Die Last der Vergleiche

10. Februar 2021. Eigentlich sollten Ersan Mondtag und Olga Bach im Haus der neuentstehenden Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" eine Performance zu Kernthemen der künftigen Arbeit der Stiftung machen. Doch dann kam es zum Streit zwischen dem Künstlerduo, der Stiftung und ihrer Direktorin Gundula Bavendamm. Was ist da los?

Von Esther Slevogt

10. Februar 2021. Wann kommt es heute noch vor, dass Theater einmal heraustritt aus seinen geschützten Räumen und Meinungsblasen? Im September 2020 nahm der Regisseur Ersan Mondtag das Angebot der Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" an, im noch leeren Haus in Berlin eine Performance zu inszenieren.

Die Neugestaltung des ehemaligen Deutschlandhauses, das künftig das Dokumentationszentrum der Stiftung beherbergen wird, war abgeschlossen. Bevor dort mit dem Innenausbau begonnen werden sollte, wollte sich die neugeschaffene Institution mit einer kräftig ausstrahlenden Kulturveranstaltung ins öffentliche Bewusstsein katapultieren. Samt ihrer Aufgabe, "die letzte Lücke in der deutschen Erinnerungskultur" zu schließen, wie es seit Gründung der Stiftung in öffentlichen Erklärungen immer wieder heißt. Diese Lücke meint das Schicksal der etwa 12 Millionen Deutschen, die nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg ihre Heimat in Ostpreußen, Schlesien oder Pommern verlassen mussten.

Die Stiftung und die Vertriebenenverbände

Ein heikles Thema, in dessen Zentrum die Frage steht: Wie kann vom Leiden der Deutschen im Zweiten Weltkrieg gesprochen werden, ohne ihre Schuld an diesem Krieg und die entsetzlichen Verbrechen zu relativieren, die in ihrem Namen begangen wurden.

kolumne 2p slevogtInsofern muss man erst einmal beiden Seiten zu ihrem Mut gratulieren: der Stiftung und ihrer Direktorin Gundula Bavendamm dafür, mit Ersan Mondtag einen Mann der schnellen, zugespitzten Meinung und einer nicht unbedingt konsensfähigen Bildsprache auf ihr heikles Kernthema anzusetzen. Ersan Mondtag und seiner für die Performance engagierten Autorin Olga Bach für ihren Mut, die wohltemperierte Comfort Zone des Stadttheaters zu verlassen, um sich auf ein Terrain zu begeben, wo sich seit Jahrzehnten auch revanchistische und rechte Krawallmacher tummeln, die selbst europäische Nachbarn immer wieder verstören: Erika Steinbach zum Beispiel, die lange dem Bund der Vertriebenen vorstand und auf deren Initiative die Gründung der Stiftung zurückgeht. Steinbach, die 2015 aus Protest gegen Angela Merkels Flüchtlingspolitik aus der CDU austrat und seitdem die AfD unterstützt, kann als ein besonders extremes Exemplar jener offen revanchistisch agierenden Spezies von Vertriebenenfunktionären gelten, die das Thema "Flucht und Vertreibung" jahrzehntelang fest im Griff hatten. Dass sich 2008 mit der Gründung der Stiftung schließlich der Deutsche Bundestag des Themas annahm, um es in einen gesamteuropäischen Kontext zu stellen und ihm den Begriff "Versöhnung" hinzuzufügen, muss als Versuch gewertet werden, den Vertriebenenverbänden die Deutungshoheit zu entziehen. Im insgesamt 21-köpfigen Stiftungsrat sitzen trotzdem noch immer sechs Vertreter von Vertriebenenverbänden – die schließlich integriert werden mussten, sollte das Projekt gelingen, das Thema aus der Nische heraus ins Licht eines gesamtgesellschaftlichen Kontextes zu transportieren.

