten. Die Art und Weise, wie das Schicksal von komplett unverschuldet teilweise in die Existenzbedrohung geworfenen Künstler*innen achselzuckend bis gehässig durchgewunken wird, ist mindestens erschreckend.
Väter des Geniekults? Das Goethe-Schiller-Denkmal vor dem Deutschen Nationaltheater in Weimar © Andreas Praefcke CC-By - Sa 3.0.
Ausgerechnet an dem Ort, wo sonst jeden Abend die Fahne der humanistischen Werte geschwungen wird, wo die fiktiven Held*innen, die sich wider Ungerechtigkeit, Autokratie und Willkür erheben, bejubelt und beklatscht werden, von wo aus Intendant*innen, Regisseurinnen und Dramaturg*innen in Interviews gerne die beste aller möglichen Welten in prächtigen Farben malen, und wo auf der Bühne in zeitdiagnostischer Omnipotenz die Verkommenheit der neoliberalen Welt und ihrer Schergen hart gegeißelt wird – an diesem Ort verfallen die Menschen, wenn es um die schnöden Belange von Lohnarbeitenden geht, gerne in den reaktionären, solidaritätsfernen, phantasielosen und obrigkeitshörigen Duktus eines durch und durch Deutschen Michels.
Der Deutsche liebt die Kunst – und er verachtet die Künstler*innen. Es sei denn, sie sind Genies. Oder Führer. Am liebsten beides. Regisseure oder Intendanten zum Beispiel. Sie vereinen des Deutschen Sehnsuchtsfigur: Ein Genie mit starker, autoritärer Hand. Der Genie-Kult beginnt bei Goethe und setzt sich fort über Claus Peymann und Matthias Hartmann bis hin zu Dieter Wedel und all den kleinen Duodezfürsten, die an den Bühnen landauf landab den Schauspieler*innen das Leben schwer machen.
Wenn ein Theater rote Zahlen schreibt, das Publikum fernbleibt, die Presse nurmehr gelangweilte Synopsen bringt und die Erwähnung in der Kritiker*innen-Umfrage der Theater heute in unerreichbarer Ferne liegt, dann setzt die lokale Kulturpolitik auf einen "starken, verdienten Mann", der "frischen Wind bringt", "ordentlich aufräumt", "die Zügel in die Hand nimmt", "das Ruder herumreißt" und das Theater "zukunftsfähig aus der Krise steuert". Und das geht selbstverständlich nur, wenn man zwei Drittel der künstlerischen Belegschaft entlässt – is' ja klar.
Perfekt abgestimmte Pflanzenkulturen
Und so schwafelt der alte weiße Mann, der auf dem Intendanten*innen-Karussell das gelbe Pony reitet, von "Öffnung in die Stadt, Diversität, Haus der Künstler, neuen Sichtweisen" und die Kulturpolitik bekommt erhöhten Speichelfluss: "Sehr gut! Wenn wir das zügig eintüten, dann schaffen wir's noch zur feierlichen Eröffnungsveranstaltung des Winzerfestes: Marschieren und Probieren!"
Der Kämmerer räuspert sich, rückt die Bifokalbrille zurecht und hebt mahnend den Finger. "Kein Problem!" winkt der alte weiße Mann ab, "wir erhöhen die Produktionszahl, specken das Ensemble ab und machen jede Woche einen großen Liederabend, den die Kolleg*innen in ihrer Freizeit selbst vorbereiten dürfen!" Der Kämmerer senkt nickend die Hand, die Kulturpolitik klopft sich anerkennend auf die Schulter. "Wir freuen uns sehr, diesen alten weißen Mann und seine langjährige Erfahrung für unser Haus gewinnen zu können", tönt es bald aus den Gazetten.
Und so geht es weiter und immer weiter, Jahr um Jahr. Diese Art der belegschaftlichen Fruchtfolge verspricht dem "hochverehrten Publikum" (und also immer der Kulturpolitik) sieben fette Jahre: Allerhöchsten künstlerischen Ertrag bei effizientester Nutzung des zu beackernden Bühnenbodens durch perfekt auf einander abgestimmten Pflanzenkulturen.
Pfarrer, Boten, Mägde, Mütter
Die Realität sieht selbstverständlich ganz anders aus. An den großen Häusern werden mit den großen Regie-Namen regelmäßig große Gast-Stars für die großen Rollen verpflichtet (siehe "teure, verchromte Edelstücke"). An den mittleren Häusern wird alles unter 30, was nicht schnell genug sesshaft wird und sich dem gewünschten Spielstil von Intendanz und Haus-Regie anpasst, mindestens alle zwei Jahre gnadenlos ausgetauscht ("Wir haben leider nicht das gefunden, was wir beim Vorsprechen in dir gesehen haben.") oder so lange bei den Regie-Teams angeschwärzt ("Die ist schwierig. Sehr schwierig. Schwierige Kollegin."), bis der hoffnungslos verunsicherte oder komplett unterforderte Nachwuchs von alleine das Feld räumt (vulgo: Platz macht für ein "frisches Gesicht"). Den kleinen Häusern und Landesbühnen, die von Politik, Branche und feuilletonistischer Öffentlichkeit weitgehend ignoriert oder belächelt werden, bleibt ohnehin nichts anderes übrig, als die vom Lesarten-Büffet übrig gebliebenen Zugriffe auf die großen Kassenschlager ("Tschick", "Terror", "Frau Müller muss weg") mit ihrem mageren Budget und der unzweifelhaften Hingabe des Ensembles irgendwie in etwas Lustvolles zu verwandeln.
Das Narrativ von der "künstlerischen Gesamtkonzeption" einer Leitung auf der Basis des Schauspiel-Ensembles ist – größtenteils – ein Mythos. Was sich allein darin beweist, dass Schauspieler*innen als Material angesehen werden. Als unmündige Kinder, die mit Zuckerbrot (Hauptrollen & Solo-Abende) und Peitsche (Pfarrer, Boten, Mägde, Mütter) zu folgsamen und loyalen Aushängeschildern erzogen werden müssen. Als Lego-Steine, die nach Belieben umgebaut, ausgetauscht, zusammengesetzt, auseinandergerissen oder eben in die Schachtel gekloppt werden können. "Gesichter, Stimmen, Körper", heißt es in einem Kommentar auf nachtkritik. Wie viel ent-personalisierter geht es noch?
