Puzzle eines Verbrechens

von Petra Hallmayer

München, 19. Oktober 2008. Sie war eine Tochter aus gutem Hause. Eines Nachts findet man ihre Leiche am Straßenrand, nackt und mit Blutergüssen übersät. Die Spuren in Fausto Paravidinos Stück "Stillleben in einem Graben", das im Marstall des Bayerischen Staatsschauspiels Premiere feierte, führen zu Drogenhändlern und Prostituierten.

Auf dem asphaltgrauen Bühnenboden, der zu einer Rampe ansteigt, breiten die Schauspieler in einem Reigen aus Erzählpassagen das Puzzle eines Verbrechens aus. Wir begegnen lauter guten Bekannten: Einem desillusionierten nikotin- und koffeinsüchtigen Inspektor, der als Argument gern auch mal die Faust einsetzt und sich mit trotteligen Kollegen und einem karrieregeilen Polizeipräsidenten herumärgern muss. Einer Mutter, die feststellt, dass sie ihre Tochter nicht kannte und der Fremde in ihrem Wohnzimmer ihr Mann ist. Einem Mädchen, das vor Krieg und Armut ins "Land von Vivaldi und Puccini" geflohen ist und auf dem Straßenstrich landet.

Sattsam vertraute Abgründe

Paravidino, der mit Politdramen wie "Genua 01" und "Peanuts" bekannt wurde, als junger Neoliberalismuskritiker zum Lieblingsitaliener des deutschen Theaters avancierte, hat sechs Monologe zu einem Krimi verwoben, der alle obligatorischen Ingredienzien des Genres enthält. So nennt er seine Figuren aus dem Strickmusterbogen denn folgerichtig Cop und Dealer, Mother, Bitch und Boyfriend. Man kann sich vorstellen, dass die flüssig geschriebene, an lakonischem Witz reiche Stilübung, die 2001 in Mailand uraufgeführt wurde, dem heute 32-jährigen Autor Spaß gemacht hat. Nur leider sind die Fäden seiner Mordgeschichte im häufigen Gebrauch fadenscheinig geworden. Dass die Grenzen zwischen der Mitte und den Rändern der Gesellschaft durchlässiger sind als man in den Festungen bürgerlicher Wohlanständigkeit glauben möchte, wissen wir längst aus unzähligen Fernsehkrimis. Die Abgründe, in die wir schauen, sind uns sattsam vertraut.

Paravidinos Kleinstadt ist ein kalter Ort. Wir treffen einen aus Langeweile zugedröhnten Provinzjugendlichen (Martin Liema), der sich im Auto lustlos eines Mädchens als Wegwerfware bedient. "Italien", erklärt uns die Bilderbuch-Nutte (Katharina Gebauer), eine traurige Kindfrau in brombeerroten Minishorts und hochhackigen Stiefeletten, "ist der Platz vor Agip. Ist Mund, Fotze, Titten, Arsch. Mülltonnen, die brennen, damit es ein bisschen warm wird." Letztlich aber verweist "Stillleben in einem Graben" nicht auf die unschönen Realitäten von Bella Italia zwischen sozialer Brutalisierung, Berlusconis medialem Verdummungsimperium und Mafia-Müllbergen, sondern auf Romane und Filme. Dort und nur dort reißen sich schließlich die Cops, kaum ins Krankenhaus eingeliefert, zwanghaft die Schläuche und Kanülen heraus, um flugs zurück ins Verbrecherjagdrevier zu rennen.

Maßgeschneiderter Commissario und hibbeliger Dealer

Johannes Schmid, der für seinen Film "Blöde Mütze" mit dem Kinder-Medien-Preis ausgezeichnet wurde, löst in seiner angenehm unprätentiösen Inszenierung die prosanahe Monologstruktur des Stückes nicht auf, lässt seine Schauspieler frontal ins Publikum sprechen. Damit sie nicht dauernd dumm herumstehen, dürfen sie sich immer wieder auf einen Stuhl setzen. Das Ensemble bewältigt die schwierige Aufgabe, die Spannung nahezu ohne szenische Interaktionen zu halten, ausnahmslos überzeugend: Stefan Wilkening als schnoddrig bissiger Spürhund, ein optisch maßgeschneiderter Commissario mit dunklen Schneckenlocken, hellbrauner Lederjacke und farblich passenden Schuhen, Stefan Maaß als hibbeliger Dealer zwischen lässigen Strahlemannposen und den Panikattacken eines ewigen Losers, Ulrike Arnold als fassungslose Mutter mit schmerzgeweiteten Augen.

Allein, die Darsteller können aus dem Text nicht mehr herauszaubern als darin steckt, und der Mangel an Spielszenen macht die Aufführung irgendwann doch etwas ermüdend. Nur ganz vereinzelt setzt Schmid eigene bildliche Akzente. Schweigend raucht der Inspektor eine Zigarette, während sich der Dealer einen Joint ansteckt und die Ehefrau Pillen schluckt, Trost sucht bei mother's little helper. Auch die Tote hat gegen Ende noch einen pantomimischen Auftritt, in dem sie uns die Grausamkeit des Verbrechens vor Augen führen soll.

Die Auflösung ist zugleich überraschend und vorhersehbar. Der Schuldige findet sich nicht in den schmuddeligen Randbezirken der Gesellschaft. Er ist einer von uns. Doch man sollte diesen Fall wirklich nicht zu sehr aufbauschen.

 

Stillleben in einem Graben
von Fausto Paravidino
Inszenierung: Johannes Schmid, Bühne und Kostüme: Michael S. Kraus. Mit: Martin Liema, Stefan Wilkening, Ulrike Arnold, Stefan Maaß, Katharina Gebauer, Frederic Linkemann, Anna Holter.

www.bayerischesstaatsschauspiel.de

 

Mehr Krimis auf der Bühne? In unserem Archiv-Regal finden Sie zum Beispiel Andrea Maria Schenkels Bestseller Tannöd (aus Dresden und Fürth) sowie Dostojewkis Verbrechen und Strafe im Original wie auch in einer Koltès-Bearbeitung: Trunkener Prozess.

 

Kritikenrundschau

Paravidinos "Kunstgriff" sei es, so Rolf May in der Münchner tz (21.10.), einen "Tatort" "aus der Innenperspektive" geschrieben zu haben. Mit dem "Kunstfehler" allerdings, dass der Fall am Ende gelöst werde – "keine Antwort wäre mehr gewesen". Auf leerer Bühne böte Johannes Schmid jedoch "expressives, brisantes Körpertheater, bei dem der Kommissar "souverän im Mittelpunkt" stehe.

Mathias Hejny in der Münchner AZ (21.10.) sieht in der Monologstruktur des Dramas "Stärke und Schwäche" zugleich: "Fesselnd als Lesefutter, auf der Bühne wenig dramatisch." Regisseur Schmid unterstütze die "anti-illusionistische Dramaturgie" des Autors und verkneife sich "mit Ausnahme der Kostüme jeden Naturalismus": "Die von Michael Kraus entworfene Spielfläche ist ein stark stilisiertes Stück Landstraße, auf dem hoch präsente Schauspieler Typen und Chargen zu einem fast durchweg spannenden Personengeflecht weben."

 

 

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