Diese lange Erklärung ist nötig, um das verminte Terrain zumindest notdürftig zu umreißen, auf das sich sowohl Stiftungsdirektorin Gundula Bavendamm als auch Ersan Montag und die Autorin Olga Bach begeben haben, als sie sich im vergangenen September für eine Zusammenarbeit entschieden. Und zwar bewusst, wie beide Seiten in Gesprächen mit nachtkritik.de betonen. Aus der Performance musste dann pandemiebedingt ein Film werden, da eine Präsenzveranstaltung schon bald nicht mehr planbar war. Jetzt ist diese Zusammenarbeit gescheitert. In verschiedenen Medien werden unterschiedliche Gründe dafür genannt. Olga Bach und Ersan Mondtag sprechen von konstanter inhaltlicher Einflussnahme der Stiftung auf ihre Arbeit, ja Zensur des Projekts. Gundula Bavendamm weist diesen Vorwurf zurück und macht unhaltbare Forderungen Mondtags für das Scheitern der Arbeit verantwortlich. In den durchaus kontroversen Debatten mit Ersan Mondtag und seinem Team habe es zwar immer wieder Differenzen geben, die aus ihrer Sicht jedoch produktiv gewesen sind. "Wir wollten ja die Debatte und wir haben uns der Debatte mit den Künstlern gestellt."

Gröfaz-Passagen

Gegenstand der Performance, so habe Mondtags Auftrag gelautet, sollten die Kernthemen der Stiftung und der Dauerausstellung sein, die im Sommer 2021 auf 1.700 Quadratmetern Ausstellungsfläche eröffnet werden soll: Flucht und Vertreibung der Deutschen, der Zusammenhang dieser Vertreibung mit den NS-Verbrechen, dem Zweiten Weltkrieg sowie der Frage nach der Verantwortung der Deutschen für ihr eigenes Leid und das vieler anderer. "Es ist nicht leicht, dazu kluge, unanstößige Dinge zu sagen." Gundula Bavendamm spricht mit der pädagogischen Bestimmtheit der Direktorin einer Brennpunktschule, die jede Menge Ärger mit uneinsichtigen Schülern und deren Eltern gewohnt ist. Immer wieder präzisiert sie, dringt auf unmissverständliche Formulierungen – "als würde Frau Bavendamm Künstler mit Kleinkindern oder Dienstboten verwechseln", wird Ersan Mondtag in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung zitiert.

Man möchte als Beobachterin der Causa zu bedenken geben, dass Gundula Bavendamm es nicht nur mit empfindlichen Künstlern zu tun hat, sondern sich auf einem Kampfplatz bewegt, der – und zwar auch auf europäischer Ebene – nicht nur von weit größeren Empfindlichkeiten sondern auch von rechten Scharfmachern und Ideologen beherrscht wird. Daher erleichtert es eher, hier eine Frau am Ruder zu wissen, die eine unbestechliche Strenge wie Gundula Bavendamm ausstrahlt. Ihr Auftrag laute nun mal Versöhnung, nicht Polarisierung, sagt sie während des Gesprächs einmal.

Gerade der Begriff "Versöhnung" sei für sie ein großes Problem gewesen, schreibt Olga Bach auf Nachfrage in einer Mail. "Wer versöhnt sich denn hier mit wem? Die Deutschen mit sich selbst?“ Auch Bach spricht in einem Facebook-Beitrag von kontroversen Debatten. Die Stiftung habe ihr eine Textsammlung zur Verfügung gestellt mit der Bitte, sie zur Grundlage ihrer Arbeit zu machen, zwei Drittel davon hätten jedoch nur von Deutschen Vertriebenen gehandelt. Diese Gewichtung sei ihr falsch vorgekommen. "Ich bezog jüdische und osteuropäische Stimmen mit ein. Und auch die Tatsache, dass das Leid der deutschen Vertriebenen bisher hauptsächlich von Rechten besungen wurde. Nie hätte ich mir vorstellen können, dass ich bald von einer Bundesstiftung gesagt bekommen würde, bestimmte Inhalte dürfe ich als Autorin so nicht zum Teil meines Werkes machen."

