Im globalen Dreiländereck

von Falk Schreiber

Dresden / Essen / online, 26. Februar 2021. Wo befinden wir uns? In Dresden, eindeutig. Die Kamera fährt auf das Festspielhaus Hellerau zu, man sieht junge Menschen im Eingangsbereich, dann ist man auf der Bühne, auf die Cheng Ting Chen einen Parcours gebaut hat, ein Küchentisch, Bastmatten, sogar eine kleine Bar, an der Bubble Tea verkauft wird. Ein kleines Vietnam scheint hier in Sachsen nachgestellt zu werden, aber bevor man sich auf die Illusion eingelassen hat, springt die Kamera, ist plötzlich im echten Vietnam, und dann ist sie in Taiwan.

Von Dresden bis Taiwan und zurück

Die Geschichte der vietnamesischen Community in Deutschland ist ein Thema fürs Theater, nicht zuletzt in Ostdeutschland. Thomas Köcks "atlas" etwa wurde 2019 in Leipzig uraufgeführt, später wurde der assoziative Text mit dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet (ich saß in der Jury, stimmte aber für einen anderen Text). Im Anschluss wurde Köck Cultural Appropriation vorgeworfen: Es gehe nicht, dass ein Mitglied der Mehrheitsgesellschaft die Geschichten einer Minderheit ausbeute, kein einziger der an der Leipziger Aufführung Beteiligten habe einen vietnamesischen Migrationshintergrund.

HomeAway3 600 Peter R Fiebig uVõ Thị Hồng Cẩm Thuý im Theaterfilm von Fang Yun Lo © Peter R. Fiebig

"Home Away From Home" der in Taiwan geborenen und mittlerweile in Dresden lebenden Choreografin Fang Yun Lo jedenfalls macht diesen Fehler nicht: Bei ihr sind es tatsächlich mehrheitlich vietnamesischstämmige Menschen, die den Begriff "Heimat" umkreisen. Insgesamt 100 Interviews führte die Künstlerin in Taiwan und Deutschland, zu Themen wie Migration, Fremdenfeindlichkeit, Heimweh. Und Zugehörigkeitsgefühl.

Indem sie klarmacht, dass in Deutschland eigentlich zwei vietnamesische Communities existieren, einmal die vor den Kommunisten geflohenen Boat People in Westdeutschland, dann die ins kommunistische System integrierten Vertragsarbeiter in der DDR, ist "Home Away From Home" grundsätzlich differenzierter als Köcks Stück. Ansonsten aber ähneln sich die beiden Produktionen überraschend: Hier wie dort hat man den für Oral History typischen Erinnerungsstrom, dunkel, widersprüchlich, bruchstückhaft. "Wer wart ihr, bevor ihr Vietnam verlassen habt?", das ist eine Frage, die zentral ist für diese Arbeit, aber die Antworten bleiben tastend.

Zwischen Tanzabend und Dokumentation

Soziologisch Belastbares erfährt man nicht, nur kurze Anekdoten, die aber auch sofort wieder relativiert werden. Vielleicht kann man sagen, dass die Migrant:innen in Taiwan viel stärker auf ihr Mutterland fixiert sind als die in Deutschland, dass sie dort sind, um (gutes) Geld zu verdienen, aber später wieder zurück wollen und auch häufig hinfahren und die Familie besuchen. Und dann wird das gleich in einem harmlosen kulturellen Missverständnis aufgelöst: Der taiwanesische Kollege habe gefragt, ob sie in Vietnam Toiletten hätten, wird erzählt. Was man halt so fragt, wenn man wenig voneinander weiß, ein Tasten. 

Ebenso tastend entpuppt sich das Stück auf der ästhetischen Ebene. Immer wenn man glaubt, verstanden zu haben, wo Fang Yun Lo künstlerisch hinmöchte, bricht die klare Linie ab, wird aus dem dokumentarischen Ansatz bewusste Künstlichkeit, wird aus der Künstlichkeit ein immersiver Zugang, wird aus der Immersion ein Ausstellen der eigenen Mittel.

HomeAway 560 Fang Yun Lo uNguyễn Thu Hằng im Theaterfilm von Fang Yun Lo © Fang Yun Lo

Als Choreografie (immerhin kommt die Künstlerin vom Tanz, ausgebildet in Taipeh und Essen) geht die knappe Dreiviertelstunde nur deswegen leidlich durch, weil die Raumnutzung immer wieder thematisiert wird. Eine echte Dokumentation aus einer migrantischen Parallelwelt ist der Abend allerdings auch nicht, dafür bleibt er zu klar Theater. Vielleicht trifft Fang Yun Lo mit dieser künstlerischen Uneindeutigkeit aber genau ihr Thema: weil auch der Heimatbegriff, der mehr umkreist als wirklich fixiert wird, ebenso uneindeutig bleibt, zwischen vietnamesischer Küste und deutschem Mittelgebirge.

Im Fluss der Sprachen und Erinnerungen

Die Koproduktion von Hellerau, dem Essener Produktionshaus PACT Zollverein und Cloud Gate Theatre Taipeh wurde wegen der Corona-Pandemie vom theatralen Parcours zur Online-Arbeit, die nahe an den Film rückt. Dem Stück tut das gut: Die Interviewten wechseln fließend zwischen den Sprachen, Deutsch, Vietnamesisch, Mandarin, Englisch, teilweise mitten im Satz. Und die Bilder wechseln zwischen abgefilmten Theater, Interviews und schwer zu entschlüsselnden, assoziativen Szenen, hier eine Autofahrt, dort ein Stadtpanorama.

Das Ungefähre des Heimatbegriffs schlägt sich in dieser Ästhetik nieder, die mehr ein Sehnen als eine echte Positionierung zeigt. "Wenn ich groß bin", wünscht sich der im Erzgebirge geborene Pham Minh Duc an einer Stelle, "wird man meinen Namen endlich richtig schreiben". Duc ist, so wird beiläufig erwähnt, das vietnamesische Wort für "Deutschland".

Home Away From Home
von Fang Yun Lo
Künstlerische Leitung: Fang Yun Lo, Künstlerische Mitarbeit: Ngô Thanh Phuong, Bühne: Cheng Ting Chen, Musik/Sound: Patrik Zosso, Daniel Somaroo Acuña, Video: Andrés Hilarión Madariaga, Lichtdesign / Technische Leitung: Max Rux, Assistenz: Vu Manh Duc, Produktionsleitung: Sabina Stücker, Produktionsleitung TW: Ya Ting Tsai.
Mit: Vu Phuong Thao, Vo Thi Hong Cam Thuy, Pham Minh Duc, Nguyen Thu Hang, Phan My Nuong, Bui Van Quy.
Mit wahlweise deutschen, englischen oder vietnamesischen Untertiteln
Premiere am 26. Februar 2021
Dauer: 40 Minuten, keine Pause

www.hellerau.org
www.pact-zollverein.de
www.cloudgate.org.tw


Kritikenrundschau

"Fragend, suchend, changierend, multiperspektivisch – und dabei wirkt die 35-minütige Arbeit bisweilen überladen und unklar – widmet sich 'Home Away From Home' dem Thema Transkulturalität", schreibt Sarah Heppekausen in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (2.3.2021).

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