Freibrief für Verdinglichung
Aber genau das beschreibt das Grundproblem in der Wahrnehmung von Ensemble- Schauspieler*innen sowohl außerhalb als auch Kampagnenbild des ensemble netzwerk für bessere Arbeitsbedingungen an Theatern © Thilo Beu / ensemble netzwerkinnerhalb der Branche. Schauspieler*innen werden im äußersten Fall "groß gemacht" von Regisseuren oder Intendanten. Ansonsten sollen sie bitte während der Probe das Maul halten, auch mit 40 Grad Fieber noch die Vorstellung spielen, sich nicht einmischen, wenn Regie und Dramaturgie sich unterhalten, am 25. Dezember frisch und motiviert auf der Matte stehen, zwei Monate lang 3x täglich Weihnachtsmärchen spielen, sich das mit der Schwangerschaft "gut überlegen", in der Pause noch zur Anprobe, Maskenprobe, Sprechprobe und zum Einzelgespräch gehen, mit ihrem Netto von 1.100 € gefälligst zufrieden sein, und das alles doch bitte mit Herzblut für die Kunst tun.
Und bevor jetzt irgendein*e Klugscheißer*in wieder von Recht & Gesetz anfängt: Der NV Bühne, so sinnvoll er aus künstlerischer Betriebssicht intendiert gewesen sein mag, ist – in Verbindung mit einem zutiefst auf Beziehungen, Belohnung und Bestrafung aufgebauten System – in seiner jetzigen Form ein Freibrief für die Verdinglichung von Schauspieler*innen zu Arbeitsmaterial. Das oben Beschriebene ist die Realität. Und all das – genau wie der rabiate personelle Kahlschlag im Zuge eines Intendanz-Wechsels – wird stets vollmundig mit der "verfassungsrechtlich zugesprochenen Freiheit der Kunst" argumentiert.
Menschenverachtende Automaten
Spätestens jetzt sind wir in meiner persönlichen Dystopie von Theater angekommen: Wo die eiskalte Hand von Autokratie & Neoliberalismus mit dem hirschledernen Handschuh der Kunstfreiheit überzogen wird, damit der auspressende Griff um den Hals der künstlerischen Arbeiter*innen keine Fingerabdrücke hinterlässt. Die Argumente, die FÜR diesen ganzen dysfunktionalen, rückständigen, willkürbehafteten Vorgang ins Feld geführt werden, gehören so gut wie alle zur Gattung Strohmann:
⁃ für jede Nichtverlängerung bekommt jemand anderes Arbeit
⁃ Nichtverlängerung beugt Unkündbarkeit vor
⁃ Nichtverlängerungen halten das Theater lebendig
⁃ neue Schauspieler*innen heben das Niveau des Theaters
Zum einen implizieren sie allesamt das Bild eines defizitären Ensembles, das glanzlos und uninspirierend an seinem "Privileg der Festanstellung" klebt. Zum anderen doktern sie lediglich an den Symptomen eines eigentlich zu überwindenden Systems herum. Statt also Kritik an den Verhältnissen zu üben, werden die Betroffenen gegeneinander ausgespielt. Man könnte meinen, der Bundesverband der Jungen Liberalen hätten die nachtkritik-Kommentarspalte übernommen. Und in dasselbe Horn blasen auch Kulturpolitik und Intendant*innen:
⁃ ein ganz normaler Vorgang
⁃ ein üblicher Vorgang
⁃ ein rechtmäßiger Vorgang
Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Es ist erstaunlich bis grotesk, wie Menschen, die sich selbst als Künstler*innen oder zumindest als Theaterliebende begreifen, dann wenn es um reale arbeitspolitische und sozialethische Fragen geht, plötzlich zu den kleingeistigsten, phantasielosesten, paragraphenreiterischsten – und ja – menschenverachtendsten Automaten veröden. Am schamlosesten hat das der designierte Intendant der Theater Eisenach und Meinigen, Jens Neundorff von Enzberg, im Interview mit der Thüringer Allgemeinen formuliert: "Das ist die Brutalität unseres Jobs. Der ist im wahrsten Sinne des Wortes asozial. Aber alle, die sich darauf einlassen, wissen davon."
Inzestuöses System
Und hier scheiden sich nun die Geister. Die einen (für mich ewig Gestrigen) werden sagen: "Recht hat der Mann. So ist das. So muss das. Kann man nichts machen." Ein bestimmter Kritiker, an dem ich mich einst abarbeitete, würde vielleicht sagen: "Es gibt kaum einen Intendantenwechsel von wirklicher Qualität, bei dem nicht zwei Drittel der künstlerischen Belegschaft entlassen würden. Theater ist kein Ponyhof."
Die anderen (zu denen ich mich zähle) werden sich fragen: Ist das das Theater, wie wir es wollen? Ist das wirklich die Art und Weise, wie wir im 21. Jahrhundert institutionell geförderte Kunst schaffen wollen? Wie wir Theatermachen denken wollen? Nehmen wir wirklich diese ganzen menschengemachten, kontingenten Dinge als unveränderliche Naturgesetze an? Ist das Theater- und Menschenbild, welches – irgendwo zwischen achselzuckendem Fatalismus und kompetitivem Sozialdarwinismus – in Äußerungen wie jenen des Herrn von Enzberg widerhallt, eines, mit dem sich zukünftige Theaterschaffende noch identifizieren können?
Oder kann es ein Theater sein, dass – wie Brecht sagt – "den Spaß an der Veränderung der Wirklichkeit organisieren" soll? Seit Jahrzehnten steht für das Gros des institutionalisierten Theaters in Deutschland die Veränderung der Wirklichkeit nicht zur Debatte. Ein inzestuöses System aus Produktionsdruck und heißen Nadeln, eine bis dato schwache Gewerkschaft, eine zuweilen desinformierte und ignorante Politik, sowie die hundert und tausend täglichen kleinen Auswüchse struktureller Diskriminierungen – all das gepaart mit der guten alten German Angst sorgt für die Zementierung des Status quo.
Wertschätzung und Perspektive
Und deshalb wäre es so unendlich wichtig und richtig, dass die mittlerweile essentielle Arbeit des ensemble-netzwerks, seiner Geschwister-Netzwerke und Partner*innen, mit einer GDBA-Präsidentin Lisa Jopt auf die nächste Stufe überführt werden kann. Dort – und nur dort – wird aktuell die strukturelle Veränderung dieses desaströsen Systems ernsthaft gedacht und vorbereitet.