Ein Streitgespräch zwischen Hannah Arendt und Karl Jaspers über die Schuld der Deutschen sei zu stark gewichtet im Verhältnis zum Vertriebenenthema. Björn Höckes Dresdner Rede von 2017 hätte sie streichen müssen. Ausgerechnet Höcke habe man in der Stiftung kein Podium bieten wollen, begründet Gundula Bavendamm ihr Drängen auf Streichung dieser Rede. Wie bereits in vorangegangenen Konfliktfällen seien jedoch künstlerische Lösungen gefunden worden. So wurde der Part von Höcke durch die fiktive Rede eines fiktiven rechten Politikers ersetzt, dessen gröfazhaftes Gezeter in dem knapp 12-seitigen Manuskript bei Bach nun kommentierend von einem Chor orchestriert wird. Am 2. Dezember schließlich habe man, sagt Gundula Bavendamm, gemeinsam ein "sehr schönes" Script verabschiedet, auf dessen Basis der Film realisiert werden sollte. Alle vorangegangenen Differenzen seien zu diesem Zeitpunkt beigelegt gewesen. "Wir bestanden auf unsere künstlerische Freiheit. Setzten uns durch", schreibt Olga Bach auf Facebook.

Streit um die Nutzungsrechte

Dann aber habe Ersan Mondtag, so Bavendamm, der Stiftung keine ausreichenden Nutzungsrechte für das Werk einräumen wollen. Die Stiftung habe versucht, Mondtag entgegenzukommen, und das ursprünglich uneingeschränkte Nutzungsrecht erst auf zehn, dann auf acht Jahre verkürzen wollen. Schließlich wurden Mondtag fünf Jahre Nutzungsrecht und eine Honorarerhöhung angeboten. Mondtag jedoch habe Nutzungsrechte lediglich für ein Jahr einräumen wollen. Darauf aber habe sich die Stiftung nicht einlassen können und Mondtag sei aus dem Projekt ausgestiegen. Ihm aber sei von Anfang an kommuniziert worden, dass der Film auch für strategische Zwecke in der Kommunikation eingesetzt werden sollte. Auf seine Forderung einzugehen hätte bedeutet, sagt Bavendamm nun, dass die Stiftung bereits Ende 2021 keine Rechte an dem Film mehr gehabt hätte. Und das mitten in der Pandemie, wo niemand weiß, wann Museen und Dokumentationszentren wieder sinnvoll Öffentlichkeitsarbeit betreiben könnten. Olga Bach und Ersan Mondtag vermuten hinter dem Anspruch auf langfristige Nutzungsrechte einen Zensurversuch. So könne die Stiftung den Film einfach in der Schublade verschwinden lassen. "Wie soll ich denn als Institution ein fünfstelliges Honorar für eine Arbeit rechtfertigen, die ich dann in der Schublade verschwinden lasse?", sagt Gundula Bavendamm.

Die Situation ist verfahren, das Unverständnis auf beiden Seiten groß. Beide Parteien sind enttäuscht. Voneinander und über das Scheitern der Zusammenarbeit. Hier eine Stiftungsdirektorin, die sich unverstanden in dem von ihr vertretenen heiklen Versöhnungs- und Moderationsanliegen fühlt. Auf der anderen Seite die Künstler, die sich zensiert und in ihrer künstlerischen Integrität nicht ernst genommen fühlen. Die man jedoch vielleicht auch fragen könnte, ob es ihnen möglicherweise etwas an Fingerspitzengefühl für diese Aufgabe fehlte.

Komplexität einholen

Vielleicht haben beide Seiten am Ende Angst vor der eigenen Courage bekommen. Die Stiftung, weil sie die kontaminierende Wirkung einzelner Worte und Stimmen auf den Diskurs befürchtete, die Künstler, weil der Wind außerhalb der Theaterblase und der Twitter-Timeline doch reichlich rau geworden ist? Was soll man den Beteiligten nun wünschen? Dass sie angstfreier miteinander umgehen und das Projekt doch noch zu einem guten Abschluss kommt?

