Das Reden der anderen

von Esther Slevogt

Potsdam, 18. Oktober 2008. Die Verhaftung fand auf offener Straße statt. Oder früh morgens, als man noch im Bett lag. Man wurde beim Versuch festgenommen, illegal die Grenze zu überqueren. Oder musste sich "zur Klärung eines Sachverhalts" zur Polizei zu begeben, von wo es dann für viele Jahre kein Zurück ins Leben mehr gab. Am Anfang steht nur ein einsamer Maultrommelspieler auf der leeren Bühne und spielt sein unheimliches Instrument. Immer kommt dann ein Mensch hinzu, spricht und bleibt. Schließlich sind es fünfzehn Menschen. Sie werden in den nächsten zwei Stunden erzählen, wie sie in die Fänge der Staatssicherheit gerieten.

Fünfzehn Menschen erzählen

Da sind Prominente, wie die ehemalige Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld, die im Januar 1988 in Ostberlin auf der legendären Liebknecht-Luxemburg-Demo verhaftet worden war. Oder der Liedermacher Stephan Krawczyk, der zu diesem Abend die Musik beisteuert, die bedrohliche Maultrommeluntermalung am Anfang zum Beispiel. Mit seiner damaligen Frau Freya Klier gehörte er in den Achtziger Jahren zu den bekanntesten DDR-Dissidenten.

Da ist Edda Schönherz, Moderatorin aus der Frühzeit des DDR-Fernsehens, die ihren Versuch, mit ihrer Familie die DDR zu verlassen, mit drei Jahren im berüchtigsten Frauenzuchthaus der DDR bezahlen musste. Der älteste, Hans-Eberhard Zahn, ist achtzig Jahre alt. Der jüngste, Mario Röllig, ist Jahrgang 1967 und geriet ins Visier der Stasi, weil er einen westdeutschen Politiker liebte, aber nicht bespitzeln wollte.

Gefährdung der ganzen Welt

Das biografische Material ist für "Staats-Sicherheiten" in Kapitel strukturiert: Festnahme, Transport, Untersuchungshaft, Prozess, Freilassung. Projizierte Fotos zeigen die Erzähler etwa in der Zeit, als ihr Leidensweg begann. Hartmut Richter sieht man auf dem Foto sogar neben dem geöffneten Kofferraum stehen, in dem seine Schwester und ihr Verlobter liegen, die er aus der DDR herausschmuggeln wollte – vermutlich wurde es bei seiner Festnahme gemacht. Es sind beeindruckende Menschen und beeindruckende Geschichten, die mit einer großen, manchmal fast unerträglichen Leichtigkeit erzählt werden.

Gilbert Furlan zum Beispiel, den es reizt, hier nun einmal in die Rolle seines Vernehmers zu schlüpfen, sich also selbst aus dessen Sicht als Opfer schildert, um dann am Ende doch die Rolle als Häftling 314/1 für sich anzunehmen. Oder Hans-Eberhard Zahn, der mit ironischer Lakonie den Grund seiner Verurteilung zu sieben Jahren Haft referiert: "Gefährdung des Friedens des deutschen Volkes. Und der Welt." Natürlich ein Lacher, obwohl es eigentlich zum Weinen ist.

Zufall, Willkür, Systematik

Und Harry Santos, der in einer kurzen Erzählung aus seiner Haft das ganze Drama der fehlgeleiteten DDR, die ein besseres Deutschland sein wollte, auf den Punkt bringt: als ihm angesichts seiner eigenen Behandlung als DDR-Häftling Wolfgang Langhoffs KZ-Bericht "Die Moorsoldaten" einfällt, antifaschistische Identifikations- und Grundlagenliteratur, und er plötzlich denkt: "Jetzt bin ich auch ein Moorsoldat."