In der Folge "Im Aschenbecher meiner Mutter" des Podcasts Wofür es sich zu looosen lohnt formulieren Lisa Jopt und Johannes Lange drei für mich elementare Wahrheiten zur derzeitigen Situation.
Johannes Lange spricht in Bezug auf das Verhalten der meisten Stadttheater während der Pandemie (besonders gegenüber ihren freischaffenden Gästen) von einer "institutionalisierten Ent-Solidarisierung". Und besser kann man es nicht ausdrücken. Ich habe übrigens den besonderen Umstand der Pandemie bisher nicht erwähnt, weil sich aus meiner Sicht selbst versteht, wie die ohnehin prekäre Situation der betroffenen Künstler*innen dadurch extrem verschlimmert wird. Dass sich manche Kommentator*innen nicht zu schade sind, das "Corona-Argument" als "populistisch" und "perfide" abtun, zeigt, wie weit sich diese Ent-Solidarisierung bereits gesamtgesellschaftlich eingefressen hat.
Was tun gegen die wachsende Ent-Solidarisierung? © Markus Spiske / unsplash
Lisa Jopt beschreibt später im Podcast den signifikanten Unterschied von institutionalisierten Theatern zu Arbeitgebenden anderer Branchen mit einem grundsätzlichen Fehlen von "Wertschätzung und Perspektive". Und das trifft es auf den Punkt. "Wir behandeln Dich wie ein unmündiges Kind in einer Nähfabrik und können Dich jederzeit aus künstlerischen Gründen nicht verlängern, wenn Du nicht tust, wie Dir geheißen." Das! Das ist die Realität.
Frischer Wind, der durchs geöffnete Zeitfenster weht
Und wenn Dinge selbst mit dem All-in-One-Baseballschläger der "künstlerischen Gründe" nicht mehr kaputt zu kriegen sind, dann liegt's zuletzt stets am Geld. Doch Lisa Jopt setzt der vermeintlich allgegenwärtigen Geldknappheit eine andere Theorie entgegen: "Phantasieknappheit". Und das ist die dritte und letzte Wahrheit. Diese phantastische Kulturtechnik, deren gesamte Existenz auf der Entzündung, Befeuerung und Explosion von Phantasie beruht, wird aktuell überwiegend von Menschen geleitet, denen es genau daran gebricht, sobald der Vorhang gefallen, die Stifte eingesteckt, die Mikrofone runtergedreht und die Kameras ausgeschaltet sind. Phantasie. Phantasie und Willen für eine reale Veränderung der Verhältnisse.
Es tut sich hier für das Theater gerade ein historisches Zeitfenster auf. Viele scheinen es nicht zu sehen bzw. zu hoffen, dass es sich möglichst unbemerkt bald wieder schließe. Doch der Wind weht bereits herein und Omas alte Gardinen flattern schon. Die Menschen, die jetzt in dieser Zeit Entscheidungen treffen, sollten sich sehr genau überlegen, auf welcher Seite der Geschichte sie stehen wollen.
Tim Tondorf, geboren 1985 in Offenbach, studierte Schauspielregie an der HfS "Ernst Busch" und ist freier Regisseur sowie Gründungsmitglied des Theaterkollektivs Prinzip Gonzo.
Mehr zum Thema im Lexikoneintrag Stadttheaterdebatte.
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Leider tut sich für das Theater in diesen Zeiten überhaupt kein Fenster auf. Die gesamte Veranstaltungsbranche ist einer unvergleichlichen Bedrohung ausgesetzt. Alle Fenster werden im Moment möglichst geschlossen gehalten, verständlicherweise, denn es stehen nach den Wahlen im Herbst insgesamt existenzbedrohende Sparmaßnahmen an. Jede(r) Kritiker(in) des Stadttheater-Systems sollte wissen, dass radikale Änderungen am NV Bühne im Augenblick hoch riskant sind. Ein solcher verbaler Molotowcocktail ist momentan so unangebracht wie die Forderung, auf der Titanic jetzt vielleicht mal die Schotten zu öffnen, damit das Wasser sich gleichmäßiger verteilen kann. Man kann nur mit dem Kopf schütteln. Aber zum Glück ist der Text nur auf nachtkritik.de erschienen - weite Verbreitung wird er da außerhalb der Theaterblase nicht finden.
(Anm. Red. eine ins Persönliche lappende Abwertung wurde aus diesem Kommentar entfernt.)
Sollen alle, die das Glück hatten, eine Stelle zu bekommen, diese auf Lebenszeit behalten dürfen? Sollte die Unkündbarkeit abgeschafft werden? Wie entwickelt sich das Ensemble, wenn es über Jahrzehnte unverändert bleibt? Gilt das nur für SchauspielerInnen oder auch für DramaturgInnen etc.? Und was passiert mit dem Nachwuchs, wenn Stellen nur noch durch die Verrentungen frei werden?
Das sind die Fragen, denen der Autor ausweicht. Wäre er ein links denkender Theatermann, wüsste er, die Wahrheit ist konkret. So bleibt viel heiße Luft, ohne Vorschläge für die immer prekärer werdende Lage des dt. Theatersystems. Es braucht dringend Veränderungen, doch hitzige Worte ohne Bodenhaftung verändern nichts.
Dennoch finde ich die Vermischung von Wahlkampf mit demln Themen Nichtverlängerung und Veränderung am Theater eher gefährlich irreführend als zielführend. Das kann nachtkritik.de vielleicht in den Tags deutlicher zum Ausdruck bringen.
Grundsätzlich stehen Forderungen wie eine Erhöhung der Mindestgage und Abschaffung der Nichtverlängerungen durch die aktuell vorherrschende Intendantenwillkür schon seit Jahren im Programm der GDBA.
Das weiß man natürlich nur, wenn man Mitglied in der Gewerkschaft ist oder sich zumindest wirklich damit beschäftigt.
So sind - um auch das Thema Wahlkampf in diesem Kommentar aufzugreifen - die Verlautbarungen Lisa Jopts weder neu noch originell, sondern nur anders vorgetragen.
Danke Tim Tonndorf!