"In einer Szene unseres Films zeigen wir, wie die Heimatvertriebenen beleidigt werden, wie heute Geflüchtete aus Syrien oder Afghanistan", zitiert die Süddeutsche Zeitung Ersan Mondtag in ihrem Bericht über die Streitigkeiten. Die nach dem Zweiten Weltkrieg aus ihrer schlesischen Heimat vertriebenen Deutschen seien von vielen ihrer westdeutschen Landsleute etwa so kaltherzig empfangen wie sieben Jahrzehnte später andere Migranten. Das ist zwar nett, aber auch reichlich unterkomplex gedacht. Fröhlich sieht man hier den Provokations- und Vereinfachungshammer kreisen, wo vielleicht tieferes Verständnis gefragt gewesen wäre. "Do not compare!", formuliert die Schauspielerin Orit Nahmias ihren Versöhnungsimperativ in Yael Ronens berühmter Inszenierung "Third Generation" – die auf tragikomische Weise Verstrickungen und Verrenkungen deutscher, israelischer und palästinensischer Erinnerungskultur zum Thema macht. Do not compare. Das könnte doch ein Anfang sein.

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Postscript

In der Nacht nach Veröffentlichung dieses Text erreichte die Autorin folgende Mitteilung aus dem Büro von Kulturstaatsministerin Monika Grütters, der Vorsitzenden des Stiftungsrats: "Die Stiftungsratsvorsitzende der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung, Kulturstaatsministerin Monika Grütters, die Stiftungsdirektorin, Gundula Bavendamm, und der Regisseur Ersan Mondtag haben sich am 10. Februar 2021 getroffen, um die Differenzen um das leider gescheiterte gemeinsame Projekt 'Heimweh, ich weiß nur nicht wonach' zu besprechen. Sie erklären darauf einvernehmlich, dass gerade in der aktuellen Pandemie-Situation die Folgen des von beiden Seiten zu vertretenden Abbruchs nicht zu Lasten der am Projekt beteiligten Künstlerinnen und Künstler gehen dürfen. Die juristischen und finanziellen Auseinandersetzungen konnten in dem Treffen beigelegt werden. Die Projektbeteiligten erklärten zudem, dass sie sich von jedweder ehrverletzenden Darstellung einzelner Personen in diesem Zusammenhang distanzieren."

 

Esther Slevogt ist Chefredakteurin und Mitgründerin von nachtkritik.de. Außerdem ist sie Miterfinderin der Konferenz Theater & Netz. In ihrer Kolumne Aus dem bürgerlichen Heldenleben untersucht sie: Was ist eigentlich mit der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihren Repräsentationspraktiken passiert?

 

Zuletzt schrieb Esther Slevogt über das Geschichts- und Gesellschaftsbild des Berliner Humboldtforums.

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Kommentare  
Kolumne Slevogt: Unterkomplexität
Vielen Dank für diesen Text, er spricht mir in Vielem aus der Seele. Insbesondere die Einschätzung bestimmter Gedankengänge als "unterkomplex".
Es mag sein, daß die Geschichte(n) der "Heimatvertriebenen" für viele nicht präsent oder gänzlich unbekannt sind. Und es mag ebenso sein, daß eine Fluchterfahrung ein Anknüpfungspunkt für ein Gemeinschaftsgefühl sein könnte. Sollte? Ist die Fluchterfahrung ein verbindendes Element, oder ist der Hintergrund jedes Fliehenden jeweils anders, und ein stärkerer Leim? Das sind wichtige Fragen, die auf verschiedenen Ebenen verhandelt und hinterfragt werden müssen.

