Die Öffentlichkeit und ihre Feinde - Dramaturg Bernd Stegemann sucht in seinem neuen Buch die Verantwortlichen für die große Gereiztheit
Eiskalt abgecancelt
von Janis El-Bira
24. Februar 2021. Dieses Buch erzählt von einer Welt, in der zu leben schrecklich sein muss. Überall herrscht Spaltung und unversöhnlich stehen sich die gesellschaftlichen Lager gegenüber. In den Arenen der Öffentlichkeit fällt man coram publico übereinander her und Denunzianten rufen jene zur Ächtung aus, die sich in den Gefechten einer Tabuverletzung schuldig gemacht haben, weil sie zum Beispiel "Farbige" statt "Person of Color" gesagt haben. Höhere Wahrheiten sind aufgelöst im Säurebad der Individualinteressen, das der Neoliberalismus seit Jahrzehnten ausgießt, um in einer überdynamisierten, stressbelasteten Gegenwart als einziger Gewinner vom Feld zu gehen. Niemand blickt mehr durch, aber alle schreien umso lauter mit. Wie nebenbei geht die ausgebeutete Welt auch ganz wörtlich unter, doch bis es soweit ist, wird alles auf jeden Fall noch schlimmer.
In die Augen geschaut
Derart bitter ist das Zwischenzeugnis, das der Dramaturg, Hochschullehrer und Publizist Bernd Stegemann der spätmodernen Öffentlichkeit ausstellt. Mit "Die Öffentlichkeit und ihre Feinde" legt der streitbare Schwarzseher nach Das Gespenst des Populismus und "Die Moral-Falle" nun einen weiteren Versuch vor, dem gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang besonders tief in die Augen zu schauen. Ein Buch also, das jene kaum mit spitzen Fingern anfassen werden, denen Politik- und Theaterzugang seines Autors schon immer ein rotes Tuch waren, und das solche verschlingen werden, die bereits die Ankündigung der Publikation auf Stegemanns trubeligem Twitter-Profil als Abrechnung mit der "verheerenden Wirkung der Identitätspolitik" vorausfeierten.
Feinde, Feinde, Feinde
Tatsächlich: Wo Stegemann draufsteht, steckt erneut Stegemann drin. Verlässlich übellaunig, manchmal bezwingend in der Entlarvung neoliberaler Interessenverschleierungen, aber auch voller Argumentkonstruktionen nah am Taschenspielertrick. Auf dem Seziertisch liegt dieses Mal also die Öffentlichkeit, hier weitgehend identisch mit "die sozialen Medien". Für Stegemann ist Öffentlichkeit jener "Möglichkeitsraum, in dem das Unbekannte und noch nicht Entschiedene verhandelt werden" kann und dessen vornehmste Aufgabe die analytische "Beobachtung von Kommunikation" und damit die "Kontingentsetzung" von Meinungen und Themen ist.
Gemeint ist damit, dass sie ein Beobachtungsverhältnis erzeugt, in dem sichtbar wird, dass all diese Meinungen und Themen auch anders ausfallen könnten und ihr Zustandekommen keiner Notwendigkeit unterliegt. Genau dieser Aufgabe jedoch könne die "offene", also allen zugängliche Öffentlichkeit der Spätmoderne immer weniger nachkommen, weil die in ihrem Feld Kommunizierenden diese existenzielle Erfahrung von Ungewissheit entweder nicht mehr verarbeiten können oder – und ungleich schlimmer – sie zur Durchsetzung eigener Interessen beschleunigen und verschärfen. Letztere sind die "Feinde" der Öffentlichkeit aus dem Titel des Buches, der nicht von ungefähr auf Karl Poppers einflussreiche Verteidigungsschrift der liberalen Demokratie, "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde", verweist.
Magisches Denken
Popper ist dennoch nicht der erste Gewährsmann auf Stegemanns intellektuellem Feldzug. Schild und Schwert sind ihm vielmehr einerseits die Systemtheorie mit ihrer überlegenen Beobachtungskompetenz und ihrem Wissen um die "blinden Flecken" der Systeme – und andererseits die gute alte Kritische Theorie. Gerade mit letzterer sprengt sich Stegemann durch die Reihen der Feinde, deren Kommunikation mit vormodernen Mitteln für ihn vor allem Politik in eigener Sache betreiben will. Ob Identitätspolitik ("Retribalisierung"), Cancel Culture ("magisches Denken"), Framing-Theorie ("plumpe Manipulation") oder öffentliche "Intimkommunikation", wie sie der Autor etwa in Greta Thunbergs "How dare you?"-Rede ausmacht – wohin Stegemann auch forschend blickt, überall erkennt er bloß Eigeninteressen, neoliberales Taktieren und unaufgelöste Selbstwidersprüche. So wie jenen, den er in geharnischtem Adorno-Sprech der Identitätspolitik ans Bein bindet: "Das Gefängnis der eigenen Herkunft, Religion und Familie, gegen das Aufklärung und moderne Emanzipation Sturm gelaufen sind, wird über den Hintereingang freudig bezogen." Uff.
Im postmodernen Gewand
Zielsicher zaubert Stegemann dabei immer die krasseste Position zur Untermauerung seiner Thesen aus dem Hut, gerade so, als spräche der "Feind" stets mit einer Stimme und sei nicht selbst in einem Ausdifferenzierungsprozess mit offenem Ausgang begriffen. Und immer steht das Übel auf Seiten der "woken", globalisierten Linken, während die Vergiftung der öffentlichen Kommunikation durch rechte Kräfte unter der Wahrnehmungsschwelle des Autors zu liegen, zumindest aber keines Kommentars würdig scheint: "Die rechte Identitätspolitik z.B. der AfD", versichert Stegemann, "sieht sich eher in dieser Tradition (Anm.: des militarisierten Nationalismus) und ist entsprechend einfacher zu kritisieren. Die woke und linke Identitätspolitik hat sich hingegen in ein postmodernes Gewand gehüllt und damit den raffiniertesten Trick aus diesem Theoriepool kopiert."
