Er will!

von Şeyda Kurt

25. Februar 2021. Am 14. Februar, am sogenannten Valentinstag, twittere ich: "Ich habe keine romantischen Gefühle gegenüber Deutschland." Eine Aussage dieser extrem beschönigenden, abmildernden Art nennt sich Euphemismus, das lernte ich im Deutschunterricht (denn eigentlich meine ich damit, dass ich Deutschland einfach wirklich nicht so mag).

Manche Menschen nehmen meinen Tweet jedoch zum Anlass, mit mir in einen einseitigen Dialog über Romantik als Konzept zu treten. Eine*r kommentiert: Romantik sei seit Heine aus der Mode. Ein*e andere*r: "Ich habe niemals sog. romantische Gefühle. Romantik ist eine Literaturrichtung des frühen 19. Jahrhunderts als Gegenbewegung zur Aufklärung entstanden. Alles andere subsumiere ich unter den Oberbegriff Kitsch."

Die Romantik als unliebsames Nebenprodukt

Ich denke: Menschen nehmen Twitter zu ernst. Ich denke aber auch: Gut, lasst uns über Romantik sprechen! Denn was wären die klassische und auch populäre Kultur, wie auch das Theater, ohne die Romantik! Und damit meine ich nicht nur jene kulturgeschichtliche Epoche, die – wie ich im Deutschunterricht lernte – vom Ende des 18. bis in das 19. Jahrhundert andauerte. Ich würde jedoch bestreiten, dass die Romantik sich als Gegenbewegung zur Aufklärung etabliert hat, ganz im Gegenteil, ich denke, sie ist ein unliebsames Nebenprodukt der Aufklärung, ähnlich wie Rassentheorien oder Neoliberalismus, aber darüber reden Gymnasial-Lehrer*innen auch nicht so gerne.

NAC Kolumne Seyda Kurt V1Zumindest das Konzept der modernen, romantischen Idee der Liebe ist in jedem Falle ein Mitprodukt der Philosophien der Aufklärung. Sie haben den zweifelnden Menschen (na gut, weißen cis Mann) zur Bezugsmitte des Wirklichen erklärt und sein Ich als autonom und souverän deklariert. Im Kontext der Romantik ist diese Zeitenwende wichtig, da die Idee eines romantischen Subjekts davon lebt, dass der Mensch sich in seiner Souveränität verliebt und entliebt, sich in seiner Individualität den tradierten Ordnungssystemen und religiösen Dogmen gegenüber behauptet. Das hat die Soziologin Eva Illouz in ihren Werken über die Liebe nachgezeichnet.

Die queere Revolte von Edward II.

Einige Tage nach meiner Nicht-Liebeserklärung an Deutschland bin ich wieder im Internet unterwegs. Nachdem ich wie eine Boomerin beinahe am Zugangsprozedere zum Stream scheitere, gelingt es mir endlich die ersten Folgen der Webserie "Edward II. Die Liebe bin ich" zu schauen, die die Regisseurin Pınar Karabulut nach Ewald Palmetshofers Überschreibung des Königsdramas von Christopher Marlowe für das Schauspiel Köln realisiert hat.

In der Serie besteigt der junge Edward II. nach dem Tod seines Vaters den Thron von England. Und als eine seiner ersten Amtshandlungen lässt er seinen Geliebten Gaveston trotz der Proteste von Hof und Klerus aus dem Exil zu sich holen.

EdwardII 600 AnaLukendaAlexander Angeletta als Edward in der Webserie von Pınar Karabulut © Ana Lukenda

Spannend sind in dieser Erzählung vor allem zwei Punkte: Erstens die popkulturellen Referenzen der medialen Konstruktion von romantischer Liebe. Etwa die Nachahmung der berühmte Szene aus dem Film "Titanic" von James Cameron, in der der Protagonist Jack mit bebenden Händen die nackte Protagonistin Rose mitsamt ihrer herzförmigen Diamantenkette zeichnet (in ihrem Buch "Der Konsum der Romantik" arbeitet Eva Illouz übrigens auch heraus, wie die allgegenwärtige spätkapitalistische Marktlogik nicht nur romantische Praktiken wie Candle-Light-Dinner oder Picknicks zu Konsumaktivitäten macht, sondern auch Konsumgüter wie Schmuck durch Werbung und andere mediale Darstellungsformen als romantisch markiert).

Zweitens: die queere Revolte von Edward II., die er in der ersten Folge mit der einfachen Ansage "Ich will!" ankündigt. Edward erklärt sein queeres Begehren nicht. Er bittet nicht um Erlaubnis. Er fordert und nimmt sich, was er will. Marginalisiertes Begehren in Form einer solch konsequenten Selbstbehauptung repräsentiert zu sehen, ist schön.

In diesem Sinne wird hier genau das romantische Ideal der aufklärerischen Moderne, wie Illouz sie beschreibt, verkörpert: das individuelle Begehren, das sich von der patriarchalen Vorherrschaft von Familie und Kirche emanzipiert.

Privileg zweier Männer

Aber das Ganze hat einen Haken: Denn wem wird letztendlich diese Emanzipation ermöglicht? In "Edward II." wieder nur einem Menschen mit Macht und Privilegien: einem König. Die Emanzipation durch romantische Liebe ist ein hartnäckiger bürgerlicher Mythos der romantischen Liebe, und nur wenige Subjekte kommen in den Genuss des Privilegs seiner Erfüllung. Es sind die Subjekte, die auch in der bürgerlichen Literatur die dominanten Geschichtenträger*innen sind: Machthabende, Wohlhabende, Herrschende, Bürgerliche – jene, die nicht in radikal existenziellen Gefügen von Abhängigkeiten existieren, seien sie ökonomischer oder sozialer Art.

In diesem Sinne ist es auch nur konsequent, dass sich in der zweiten Folge der Webserie die vermeintliche Revolte von Edward und Gaveston gegen die patriarchalen Strukturen als ein weiteres patriarchales Privileg entpuppt: das Privileg zweier Männer. Die Leidtragende, die aus ihrer Situation keine Held*innengeschichte der Emanzipation machen kann, ist die betrogene Frau des Königs, Isabella.

Die Romantik ist eben kein Projekt für alle – ähnlich wie die Aufklärung. Die Philosophin Iris Därmann spricht von einer "halben Aufklärung", deren Ideal der Gleichheit und Autonomie nicht für alle gelten sollte: weder für nicht-männliche Personen, noch für nicht-weiße oder versklavte Menschen. Die Romantik ist auch höchstens halb. Aber als kulturelle Kategorie der Wahrnehmung und Einordnung des Selbst und anderer Menschen immer noch mindestens so dominant. Und so muss ich doch nochmal bekräftigen: Ich habe nicht nur Deutschland gegenüber keine romantischen Gefühle. Sondern auch gegenüber der Romantik. Wir sehen uns im Internet!

Şeyda Kurt ist Autorin und Moderatorin. Sie studierte Philosophie, Romanistik und Kulturjournalismus in Köln, Bordeaux und Berlin. In ihrer Kolumne ❤️topia begibt sie sich auf die Suche nach Utopien der Liebe auf der Bühne: Was erzählt uns das Theater über Zärtlichkeit? Und wo bleiben neue Visionen von Romantik, Freund*innenschaft und Solidarität?

 

Zuletzt stellte Şeyda Kurt ihrer Mutter eine Gretchenfrage und wünscht sich mehr Rächerinnen auf der Bühne.

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