Wir sind uns einig, daß Nationalismus überwunden werden sollte, sind aber selber fest verankert in seinen Begrifflichkeiten. Im Ringen um ein "multi-direktionales Erinnern" sollten wir unbedingt im Auge behalten, daß eben rechte oder nationalistische Kräfte dieselben Gedankengänge oder Definitionen für sich beanspruchen.
Kolumne Slevogt: SZ Kampagne
Prima Text. Und prima Zusatz. Dann können die SZ und ihr Chefankläger ihre Kampagne gegen Bavendamm abbrechen. Obwohl, warum sollte die Sachlage da stören?
Kolumne Slevogt: Familiengeschichte
Mein Vater stammte aus Schlesien, nahe dem Übergang zum ostdeutschen Frankfurt. Dem an der Oder gelegenen. Ich sag das gern, weil immer noch, auch nach dreißig Jahren neuerem Groß-Deutschland, mit Selbstverständnis Frankfurt ohne Fluss gesagt wird, wenn man Frankfurt am Main meint. So, als würde es nie ein anderes Frankfurt gegeben haben und existierte es gar nicht. Mitsamt seiner Bewohnerinnen und Bewohner, mitsamt seiner Umgebungslandschaft, mitsamt seiner typisch grenzstädtischen Vorzüge und Schwierigkeiten...
Die Familie, der mein Vater entstammt, stammt ebenfalls aus Schlesien. Und schon deren deutschsprachige Vorläufergeneration stammte daher. All diese deutschsprachigen Schlesier, mit denen sie im Dorf und der nahegelegenen polnischen Kreisstadt lebten, lebten dort als deutsche Migranten in Polen und nur eine Minderheit unter ihnen war erst durch Hitlers Fremdraum-Besiedlung nach dorthin gekommen. Die protestantische Familie meines Vaters hat einen sehr jüdisch klingenden, schönen, alttestamentarisch verbrieften Namen. Obwohl der letzte Jude in ihren Annalen, ein Holzhändler, 1547 oder so zu verzeichnen gewesen war - sie mussten das oft genug nachweisen, blass vor Angst bis auf die Knochen, in den dreißiger Jahren und bis Kriegsende, deshalb wussten sie das so genau und deshalb konnte mein Vater mir das so genau sagen.
Alle deutschen Schlesier mussten kurz vor Kriegsende und kurz danach, falls sie es überlebt hatten, verlassen. Weil die das mussten, fühlten sich auch jene Schlesier von Strafe für Bleiben bedroht, die zwar keine Deutschen waren, aber wegen ihrer Deutschsprachigkeit mit jenen, die Deutsche waren, verwechselt werden konnten. Es stellte sich heraus, dass ein Teil dieser, nunmehr polnisches Gebiet verlassenden, Menschenmassen, das Gefühl hatte, sie seien nicht eiligst zurückbeordert, sondern vertrieben worden. Und ein anderer, der größere Teil, das Gefühl hatte, er habe fliehen müssen. So ich das verstanden habe als Kind, haben sich sowohl die, aus dem auf ewig zugesichert deutschen Polen gefühlt Vertriebenen, wie die gefühlt gen gesichert deutschen Westen Flüchtenden, auf der Reise ins Ungewisse und vor der Drohung um Verlust und Leib und Leben weg, jedoch gleich Schlimmes erlebt: Große Kälte, extremen Hunger, Typhus, Diphterie- und Cholera-Ausbrüche, Verlust beinahe allen Hab und Gutes, ständige Angst vor Vergewaltigung, vor Verschleppung, Trennung und Tötung von Angehörigen, Raub und Plünderung... Erst als sie in den neuen deutschen Grenzen angekommen und verteilt waren, in den meisten Fällen nunmehr verarmt und in einigen gut für in Polen verlorenes Vermögen entschädigt, zerfielen sie in Geflüchtete einerseits und Vertriebene andererseits. Die Familie meines Vaters zählte sich zu den Geflüchteten, die meisten ihrer Bekannten zu den Vertriebenen. Die meisten Geflüchteten blieben im Osten hängen, die Vertriebenen schafften es oft bis in den Westen. Die geflüchtete Schwester meines Vaters schaffte es bis nach Niedersachsen vor den Avancen eines russischen Offiziers und traf dort die Familien ihrer besten Freundinnen wieder. Die fanden eine alte Heimatverbundenheit