⁃ für jede Nichtverlängerung bekommt jemand anderes Arbeit
⁃ Nichtverlängerung beugt Unkündbarkeit vor
⁃ Nichtverlängerungen halten das Theater lebendig
⁃ neue Schauspieler*innen heben das Niveau des Theaters
Zum einen implizieren sie allesamt das Bild eines defizitären Ensembles, das glanzlos und uninspirierend an seinem "Privileg der Festanstellung" klebt. Zum anderen doktern sie lediglich an den Symptomen eines eigentlich zu überwindenden Systems herum. [sic!] Statt also Kritik an den Verhältnissen zu üben, werden die Betroffenen gegeneinander ausgespielt. Man könnte meinen, der Bundesverband der Jungen Liberalen hätten die nachtkritik-Kommentarspalte übernommen“.
Und ja, da hat Tim Tonndorf am Ende Werbung für Lisa Jopt gemacht - zu Recht. Denn, sorry, wenn sich die Theater-Sabines einschissern, "(...) dass radikale Änderungen am NV Bühne im Augenblick hoch riskant sind", weil sonst die Titanic untergeht - dann sollten sie vielleicht auch mal darüber nachdenken, dass es an Bord der Titanic eine Dreiklassengesellschaft und einen eklatanten Mangel an Rettungsbooten gab. Der kalte Eimer Wasser, den Tim Tonndorf hier mit einer großartigen, sprachgewaltigen Wut über die defizitäre und unsoziale Struktur des deutschen Theatersystems ausschüttet, ist kein Aufruf zum Untergang, sondern ein Aufruf zu mehr Solidarität und zu einer dringend überfälligen Überarbeitung eines feudalen Systems. Und ja, liebe Karo-Toni-Kollegas, das ist nicht neu, und es wird anstrengend und es gibt keine einfachen Lösungen - aber "Ich bin ja für einen Wandel aber doch nicht sooo“-Argumentationen helfen auch nicht. Dann schlagt etwas vor! Engagiert euch im Ensemble-Netzwerk! Und wenn die Themen schon lange auf der Agenda der GDBA stehen - dann braucht die GDBA vielleicht mehr Mitglieder, mehr Öffentlichkeit, mehr Wumms, damit die Themen umgesetzt werden können! Und wenn es dafür Lisa Jopt braucht, die mit Klasse, Hirn, Humor und Schrillheit bislang konkurrierende Theaterschaffende zu einem Ensemble-NETZ verwoben hat - wo ist das Problem? Zum Glück gibt es Lisa Jopt! (+ Tim Tonndorf + Anica Happich + Johannes Lange, u.a.).
Wenn von einem System wenige Privilegierte (*in Führungspositionen) profitieren, während die große Mehrheit unter den Mängeln dieses Systems leidet - dann ist nicht diese aufbegehrende Mehrheit das Problem (außer in den Augen der Führungspersonen natürlich,haha), sondern das System. Und ja, es gibt sicher Ausnahmen von Intendant*innen, die ganz toll und sozial sind - aber noch toller wäre es, wenn es einfach eine Struktur gäbe, die moralisch instinktlose Menschen davor schützt, ihre Machtposition egozentriert und „asozial“ [sic!] zu nutzen. Dafür braucht es viel Mut und ja, vielleicht besteht die Gefahr, dass das System öffentlich in Frage gestellt wird. Aber wenn die Öffentlichkeit wüsste, wie peinlich doppelmoralisch an öffentlich geförderten Theatern gearbeitet wird, müsste sie den Sinn und Zweck ihrer "moralischen Anstalten" eh hinterfragen. Von daher: Vielleicht schon heute mit einem vorgestern fälligen Strukturwandel beginnen, bevor jemand merkt, wie wenig glaubwürdig wir eigentlich sind. (*wir = nicht alle, ich weiß, Laszlo. Das war so'n Rhetorikding,sorry).
Wie auch immer. Tim, Lisa, ihr seid die Besten. Und die Kommentarspalte von Nachtkritik der Beweis, warum wir Menschen wie euch dringend brauchen.
(Und auch wenn hier vielleicht Wahlkampf gemacht wird: Die GDBA war doch immer die Gewerkschaft, die sich die ArbeitGEBER immer gewünscht haben. Zeit, dass sich was ändert).
Die Politik legt fest, wie hoch das Kulturbudget ist. Und jeder Bürger entscheidet selbst, welche Einrichtung(en) seinen Beitrag erhalten.
Die Großkultur heutiger Prägung hat keine Zukunft, gibt keine Impulse und dient dem Bürgertum lediglich der Selbstvergewisserung, dass es Bürgertum ist. Wir brauchen dynamische, mutige Ensembles.
Das ist Politik für wütende Kleinbürger und unterscheidet sich in Art und Umgangsformen in nichts von den vielen anderen wütenden Bewegungen, die gerade Parlamente stürmen oder gegen Minderheiten demonstrieren. Das ist der falsche Weg, der mehr Veränderungen verhindert als neue Weg aufzuzeigen. #16 vergiftet das Klima und trägt nichts zu den schwierigen Lösungen bei. Das ist keine Solidarität, sondern Polemik, die an keiner Debatte interessiert ist, das sie sich im alleinigen Besitz der Wahrheit meint.
Ich persönlich empfinde diese systematische Argumentationskette, der Erhaltendenden, ermüdend. Die Systemerhalter kommen im Grunde nicht über den Satz hinaus, der da heißt, es war immer so und es soll auch so bleiben. Zudem wird ein Extrem bemüht, indem man ein düsteres Bild der Stagnation malt. Dabei ignoriert man den inhumanen Umgang mit Menschen. Jeder normale Arbeitnehmer würde sich an den Kopf fassen bei den Arbeitsbedingungen. Das System nutzt seinen Vorteil, das dass Angebot (Vakanzen) klein und die Nachfrage (Schauspieler) groß ist. Hinzu kommt der Masochismus der Schauspieler, die dies viel zu oft zulassen. Und das, ist mindestens genauso zu kritisieren.
Die Theater machen sich während der Pandemie zusätzlich lächerlich. Sie nehmen die arme Opferrolle ein, sprechen von: wir sind auch relevant und wollen auch am Tisch für Erwachsene sitzen. Die Theater sind quasi seit Beginn der Pandemie kaum in Betrieb. Mir als Schauspieler hat man vermittelt, wenn du nicht spielst, weil du Fieber hast zum Beispiel, wird das dem Theater sehr schaden. Und die Theater haben eh kein Geld und bla bla bla. Ein düsteres Bild von Theaterschließungen wird ständig bemüht um die Gelder und Arbeitskraft bloß nicht zu mindern. Seit 20 Jahren wird gejammert und kaum ein Theater wurde geschlossen. Nun nach 10!!! Monaten in denen kaum gespielt wurde, hat immer noch kein Theater dicht gemacht. Aber mir erzählen sie, dass ich doch funktionieren muss. Das ist erbärmlich. Und warum ist nochmal kein Geld für angemessene Bezahlung da? Wer 10 Monate schließen kann, der hat schlicht kein Problem. Die Theater brauchen Angsterhaltung in vielen Bereichen, damit bloß keiner auf die Idee kommt, das System zu hinterfragen.