#Apokalypse
So unterschlägt Stegemann gerne, was ihm nicht in den Kram passt, macht als Theorie rund, was in der Realität kantig bleibt. Zwischen System- und Kritischer Theorie hält er sich dabei defensiv an Luhmann, im Angriff an Adorno. Eine robuste Spieltaktik, die überall blinde Flecken erkennt, außer bei sich selbst. Die Relativismus unterstellt, obwohl doch vermeintlich alle so treu im ideologischen Glauben sind. Erst zum Schluss, auf den letzten zwanzig, dreißig Seiten, kommt ein hellerer Ton in die Musik. Stegemann versucht sich an einer Art säkularen Theologie im Angesicht der ökologischen Katastrophe des Anthropozäns: "Die Transzendenz der Ökologie zeigt sich uns nicht von sich aus, und wir haben die kulturellen Mittel verlernt, mit denen frühere Gesellschaften versucht haben, das Transzendente in die menschliche Gegenwart zu holen." Demütig sollen wir stehen vor der "Provokation der Ökologie". Wir wollen es tun – und uns daran erinnern, dass die Welt gerade tatsächlich und nicht nur auf Twitter untergeht.
Die Öffentlichkeit und ihre Feinde
von Bernd Stegemann
Erschienen am 20. Februar 2021
ISBN 978-3-608-98419-4
288 Seiten, 22 Euro
www.klett-cotta.de
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Sehr geehrter Herr Janis El-Bira, Ihre Rezension besteht leider nur aus einer Serie an assertorischen Aussagen - Begründungen tragen sie nicht vor; noch nicht einmal Beispiele weerden genannt. Ich wäre mir nicht einmal sicher, ob Sie das Buch überhaupt richtig gelesen haben, so dünn und oberflächlich ist diese Rezension.
Seite, zwischen Natur und Kultur, zwischen Nationen, zwischen Religionen
oder Geschlechtern - alle diese Entscheidungen können nicht als obsolet,
als veraltet gelten! Man kann sagen, die Bruchlinien sind chaotisch, die zwischen allen Menschen, Meinungen und Interessen verlaufen. In modernen Zeiten kann es nicht anders sein. Und doch, wir sind auch Teil eines
größeren Zusammenhanges, und jeder lebt auch in der Mikroumwelt seiner
hochspezialisierten Existenz, ebenso, wenn diese eine nicht-hoch-spezialisierte ist. Ich meine, es könnte durchaus eine gemeinsame Wahr-
heit für die Postmoderne geben, auch wenn alles relativ ist, und sie darf es geben, da eine solche Wahrheit eine notwendige, eine notwendige Macht-
position gegenüber widerstreitenden Parteien einnehmen müsste. Gemeinsame
Unwahrheiten gibt es für uns alle schon genug.
Das erfährt man täglich.
Sie arbeiten in Ihrem Kommentar ausschließlich mit Unterstellungen, und das finde ich hochgradig unangenehm. Sie unterstellen Bernd Stegeamnn, dass er darunter leide "dass inzwischen sogar People of Colour, transgender, Homosexuelle und sogar Frauen in Film und Fernsehen und Presse und Medien und Theater vorkommen, im Ausland gar mit eigener Meinung". Das ist einfach nur Quatsch. Ihre Technik ist es, Argumente aus dem Feld zu schlagen, indem Sie den Gegner niederste Motive unterstellen, ihn unmöglich machen. Auf diesem Niveau ist aber gar keine Diskussion mehr möglich, gar keine.
Wie so viele Männer (und manche Frauen) ist er das lebende Gegenbeispiel für so manche hochtrabenden Thesen, die er aufstellt (etwa von der Allgegenwart der "Cancel Culture").
Aber das ist im Kulturbetrieb nun wirklich nichts Neues: Der 'bekennende Feminist', der der jungen Mitarbeiterin auf den Hintern klopft. Die Feuilletonchefin, die Homo- und Transsexuellen bescheinigt, sie sollen sich mal nicht so haben, was ihnen widerfährt sei schließlich nicht "lebensgefährlich". Der marxistisch geschulte Kämpfer gegen den Kapitalismus, der stolz durch sein renoviertes Haus in der Uckermark führt, während die unständig Beschäftigten in seinen Inszenierungen wieder mal von Hartz IV leben müssen.
Und alle - wirklich alle - kämpfen natürlich leidenschaftlich für die Zivilgesellschaft, die Freiheit der Kunst, die Biosphäre und den Frieden auf Erden.
meiner Meinung nach gehen Sie leider mit Ihrer Meldung am Thema vorbei. Es wirkt durchaus unsachlich und mit Unterstellungen verziert. Eine offenere, nicht im Voraus über die Person Stegemann festgelegte Meinung, würde einen anderen Blick auf das Buch ermöglichen.
Und sollten nicht alle diskursiv und mit demokratischen Mitteln für die Zivilgesellschaft, die Freiheit der Kunst, die Biosphäre und den Frieden auf Erden kämpfen?
(Werte*r Tosdorf, nachtkritik.de bespricht immer wieder Bücher aus dem Relevanzraum Theater - von Theaterleuten, über Theaterthemen und darüber hinaus. Theater befasst sich ausserdem mit Gesellschaft. Herzliche Grüsse aus der Redaktion, sle)