Regisseur Clemens Bechtel, 1964 in Heidelberg geboren und Absolvent der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen, hat das biografische Material mit viel Gespür in knappe Szenen gefasst. Da sitzen die Spieler ihren imaginären Vernehmern gegenüber, spielen ihr Eingepferchtsein in den Gefangenentransporter oder die bedrückende Zellensituation vor. Erzählen, wie es nach ihrer Entlassung weiterging. Dieter von Wichmann, der nach der Wende von seinem Vernehmer angerufen wird und auf einen unbelehrbaren Zyniker stößt. Heidelore Rutz, die in einem Westkaufhaus die Bettwäsche angeboten sieht, die sie in der Haft mit herstellen half. Oder Erhard Neubert, der bei der Schilderung einer Besichtigung seiner ehemaligen Haftanstalt mit den Tränen kämpft.

Wendung ins Demagogische

Insgesamt ein starkes Stück Dokumentartheater, kühl, scharf, nie sentimental oder demagogisch. Der Abend beruht auf einer Idee der streitbaren Journalistin Lea Rosh, die dann leider auch zuerst auf der Bühne stand. Nicht als Darstellerin sondern als Selbstdarstellerin, was den Abend ungut beginnen ließ. Denn hier war nun wahrlich keine Moderatorin nötig, die dem Publikum einleitende Erklärungen "zum Ablauf des Abends" geben musste. Eher entwertete sie durch ihren Auftritt das Projekt. Doch war Bechtels Inszenierung dann stark genug, den Lapsus bald in Vergessenheit geraten zu lassen.

Am Ende rückten nach einem stürmischen Applaus, der in stehende Ovationen übergegangen war, die Darsteller auf Hockern an die Rampe. Lea Rosh ergriff, mittig zwischen ihnen platziert, das Mikrophon, und man konnte Fragen stellen. Nicht, dass dies keine Berechtigung hätte. Aber bald steht dann auch Hubertus Knabe auf der Bühne, der Leiter der Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen, aus deren Zeitzeugenbörse fast alle Mitwirkenden des Abends stammen. Sie machen immer noch eine gute Figur. Aber der Abend nimmt eben jetzt doch die Wendung ins Demagogische, Parteipolitische, Abrechnende. Und mittendrin produziert sich Lea Rosh, der man die Größe gewünscht hätte, sich angesichts dieses beeindruckenden Abends im Hintergrund zu halten.


Staats-Sicherheiten
Konzept von Lea Rosh und Renate Kreibich Fischer
Inszenierung: Clemens Bechtel, Bühne: Christoph Schubiger, Musik: Stephan Krawczyk.
Mit: Vera Lengsfeld, Heidelore Rutz, Edda Schönherz, Dieter Drewitz, Gilbert Furian, Stephan Krawczyk, Mathias Melster, Erhard Neubert, Thomas Raufeisen, Hartmut Richter, Mario Röllig, Harry Santos, Dieter von Wichmann, Peter-Michael Wulkau, Hans-Eberhard Zahn.

www.hot.potsdam.de


Mehr lesen? In Potsdam gibt es zur Zeit noch andere Projekte, die mit biographischem Material arbeiten: etwa Petra Luisa Meyers Putin hat Geburtstag und Adriana Altaras' Der Fall Janke.

 

Kritikenrundschau

"Dies ist kein gewöhnlicher Theaterabend", beginnt Andreas Schäfer seine Rezension von "Staats-Sicherheiten" im Tagesspiegel (20.10.). An diesem Abend sei das Publikumsgespräch danach "genauso wichtig" wie das, was auf der Bühne zu erleben sei. "Nüchtern, ganz auf die Vorgänge bezogen", berichteten die 15 Darsteller dort von Verhaftung, Verhör und vom "erniedrigenden Tagesablauf während der Isolationshaft, der darauf angelegt war, Würde und Individualität zu zersetzen". "Die Berichte allein sind so erschütternd, dass es einem mehr als einmal die Tränen in die Augen treibt", so dass die "sparsamen Mittel" (Tisch, Zellenbett und -tür) "des klug sein Material ordnenden Regisseurs" Clemens Bechtel, gar nicht "nötig gewesen" gewesen seien. So löblich Schäfer es findet, dass die Veranstaltung überhaupt stattfindet, hält er es angesichts der Potsdamer Geschichte für beklagenswert", dass sie so spät komme. Auch habe man den "Staats-Sicherheiten" am Hans Otto Theater gerade einmal drei Vorstellungen eingeräumt, dabei wünsche man ihnen "eine Tournee durch die Theater und Schulsäle dieser Republik inklusive Gastspiel im Deutschen Bundestag".

