Koma to go 

von Dorothea Marcus

Detmold, 11. Februar 2021. Erst eine Runde Schnick Schnack Schnuck spielen, dann losrasen, egal, wohin. In eine beliebige Lebenslotterie gewürfelt sind die Drei aus "Wasted", jenem ersten Theaterstück der britischen Ausnahmepoetin, die früher Kate Tempest war und sich heute non-binär identifizieren und Kae Tempest nennen. Gar nicht so einfach, das korrekt zu gendern, Tempest selbst jedenfalls wollen in der 3. Person Plural "sie" genannt werden, was sich grammatikalisch schwierig anfühlt, aber hiermit versucht wird. 

In der Lebensfalle 

Aber zurück zum Stück: Charlotte, Danny und Ted sind um die 30, in jenen schauerlichen Jahren, in denen man zu alt ist für die Partys der Pubertät, zu jung, um sich zur Ruhe zu setzen, und in denen man für alles Plan und Projekt haben soll. Die Figuren erscheinen – daher spielen sie wohl auch vermeintlich um ihre Zuschreibungen – austauschbar, ihr Leben fühlt sich muffig, "verschwendet", vorherbestimmt, unecht an, weshalb sie es auch stets mit Lügen beschönigen, vor sich und den zwei anderen. Dan (Emanuel Weber als etwas heruntergekommener Glatzkopf) spielt in einer bedeutungslosen Band und vögelt durch die Gegend. Charlotte (Ewa Noack als ratlos-coole Berufsjugendliche) hat ihren Job als Lehrerin geschmissen, um sich ins nächste Flugzeug zu setzen. Ted (Felix Frenken als eifriger Neuspießer) macht seiner Frau am Telefon verlogene Liebeserklärungen, um ihr bei Ikea hinterher zu trotten.

wasted Marc Lontzek 007 uFiguren in ihren schlimmsten Jahren: Emanuel Weber, Ewa Noack, Felix Frenken © Marc Lontzek

Die drei treffen sich wieder am zehnten Todestages eines Freundes, der immerhin ihrer eigenen Lebensfalle entgangen ist, die aber natürlich auch ein ziemliches Luxusproblem ist. Es gibt kein Entkommen vor der totalen Sinnlosigkeit und Abgeschmacktheit des Daseins. In den intensiv-pathetischen, warmen und drängenden Spoken-Word-Performances von Kae Tempest hört sich das umwerfend melancholisch an, in der Regie von Magz Barrawasser eher wie ein flapsiges Coming of Age-Jugendstück. Ewa Noack, Emanuel Weber, Felix Frenken hasten oftmals viel zu schnell und besinnungslos hindurch.

Liebe und Weltneugier als Klischee

Dabei klingen die lyrischen Zwischentexte zuweilen wie eine Reminiszenz auf den bleiernen Corona-Stillstand, der so stark die Jugend trifft, die "getrennt von unserem Rudel mit leeren Händen dasteht", "sich in ihrer Lähmung aneinander krallt". Gerne würde man den Nachklang dieser Worte länger hören. Die Kamera filmt diese poetischen Einschübe auf Splitscreens, die drei Schauspieler können so coronaregelkonform dicht nebeneinander stehen, sprechen ihre Sätze gegenseitig zu Ende, sind keine Einzelfiguren mehr, sondern Zeitdiagnose. Die eigentliche Handlung hat die Regisseurin dagegen in einem dunklen, kargen Bühnenkasten mit Abstandsregeln filmen lassen. Gut getroffen ist so das schwarze, tiefe Loch, in dem sich alle befinden, schön öffnen Hintergrundgeräusche wie Vogelkrächzen, Stimmengewirr oder Meeresrauschen dazu Bilder im Kopf. Charlotte, Dan und Toni tragen graue Jacken, Hoodies und Sneaker, trinken Bier und reden sich in Worthülsen ein, dass sie den Dreh zum "echten Leben" schon noch finden werden.