Ich wünsche mir, dass dieses, sich selbsterhaltende System zusammen bricht. Von humanistischer Bigotterie, vor und hinter dem Vorhang will ich gar nicht erst anfangen. Die lediglich auf Angst beruhende Autorität vieler Intendanten, ist ein erster Punkt den viele hoffentlich immer mehr hinterfragen.
ok, Überspitzung als Stilmittel ist in einer Kommentarspalte nicht für jeden erkennbar, vielen Dank, dass du darauf hinweist. Und die Kommentarspalte von nachtkritik bietet zudem durch Anonymisierung sowohl die Gefahr, dass wenige Personen mit verschiedenen Pseudonymen den Eindruck einer Masse erzeugen, als auch, dass eine Debatte hysterischer wird, als wenn man gemeinsam an einem Tisch säße. Aus deinen Beiträgen klingt für mich viel Angst durch - Angst vor Veränderung, vor Entmündigung, vor Deklassierung. Da werden Menschen, die sich aktiv für ein menschlicheres Theatersystem engagieren, als "neue Mächtige", als "Spalter", als "wütende Kleinbürger" bezeichnet, die "das Klima vergiften" und den Abgrund der neuen Theaterstruktur darstellen. Hoppala.
Aber weil du dich ja sehr für Lösungen und Debatten interessierst: Was für eine Lösung würdest du dir wünschen - also - mal angenommen, es wäre ALLES möglich? Wie würde für dich die perfekte Theaterwelt aussehen?
Ich kann ja mal grob skizzieren, wie meine aussähe (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): Starke, diverse, handlungsfähige Ensembles. Bühnenkünstler*innen, die als Künstler*innen wertgeschätzt werden, die an Prozessen und Entscheidungen teilhaben. Eine transparente Kommunikation innerhalb des Theaters. Gleichstellungs- und Diversitätsbeauftragte. Junge Frauen* als Regisseurinnen im Großen Haus. Assistierende, die respektvoll behandelt, angemessen bezahlt werden und aktive Hilfe beim Erklimmen nächster Karrierestufen erhalten. Keine radikalen Nichtverlängerungen bei Leitungswechseln. Ensembles werden als Herz des Theaters respektiert und Intendanzteams leiten die Theater verantwortungsvoll und werden von ihrer feudalen Macht entlastet und dürfen sich vor Allem als das verstehen, was ihre eigentliche Aufgabe ist: Als Manager*innen, als Vertreter*innen, als Schnittstelle zwischen Politik und Künstler*innen. Es gibt Dramaturgie- und Regieteams, die die künstlerische Handschrift eines Hauses prägen. Und nein, niemandem geht es darum, dass ein Ensemble forever an seinen Stellen klebt (wieso ist DAS eigentlich immer die größte Angst? Das offenbart deutlich, dass sich a) zu viele Raubtiere um zu wenig Futter reißen müssen und b) per se davon ausgegangen wird, dass Bühnenkünstler*innen, die länger als zwei Jahre an einem Haus sind, zu passiv-aggressiven Produktionsbremsen werden (meine Erfahrung ist übrigens das Gegenteil), bzw ist es c)eigentlich auch nur ein weiteres Indiz für ein klassizistisches Denken, nach dem man den Untertanen nicht zu viel Sicherheit / Macht zugestehen sollte - oh - Moment, Machiavelli ruft grad an, ich muss kurz rangehen!). Aber wenn sich aufgrund nachvollziehbarer Gründe ein Team (!) für eine Nichtverlängerung entscheidet - dann nur gegen eine Abfindung von einer Jahresgage. A propos Gage: Es würde ein System entwickelt, an dem anhand von Alters- und Berufserfahrungsstufen ablesbar wird, wer wieviel verdient.
Und nein, ich besitze definitiv nicht die alleinige Wahrheit (sad but true, Karo). Das hier - das ist nur ein Hirngespinst, ein Wunschdenken, eine Utopie. Und um es umzusetzen, fehlt vor Allem: Geld. Und auch der Wille, von alten Strukturen abzulassen und die Freude, sich auf Neues einzulassen. Aber insbesondere: Geld. Und nein, du hast total Recht, Karo - ich habe jetzt nicht die perfekte Lösung geliefert. Aber vielleicht auch, weil die perfekte Lösung nicht auf der Hand liegt. Und weil es sehr, sehr viel Arbeit ist, ein derart alteingesessenes System zu reformieren. Aber der erste Schritt ist: Auf Missstände hinweisen. Ohne, dass jemand kräht: ABER IHR HABT KEINE LÖSUNGEN! Ja. Einmal durchatmen. Und dann lasst doch mal ins Gespräch kommen!
Von daher gebe ich den Staffelstab jetzt an dich weiter, Karo! Achtung, das ist keine rhetorische, sondern eine ganz ernstgemeinte Frage: Wie sieht deine perfekte Theaterutopie aus?
(Anm. Red. eine längere Passage, die das Gegenüber unmöglich machen möchte, wurde aus diesem Kommentar im Dienste der Sachhaltigkeit entfernt.)
Ich denke selbstverständlich die Assistent:innen und alle anderen (besonders über NV Bühne angestellten) Menschen mit. Und das ensemble-netzwerk ohnehin. Dass ich das im Text nicht noch mal gesondert erwähnt habe, tut mir leid.
Ebenso ausgeklammert habe ich, dass jegliche Art von Veränderungen selbstverständlich bereits bei den Ausbildungsstätten beginnen muss. Auch hier ist das ensemble-netzwerk die erste Initiative, die sich aktiv um eine Vernetzung und Aufklärung des Nachwuchses bemüht und die aktuellen Diskurse des Theaters in die teilweise in rückständigen Zeitkapseln verhafteten Schauspielschulen trägt.