auf den bald jährlich abgehaltenen Revanchistentreffen und fanden sich und ihre Erinnerungen an die schlimmste Wanderreise ihres Lebens gut in den Vertriebenenverbänden aufgehoben. Sie versprachen der Schwester meines Vaters die Wiederbegegnung mit weiteren ehemaligen protestantischen Klassenkameradinnen, würde sie sich auf den Treffen einfinden. Meine Tante ging hin, freute sich, alte Freundinnen wiederzusehen, verstand aber die Prozedere und die nationalistischen Reden nicht. Mein Vater sowie dessen Vater und Bruder versuchten zu verstehen, was die dort feiern auf den Revanchistentreffen mit ihren Fahneneinmärschen und Empörungsreden - aber verstanden sie nicht, weil sie sich nicht mitgemeint fühlen konnten. Später fuhren sie immer wieder ...zu ihren alten polnischen Nachbarn und schauten, wer in ihrem ehemaligen Haus nun wohnte, wurden auch dort herzlich bewillkommnet, sprachen miteinander über ihre Erlebnisse zur gleichen Zeit an unterschiedlichen Orten und fuhren dann zurück ins nunmehr Brandenburgische, wo sie sich und vielen anderen inzwischen als familiäre Baubrigade ein neues Haus gebaut hatten. Von ihnen und ihrem Schicksal war nie und nirgends die Rede, von den Revanchisten und Vertriebenen als beschworene Schicksalsgemeinschaft – zumindest im Westen - immer...
Eine Versöhnung mit Umständen, die einen in die Flucht schlagen können, müsste also zunächst einmal stattfinden zwischen diesen ganzen ehemals in Polen lebenden Deutschen selbst. Und nicht zwischen Polen und Deutschland. Oder Schlesiern und Russen. Oder den ehemals in Polen reich gewordenen Deutschen und den dort arm gebliebenen deutschen Migranten. Oder. – Was ich am schlimmsten finde in dieser ganzen Diskussion, ist, dass die einzig am Hitlerfaschismus festgemacht wird, obwohl die Ungerechtigkeiten, auch das Zusammenleben von Polen und Deutschen in Polen, weit eher begannen. Diese Geschichte des Zusammenlebens ist bedeutend älter als ein knappes Jahrhundert. Nicht unbedingt rühmlicher. Kolonialistisch gewiss in ihren Anfängen - aber eben nicht definitiv nur faschistisch. Der deutsche historische Kolonialismus kann sich nicht des Feigenblattes des – zweifelsfrei schlimmeren - Nationalsozialismus bedienen. Aber er tut es scheinbar mit Freuden. Und wird damit weder den ehemaligen deutschen Migranten noch den nicht immer national oder faschistisch motivierten Raum-Eroberern, noch (den) Polen historisch gerecht.
Wer etwas mehr erfahren möchte über diese ganze historisch gewachsene Gemengelage – und MEHR erfahren von Historie können wir Heutigen immer nur, wenn das Geschehen unsere Seele erreichen kann, also über Versinnlichung der Berichte – dem empfehle ich, Johannes Bobrowski zu lesen. „Litauische Claviere“ oder „Levins Mühle“ wären ein guter Anfang. Man hat sich oft gewundert über dieses spät begonnene und dann sogleich vollkommene Werk – ich fand es nicht verwunderlich; denn es gehört eine gehörig lange Bedenk-Zeit dazu, so komplizierte koloniale Verstrickungen, in die Menschenleben hineingewoben werden durch die ihnen begrenzte Lebenszeit, weiträumig zu überblicken und persönliche Gelassenheit, sie wie in Miniaturräumen lokalisiert zu beschreiben. Auf dass wir Nachlesenden sie besser ergründen und verstehen können.
Danke, Esther Slevogt, dass Sie sich nicht gescheut haben, das komplizierte Thema, das selbstverständlich Kompliziertheit in der künstlerischen Bearbeitung nach sich zieht!, hier auf diese wunderbar vorurteilslose Weise zu bearbeiten. Gilt dies doch als dauerhaft „heißes Eisen“, das von KulturjournalistInnen aber auch von KünstlerInnen nicht gern angefasst wird. Viel zu lange schon.
Kolumne Slevogt: Schlesier
Liebe/r D. Rust,