wasted Marc Lontzek 014 uAlles ist schal geworden: Auch für Charlotte (Ewa Noack) © Marc Lontzeck

Das Tückische an "Wasted" ist:  das Stück wirft mit holzschnittartigen Pseudo-Lösungen nur so um sich, wobei jede vermeintliche Erkenntnis wie ein verlogener Allgemeinplatz klingt. Die Feier "wie früher" ist schal, da es ein gemeinsames Früher nie gab ( "von all den Gesprächen in den ganzen Jahren erinnere ich kein einziges"). Auch Dans Gitarrenriffs wiederholen sich endlos, als er Charlottes Einladung zum Ausbruch nicht annimmt, ohnehin bricht sie ihren Ausflug ins Fremde vor Antritt ab: Liebe und Weltneugier, als Klischee entlarvt. Auch Teds Credo "es sind kleine Sachen, die mich glücklich machen" klingt hohl und abgeschmackt, wenn er damit Quizshows meint. Charlotte will ihre ganze Energie nun doch wieder "in die Schule" legen, Dan "vom Koks und MdMA" weg und sich endlich auf Charlotte einlassen, Ted dagegen Yoga machen: eifriger Auftakt zum lebenslangen, muffigen Stillstand.

Alkohol auf Rädern

Indem sich die drei nach der vermeintlichen Schicksalsnacht endlich "auf die Reihe" kriegen wollen, macht Tempest unerbittlich klar, dass genau diese Reihe das – unlösbare – Problem ist. Ewa Noack, Emanuel Weber, Felix Frenken spielen und intonieren das jederzeit korrekt, gerne sieht man ihnen zu, aber letztlich sprechen sie etwas zu brav, unbedarft und betont lässig die Texte als britisches Well-Made-Play und pädagogische Ermahnung herunter. Jenes existentielle Grauen, das das Stück von Kae Tempest entfalten könnte, kommt an diesem Abend nicht so recht über den Schirm. Gruselig wird es vor allem an einer Stelle: als dem Freundestrio kurz als Lebenslösung eine Gründeridee aufflackert. Der "Lieferservice für alkoholische Getränke" namens "Koma to go" oder "Van rouge" klingt so gespenstisch nach Pandemie-Not- und Dauerlösung, dass sich fast der Gedanke aufdrängt: was, wenn das Virus die Lebenslähmung von "Wasted" für immer und für alle verlängert?                                                                                                                                                    

Wasted
von Kae Tempest (Übersetzung: Judith Holofernes)
Regie: Magz Barrawasser, Bühne und Kostüme: Veronika Unverzagt, Maske: Kerstin Steinke, Dramaturgie: Laura Friedrich, Video: Marc Lontzek.
Mit: Ewa Noack, Emanuel Weber, Felix Frenken.
Online-Premiere am 11. Februar 2021
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten
 
www.landestheater-detmold.de

 

Kritikenrundschau

"Dass Erwachsene viele Jahre später noch einmal den Ort ihrer Jugend aufsuchen und mit den Träumen und Dämonen von einst konfrontiert werden, gibt es oft. (...) Kae Tempest kann solche Gefühle unnachahmlich in Worte fassen. Einfühlsam und präzise, rhythmisch verdichtet und glaubwürdig", so Stefan Keim in Fazit auf DLF Kultur (11.2.2021). "Die Ästhetik des Rap und der Spoken-Word-Performance findet sich im von Judith Holofernes übersetzten Stück." Die Schauspieler Ewa Noack, Felix Frenken und Emanuel Weber versuchen gar nicht erst, Kae Tempests Tonfall nachzuahmen. Regisseurin Magz Barrawasser bringt Tempests Text in 70 dichten Minuten auf die Bühne, "arbeitet mit Split Screens, was die Corona-Abstände kaschiert." Fazit: Ein Stück über die Agonie und den Rest Hoffnung. Fühlt sich nach Lockdown-Theater an, sei aber schon acht Jahre alt, "wenn die Pandemie vorbei ist, taugt es wieder als Gesellschaftsanalyse", so Keim.

 

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