Zum Vorwurf der „Vermischung“ von „Wahlkampf“ für Lisa Jopt mit der grundsätzlichen Stadttheaterdebatte. (#2, #5, #12)
Ich finde die undifferenzierte Übertragung von Ansprüchen an öffentliche politische Wahlvorgänge auf diesen unseren Bereich etwas irritierend.
Weder bin ich Redakteur noch Kolumnist bei nachtkritik sondern mein Text ist ein Gastbeitrag, der meine persönliche Meinung widerspiegelt, und der von nachtkritik im Zuge einer breiten Abbildung der Debatte veröffentlicht wurde. Wenn jemand der geneigten Kommentator:innen einen eigenen Beitrag verfassen möge, in dem Argumente gegen eine Präsident:innenschaft von Lisa Jopt vorgebracht werden, und der auch ansonsten einen Beitrag zur Debatte liefert, würde ihn die nachtkritik vermutlich ebenfalls bringen.
Darüberhinaus ist ja die Situation der GDBA – und damit Lisa Jopts mögliche Präsident:innenschaft – ohnehin untrennbar mit der grundsätzlichen Debatte verknüpft, da es – wie ich ausführe – meine Überzeugung ist, das in dem Einzug der Werte und Konzepte des ensemble-netzwerks in die u.a. Tarifpartnerin GDBA gerade das Potential für langfristige, konkrete Veränderungen liegt.
Seit seiner Gründung wird das ensemble-netzwerk mit dem Vorwurf konfrontiert, es sei nur eine performative Wohlfühl-Bewegung ohne nennenswerte Konzepte oder Handlungsmöglichkeiten. Und ja, die GDBA wurde – teils heftig – kritisiert. Jetzt – nach jahrelanger Arbeit, Weiterentwicklung, Progression – sehen sich die Beteiligten in der Lage, ihre Visionen innerhalb der Gewerkschaft in konkretes arbeitsrechtliches Wirken zu überführen. Und nun lautet der Vorwurf, dass sie die GDBA bisher ja nur kritisiert hätten. In meinem Verständnis ist das doch aber genau der Weg von der Graswurzel-Bewegung zur politischen Akteur:in. Du findest Dich und Deine Belange in einer Institution nicht repräsentiert/nicht vertreten/nicht gehört und kritisierst die Institution. Doch statt sie abschaffen zu wollen oder eine konkurrierende Institution zu etablieren, möchtest Du genau diese Institution zum Besseren verändern.
Das ist doch ein nachvollziehbarer und wünschenswerter Vorgang!
Es ist leider wieder einmal bezeichnend, dass sich jetzt teilweise an einem aufgebauschten Strohmann („WAHLKAMPF AUF NACHTKRITIK!!!“) abgearbeitet wird, um vom eigentlich relevanten Gegenstand abzulenken.
Menschen, die aktiv im ensemble-netzwerk wirken, sind teilweise ebenfalls langjährige Mitglieder der GDBA – oder bereits ausgetreten, weil die genannten Themen möglicherweise schon „seit Jahren“ dort „im Programm“ sind, sich allerdings in vielen Bereichen absolut nichts tut. Viele aktive und ehemalige Mitglieder berichten von Papieren oder Initiativen, die einfach ausgesessen werden. Ich selbst bin zugegebenermaßen noch nicht mehrere Jahre dabei aber was ich bisher bereits an Schwerfälligkeit erlebt habe, bestätigt viele Eindrücke.
Und ein nicht unerheblicher Teil der Vorstöße des ensemble-netzwerks ist eben nicht neu. Beispielsweise ein Einbezug feministischer, antirassistischer, inklusiver und Gender-Debatten hat bisher in dieser breiten Form nicht stattgefunden. Unter dem Schirm des ensemble-netzwerks gibt es mittlerweile u.a. ein BIPoC-Netzwerk, ein Assistent:innen-Netzwerk und weitere werden wohl folgen. Es werden Debatten zu Arbeitsrecht, Digitalisierung, Öffentlichkeitsarbeit, politischer Sichtbarkeit, zur Situation von Frauen oder Queerfeindlichkeit am Theater angestoßen. Alles um eine gerechtere, raumgreifendere, inklusive Debatte zu führen und natürlich um möglichst diverse Sichtbarkeit, Expertise, Perspektiven und Erfahrung einzubringen.
Abgesehen davon: Was soll „Das ist nicht neu!“ überhaupt für ein Argument sein innerhalb einer Debatte? Wenn Veränderungen vonnöten sind, ist es doch völlig wurscht bzw. sogar höchst bezeichnend, dass offensichtlich seit Jahrzehnten nichts passiert. Jegliche Anregung beispielsweise einer grundsätzlichen Veränderung von Leitungsstrukturen am Theater wird von aktuellen und ehemaligen Intendant:innen stets mit dem „Das haben wir alles schon versucht!“ abgewunken. Als wären Zeiten, Strukturen, gesellschaftliche Verhältnisse und Umstände nicht permanent im Wandel! Was bringt dieses behäbige Stillstehen?
Zum Thema „Es ist nicht die richtige Zeit für diese Debatte!“ (#1)
Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass Sie da eines der abgeschmacktesten, perfidesten politischen Framings reproduzieren? Wir befinden uns quasi seit Jahrzehnten permanent in irgendeiner Krisensituation und stets werden Forderungen gerade der Arbeiter:innen zurückgewiesen mit dem Argument, die Krise sei nicht der Moment, um über Lohnerhöhungen oder andere arbeitsrechtliche Punkte zu streiten. Selbstverständlich sind Krisen exakt der Moment, wo über diese Dinge gesprochen werden muss! Wann, wenn nicht dann? Gerade, weil die Sollbruchstellen des Systems sich in der Krise so deutlich zeigen wie nie, muss jetzt angesetzt werden um sie zu kitten.
Und dieser Titanic-Vergleich ist – mit Verlaub – in der angewandten Form extrem hanebüchen. Ist das tödliche Wasser, das gleichmäßig verteilt werden soll, das Sinnbild für die fairen Arbeitsbedingungen, oder wie? Andersherum wird ein Schuh draus! Auf der Titanic ist exakt das passiert, was jetzt passiert. Durch die Krise werden die Kapitalismus-induzierten Ungerechtigkeiten exponentiell vergrößert, indem die weniger Privilegierten keinen Platz in den Rettungsbooten bekommen.