cool, endlich ein/e Landsmann/in auf diesem so landsmannschaftsfernen Portal. Da wird einem warm ums Schlesische Herz. Ich dachte schon, hier wären lauter Schwaben, Badenser und - na, klar - Berliner vertreten. Ich melde mich wieder, wenn die Vorbereitungen zum Schlesiertreff in die heiße Phase kommen. Ich bin total auf Versöhnung aus und total integriert, übrigens.
Kolumne Slevogt: Haus der Verwandlung
"Wie soll ich denn als Institution ein fünfstelliges Honorar für eine Arbeit rechtfertigen, die ich dann in der Schublade verschwinden lasse?"

ein so schönes Zitat im Deutschen Theatermuseum
Kolumne Slevogt: Schlesiertreffen
Das ist schön, dass Sie sich so über mich freuen, ich bin aber in keiner Landsmannschaft, sodass ich Sie sich schon mit irgendwem anders versöhnen müssten, wenn Sie denn so darauf aus sind.
Ich bin auch sehr froh, dass Berliner noch keine Landsmannschaft gebildet haben, obwohl dies ein Zeichen von stattgehabter Versöhnung sein könnte, weil sich in der ja Schwaben, Urberliner,Turkberliner, Sachsen, Mecklenburger, Bayern, Amerikaner und sogar Russen usw. zusammenfinden müssten!
Ich war auch mal höchstoffiziell zu einem deutsch-polnischen Kulturaustausch geladen. Nach Wrozlaw. Da wurde mir bei den naturgemäß u.a. Schlesier-Treffen abwechselnd laufend heiß und kalt. Denn ich traf dort auf Deutsche, die Schlesien wiederhaben wollten, Deutsche, die Polen die polnische Geschichte, aber unbedingt auf deutsch, beibringen wollten, dann noch Schlesier, die wieder deutsch sein wollten und Schlesier, die unbedingt nie wieder was anderes als Polen sein wollten, dann noch Schlesier, die zwar Polen sein wollten, aber trotzdem zu Deutschland gehören wollten und Schlesier, die autonom Schlesier sein wollten... und fast alle waren sich nur darin einig, dass es gut gewesen sei, mir mal eine Stunde Gehör geschenkt zu haben und darin, dass Ukrainer hassenswert seien-
Worin sind Sie denn integriert, übrigens?
Kolumne Slevogt: Wie soll Versöhnung gelingen?
@4 Es ist nicht ersichtlich, ob sie sich belustigen, oder es ernst meinen. Jede(r) kommt von irgendwo her, sei es in der ersten, zehnten, oder xten Generation. Und diese (Familien)Geschichten beschäftigen, fernab eines (alt-)national verorteten Begriffs von "Heimat"- egal ob "deutsch" oder nicht. Zudem kann man die Frage stellen, warum wenn nicht aus einem Gefühl der Wiedererkennung identifiziert man sich mit Menschen aus ganz anderen Kontexten. Das ist es ja schliesslich auch, worauf viele zeitgenössische Künstler, Denker und Kulturmacher abzielen: ein gemeinschaftliches Gefühl aus einer geteilten, menschlichen Erfahrung beschwören- in diesem Fall der Erfahrung der Flucht. Dieser Gedankengang sollte in Frage gestellt werden.

Denn @3, Sie schreiben "Eine Versöhnung mit Umständen, die einen in die Flucht schlagen können, müsste also zunächst einmal stattfinden zwischen diesen ganzen ehemals in Polen lebenden Deutschen selbst."
Meine Frage hierzu: wie soll das möglich sein? Wer kann hier in dem von Ihnen beschriebenen Kontext "versöhnt" werden. Sie teilen das so ein in "Geflüchtete" und "Vertriebene". Das ist schon mal ein Anfang. Aber ich frage mich, eigentlich meine ich, dass eine Gruppenbildung gar nicht möglich ist.

Auch meine Familie stammt zum Teil aus den "Ostgebieten" (ich schreibe das, weil es weder Pommern, noch Schlesien, noch Ostpreussen war). Und ich bin wohl jünger, und habe wenige aus dieser Generation kennengelernt, und es wurde wenig darüber gesprochen, und Vieles weiß ich nur über die nächste Generation (meiner Eltern).