Das gleich im Anschluss an die Aufführung stattfindende Publikumsgespräch verwischt für Dirk Pilz von der Berliner Zeitung (20.10.) den "überwiegend starken Eindruck der Inszenierung" eher. Dieser Theaterabend, sei "mehr als ein Projekt, das den Opfern Bühne und Stimme gibt", nämlich "dokumentarisches Theater über den Stasi-Komplex, seine zynische Logik, seine brutalen Mechanismen, seine dumpfe Perfidität". Vor allem den Darstellern sei zu verdanken, dass daraus "kein bloßes Anklagetheater wurde", indem sie "weder tränendrüsig noch wutgrollend ihre Schicksale zu Markte" trügen, sondern "in bemerkenswert nüchternem Ton" einen Text bewältigten, "der aus ihren eigenen Erinnerungen entstand." Diese chronologisch zu ordnen, sei sinnvoll, unsinnig hingegen, dass Regisseur Clemens Bechtel "die Laiendarsteller zwischen Zellenbett und Vernehmer-Sessel zu illustrierendem Spiel" anhalte. Das lenke "mehr ab, als dass es den Darstellern Halt geben würde". Den sie außerdem gar nicht brauchten, da ihre Geschichten ohnehin "erschreckend, berührend, aufrüttelnd, traurig und auch komisch genug" seien. Allein durch das Vertrauen "auf die Erzählkraft" entstünden "starke Momente". Dazu das Maultrommelspiel Stephan Krawczyks, "mehr braucht es nicht, um zu erfahren, dass alle DDR-Romantik nur auf dem Mist mangelnden Wissens oder vorsätzlichen Vergessens wachsen kann".

18 Jahre nach der Wende, "höchste Zeit, dass sich auch das Potsdamer Hans-Otto-Theater an den historischen Aufräumarbeiten beteiligt", findet auch Frank Dietschreit von der Märkischen Allgemeinen (20.10.); "bedenklich allerdings" auch, dass ausschließlich "Wessis" für "Stück-Recherche, Regie und Intendanz zuständig" seien. "Staats-Sicherheiten" bringe "in schnörkelloser Sprache und dokumentarischer Präzision Ungeheuerlichkeiten wieder ans Tageslicht, die mit der Utopie der Freiheit von Unterdrückung und Ausbeutung nichts, mit der willkürlichen Diktatur einer Macht-Clique alles zu tun haben". Die Darsteller rekonstruierten "in knappen Worten Facetten ihrer individuellen Geschichte. Ein paar Holz-Hocker, ein Schreibtisch, Aktenordner, ein Bett, mehr brauchen sie dazu nicht" – ein "denkwürdiger Theaterabend".

Für "ein außergewöhnliches" und "sensibel gestaltetes Dokumentar-Stück" hält auch Klaus Büstrin von den Potsdamer Neuesten Nachrichten (20.10.) die "Staats-Sicherheiten". Dabei sei es Bechtel "in beeindruckender Weise gelungen", die Betroffenen selbst zu Darstellern werden zu lassen. Sie versuchten "gar nicht erst, sich als professionelle Schauspieler ins Zeug zu legen", sondern blieben sie selbst und berichteten "ohne Pathos, ganz sachlich und schlicht" von ihrer persönlichen Geschichte, während Stephan Krawczyk "bewegende Lieder" singe. Das karge Bühnenbild unterstreiche "das Schreckliche, Hoffnungslose" noch. "Das Ausmaß des furchtbar Erlebten sowie die Ängste der Häftlinge kann der Zuschauer nur erahnen." Dem "beeindruckenden und begeistert aufgenommenen Dokumetar-Theater, das gut und gern für sich allein stehen kann", werde "ohne Punkt und Komma" eine von Initiatorin Lea Rosh "'verordnete' Diskussion angefügt". Auch Büstrin wünscht der Inszenierung "mehr als nur drei bisher geplante Vorstellungen".

 

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