Es geht hier um die Abbildung einer systemischen Machtstruktur. Und selbstverständlich gibt es Leitungen, die völlig anders agieren als von mir beschrieben. Aber es ist dasselbe Prinzip wie in anderen Debatten („alte Weiße Männer“, #MenAreTrash, etc.). Es geht um die offensive Sichtbarmachung eines defizitären Systems, dass sich en gros ständig gegen grundsätzliche strukturelle Veränderungen verwehrt. Was bringt es, ständig und immer wieder darauf hinzuweisen, dass es „auch andere gibt“ (#NotAllIntendanten)? Das hat mit „Differenzierung“ nichts zu tun sondern einzig mit einer Verschiebung des Diskurses bzw. des Fokus. Statt darüber zu sprechen, was zu tun ist, wird darüber gesprochen, wie formuliert wurde, das etwas zu tun ist.
Apropos was zu tun ist!
Zum Vorwurf der fehlenden Lösungsvorschläge. (#7, #20)
Das wird Sie jetzt vermutlich nicht zufriedenstellen, aber das ist weder mein Anspruch noch meine Expertise. Hören Sie den Menschen zu, die die wirkliche Arbeit machen. Das ensemble-netzwerk und andere assoziierte kulturpolitische Initiativen debattieren seit Jahren über konkrete Inhalte, beispielsweise auf den Bundesweiten Ensemble-Versammlungen oder der Konferenz Konkret. Dort können Sie Einblicke in die Debatten um Lösungsansätze gewinnen und sich beteiligen, wie wir alle das tun. Sie könnten auch die Arbeit von Prof. Thomas Schmidt sichten, der im Übrigen die desaströse Situation der Theaterleitungen auch empirisch belegt hat. Falls Sie GDBA-Mitglied sind, nehmen Sie an den Veranstaltungen Teil, an denen Lisa Jopt sich und ihre Pläne vorstellt.
Es geht mir selbst vordergründig um Sichtbarmachung und um das Provozieren von Reaktionen, die das Gefälle aufzeigen und um eine Einordung, weil das nämlich sonst niemand tut. Die aktuellen Entscheidungsträger:innen haben nachweislich kein Interesse an Veränderung und die progressiven Kräfte sind gerade in diesen Zeiten bis zur Überbelastung mit aktiver, realer konkreter Arbeit beschäftigt. Meine Stimme ist eine Gegenstimme zu den zig Interviews mit Menschen wie Jens Neundorff von Enzberg. Denn die Debatte droht besonders aufgrund der Pandemie immer wieder aufs Neue in der Versenkung zu verschwinden. Wie ich im Text erläutere, ist das erklärte Ziel der meisten momentanen Entscheidungsträger:innen (von Bühnenverein über Intendant:innengruppe bis Politik) ein Erhalt des Status quo. Das signalisiert mir, dass es wohl selbst den Debatten-Anstoß immer und immer wieder braucht, weil andernfalls die Deutung überwiegt, dass alles so bleiben muss, wie’s ist.
Ich weiß, Sie werden mir gleich wieder „Wahlkampf“ unterstellen. Aber eine ernstgemeinte Frage: Welche andere Kraft, die momentan gesamttheatergesellschaftliche Prozesse des Denkens und der Veränderung anstößt, haben wir aktuell außer dem ensemble-netzwerk und den vielen assoziierten Initiativen?
Von mir in der Internet-Kommentarspalte aufgeschlüsselte Lösungsansätze für komplexe Vorgänge zu erwarten, ist ein bisschen wie von einer/einem Theaterkritiker:in zu verlangen, selbst zu sagen, wie’s denn anders hätte inszeniert werden sollen. Darum geht’s mir nicht. Das können Sie von mir aus „hitzig“ oder „unkonkret“ oder „heiße Luft“ oder von mir aus auch „nicht links“ nennen (ich weiß, gerade im Theater haben viele das Linkssein erfunden und patentiert) – es ändert aber nichts an den Tatsachen.
Wie sagte der alte ostdeutsche Leiter meines Regiestudiengangs so schön: „Machen Sie von mir aus Revolution, aber bitte nicht an meinem Theater.“
Auch das ist ein (gerade in bürgerlichen bis konservativen Kreisen) beliebter Spin: Sobald auf Missstände hingewiesen wird, ist man ein:e Spalter:in, weil die heilige deutsche Geschlossenheit bedroht gesehen wird. Ich konstruiere – mit Verlaub – kein Gefälle, es existiert bereits. Oder wollen Sie das ernsthaft leugnen? Sie wollen keinem „Lager“ angehören? Es soll einen „Gesamtwillen“ geben? Was für ein Verständnis von Demokratie und Streitkultur ist das bitte? Nennen Sie es halt nicht „Lager“ oder „Bewegung“ sondern „politischer Gegner“ oder „andere Meinung“ oder sonst wie. Und auch die „Mitte“, der Sie sich in meinem Verständnis zuzurechnen scheinen, ist natürlich ein „Lager“ in dem Sinne. Finden Sie die Lücken in der Diskussion! Stellen Sie Fragen! Ich verspreche Ihnen, sie werden ihren Raum finden! Aber Sie dichten hier lediglich meinem Beitrag eine Hermetik an, die ich überhaupt nicht leisten könnte, und das an tone policing grenzende Monieren über meine Form rückt (wieder mal) die eigentliche Debatte aus dem Fokus.
Unkündbar muss zu jeder Zeit etwa 30% des Ensembles sein, dass heißt Anzahl Jahre im Festvertrag spielen für die Unkündbarkeit keine Rolle. Somit kann auch ein*e Anfänger*in unkündbar gemacht werden, wenn ein*e unkündbare Kolleg*in selbst kündigt oder in Rente geht. Die künstlerische Leitung entscheidet darüber, wer die unkündbare Stelle angeboten werden soll. Der Rest des spielenden Ensembles sind über Stück- und Jahresverträge angestellt. Das hat die Gewerkschaft vor Jahrzehnten herausgehandelt. Die Verträge der Spieler*innen sind ansonsten nicht unbedingt an der jeweiligen Intendanz gebunden, sondern laufen auch über Intendantenwechsel hinaus.