Wie ich es mir zurechtlege, und wie ich es hier zur Diskussion stellen möchte, ist die Stereotypisierung einer Theaterrolle: da ist der altmodische, pflichtbewusste Vater der der alten Ordnung anhängt. Die aufgeregten, rechts-nationalistischen Aktivisten-Söhne. Der träumerische Sohn, der nichts mit Politik am Hut hat und zur Wehrmacht eingezogen wird. Die hilflose Schwester, die auf der Flucht ihr Kind verliert. Der Mann, der sich nach dem Krieg nicht mehr in das Zivilistenleben einfinden kann und Suizid begeht.

Unabhängig der deutschen Geschichte frage ich mich, was da mit wem versöhnt werden kann. Und wer da mit wem Erfahrungen austauschen kann, wer sich mit wem wiedererkennt. Ich frage.
Kolumne Slevogt: in die Schublade
"Olga Bach und Ersan Mondtag vermuten hinter dem Anspruch auf langfristige Nutzungsrechte einen Zensurversuch.So könne die Stiftung den Film einfach in der Schublade verschwinden lassen. "Wie soll ich denn als Institution ein fünfstelliges Honorar für eine Arbeit rechtfertigen, die ich dann in der Schublade verschwinden lasse?", sagt Gundula Bavendamm."

Olga Bach und Ersan Montag liegen da nicht ganz falsch. Wenn schon ZDF/ARTE einen teueren investigativen Film koproduziert (über 100 000 Euro), dran intensiv mitarbeitet und schliesslich ihn redaktionell und technisch abnimmt, setzt ihn zwei Tage vor der Premiere ab, weil sich die Politik u.a. Bundestagsabgeordneten einmischen und die Ausstrahlung des Films verhindern, weil sie ja dort entlarvt werden. ARTE weigert sich seit 2016 den Film zu zeigen und gleichzeitig besitzt die Rechte für den Film für Deutschland, Frankreich, Österreich und evtlln noch die Schweiz. Über die für diese Produktion ausgegebenen Steuergelder muss sich ZDF/ARTE gar nicht rechtfertigen und so ist der Film in der Zensur-Schublade verschwunden. Es geht um die norwegische Produktion "The Magnitsky Act - Behind the Scenes" von Andrei Nekrasov. Telepolis hat darüber sehr viel geschrieben.
Kolumne Slevogt: nichts Brisantes
Was über das Werk zu lesen ist, klingt nicht, als wäre da Brisantes enthalten, wo irgendjemand Interesse haben könnte, das Verschwinden zu lassen, sach ich mal. Ich halte das für Wichtigtuerei.
Kolumne Slevogt: Schlesien geht nicht
... #3 ... geht nicht bis auf die Höhe von Frankfurt/Oder,
Kolumne Slevogt: Umwege aus Schlesien
Ja, und was soll das nun heißen? Dass ich gelogen habe, mein Vater gar nicht aus Schlesien stammen würde oder dass genau Sie Nähe als solche definieren und darüber bestimmen können, welcher Weg - oder auch Um-weg aus Schlesien nach Deutschland zu Verwandten dort gefälligst zu nehmen gewesen sein mag von Menschen, die Sie gar nicht kennen? Was möchten Sie denn gerne sehen? Meines Vaters Geburtsurkunde, seinen Totenschein, das Ergebnis einer Befragung meiner Person unter Lügendetektor?
Kolumne Slevogt: fehl am Platz
In diesem Museum werden Taeter zu Opfern gemacht. Es gab natuerlich viel Leid und das kann man uebrigens im stillen, bescheidenen Vertriebenenmuseum in Hof in Oberfranken schon seit Jahrzehnten sehr gut erfahren. Aber die Deutschen haben 2.WK und Holocaust verursacht und ein pompoeses Berliner Museum fuer die Leiden der Deutschen ist absolut fehl am Platze. Bis heute haben viele polnische Opfer des Naziregimes nicht einmal Entschaedigung fuer ihre Leiden erhalten und hier werden Millionen fuer ein Museum ueber die Leiden des Taetervolkes verpulvert. Wer da von Versoehnung spricht hat nichts verstanden.
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