Im Theater sind alle Verträge Normalverträge des öffentlichen Dienstes, nur mit Sonderregelungen für Tänzer*innen und Schauspieler*innen da wo es berufsspezifisch zutrifft. Man hat aber dieselbe Rechte und denselben Schutz wie eine*n Mitarbeiter*in des öffentlichen Dienstes, es gelten auch öffentliche Gagentabellen (wie auch für Regiesseur*innen, Ausstatter*innen, Autor*innen usw. Die großen Stars auf und hinter der Bühne müssen also mit dem Gehaltsniveau auskommen, was ihrer Berufsjahre und nicht ihrem Fame/Ego entspricht. Auch das Gehalt der Theaterleitung wird in öffentlich zugänglichen Jahresberichten veröffentlicht, was für große Transparenz und geringe Gehaltsunterschiede zwischen Leitung und Belegschaft sorgt). Die verschiedenen künstlerischen Berufsgruppen werden ansonsten nicht in einen NV-Bühne-Topf geworfen, sondern jeder hat den Vertrag, der zu seiner Arbeitswirklichkeit passt. Das heißt, dass alle, die nicht auf der Bühne stehen, in der Regel unkündbar (Marketing, Dramaturgie, Soufflage, Maske usw.) und nicht auf Intendanzen gebunden sind. Das bedeutet weiter, dass bei Intendanzwechsel meistens tatsächlich nur der*die Intendant*in wechselt.
Proben tut man in der Regel nur Vormittags (8 Wochen Normalprobenzeit), jede*r Spieler*in darf dazu jeweils maximal 20 Abendproben pro Spielzeit haben. Eine gewisse Anzahl an langen Proben und Samstagsproben darf es pro Produktion auch geben, muss aber frühzeitig kommuniziert werden. Sonntags spielen die meisten Theater nicht (dann sind die Norweger*innen eh im Wald oder in den Bergen), wenn sie es tun, gibt es aber dazu genaue Sonderregelungen.
Durch gute Arbeitsverträge und damit einen starken Arbeitsnehmerschutz, ist die Macht der*des jeweiligen Intendant*in über den*die einzelnen Arbeitsnehmer*in mehr oder weniger auf die programmatische Ausrichtung und die Jahres-/Stückverträge der Spielenden begrenzt. Daher habe ich in Norwegen auch nie eine*n Intendant*in von "meinem Haus" reden hören, in Deutschland aber schon öfter (als wäre ein öffentlich gefördertes Haus das Eigentum von einer Person). Meistens wechseln dann auch die Intendanzen zum 1. Januar (also mitten in der Spielzeit), wobei der*die designierte Intendant*in davor mindestens ein halbes Jahr mit dem*der ausschiedenden Intendant*in zusammenarbeitet, um das Programm zu planen.
Trotzdem (oder vielleicht gerade deswegen?) schafft man es also auch in Norwegen gutes (und viel) Theater zu produzieren. Und man schafft daneben auch noch ein Privatleben zu führen. Dass die deutsche Theaterlandschaft für sich eigene Lösungen entwickeln muss und nicht unbedingt das norwegische Modell 1 zu 1 übernehmen kann (oder sollte) ist mir klar, dass es aber nicht anders geht als heute, ist einfach quatsch.
danke für Ihre Replik (#28).
Die ganze Debatte hier auf Nachtkritik zeigt doch geradezu, wie wenig sachliche Diskussion zustande kommt. Ich lese hier, in den Kommentaren, fast nichts als "Lager", nichts als "dafür" und "dagegen". Das bildet aus meiner Erfahrung die Realität an den Theatern nicht ab. Offensichtlich erlebe ich die Gegnerschaften nicht so stark wie Sie.
Aber natürlich muss ich mir selbst an die Nase fassen, denn ein Beitrag wie der meinige trägt auch nicht gerade zur Sachlichkeit bei. Da haben Sie schon recht; am besten werde ich in Zukunft die Finger von der Tastatur lassen. Und wenn mein Beitrag als "tone policing" rüberkam, dann tut mir das leid, das war so nicht gemeint.
In der Hoffnung auf bessere Zeiten wünsche ich alles Gute!
Oder bin ich als reiner Zuschauer völlig realtitätsfremd? Wird Theater in Stadttheatern gar nicht für das Publikum gemacht, sondern ist künstlerischer Selbstzweck, reine Selbstdarstellung oder Selbstverwirklichung der Akteure - ohne die Absicht, irgend jemandem zu interessieren, der außerhalb dieser Theaterszene lebt?
Aus meiner Sicht (reiner Zuschauer) stellt sich in dieser Diskussion ein Verteilungskampf um knappe Mittel dar, der hauptsächlich dadurch zustande kommt, dass viele Stadttheater ihr Publikum nicht ausreichend ins Theater locken. Und deshalb Steuergelder von Nicht-Theatergängern einsetzen, damit die Theater überhaupt überleben können - und das auch schon vor bzw. außerhalb von Coronazeiten.
Der Artikel benennt die bekannten Probleme – und dass die bekannt sind, macht es absolut nicht überflüssig, sie noch einmal zu benennen und noch einmal und noch einmal.
Das Traurige ist ja, dass sich über bekannte menschenverachtende Zustände und Entscheidungen so wenig aufgeregt wird.
Was das Theater angeht, zitiert der Text ja z.B. eine aktuelle Aussage des designierten Intendanten der Theater Eisenach und Meinigen, Jens Neundorff von Enzberg, der über Entlassungen/“Vertragsnichtverlängerungen“ von Theatermenschen (künstlerischen Mitarbeiter*innen) sagt:
"Das ist die Brutalität unseres Jobs. Der ist im wahrsten Sinne des Wortes asozial. Aber alle, die sich darauf einlassen, wissen davon."
Alle wissen davon und halten das für richtig so? Nein, es ist nicht alles richtig, was juristisch möglich ist und praktiziert wird. Regelungen müssen und können verändert werden und der rechtfertigende Glauben, dass alles Mögliche okay sei und zur Kunst gehöre.
Menschen wie Lisa Jopt (als GDBA-Präsidentin, ja!!!) und viele Andere vom ensemble-netzwerk und darüber hinaus arbeiten daran, eben dieses Denken zu verändern. Dauert eine Weile, aber ist schon ziemlich weit gekommen und das ist wunderbar!
Mehr Solidarität am Theater ist immer ein wichtiges Thema. Besonders in der Pandemie. Besonders von Arbeitgebenden gegenüber Arbeitnehmenden. Und bitte, bitte kommt doch alle in die GDBA. Je mehr Mitglieder, je vielfältiger die Diskussionen desto stärker die Interessenvertretung.
#youarenotalone
#killthetheaterfolklore
#gdbachange