Fräulein Else / Cecils Briefwechsel - Nationaltheater Mannheim
Tiefer Fall ins Dunkle
von Verena Großkreutz
Mannheim / online, 27. Februar 2021. 2017 beging die 14-jährige Britin Molly Russell Suizid. Ihre Eltern gaben Instagram eine Mitschuld. Ihre Tochter sei über das Netzwerk und seine Algorithmen mit Suizid-Communitys in Kontakt gekommen. Ob auch die 19-jährige Else am Ende stirbt, bleibt nicht nur in der Instagram-Live-Performance des Mannheimer Nationaltheaters, sondern auch im Original am Ende offen: in Arthur Schnitzlers Monolog-Novelle "Fräulein Else".
Seelenstriptease und Bewußtseinsstrom
Die Übertragung auf Instagram bricht plötzlich ab, nachdem Else im Wahn in der Hotellounge vor ihrem wahrscheinlich anwesenden, aber nicht sichtbaren Erpresser Dorsday und anderen Gästen die Hüllen fallen gelassen hat. Die Veronaltabletten hatte sie sich kurz vorher während ihren verzweifelten Mehrfach-Umrundungen des Hotels eingeworfen. Sie plagte bekanntermaßen das Dilemma: "Nie werde ich mich verkaufen. Ich schenke mich her. Ja, wenn ich einmal den Rechten finde, schenke ich mich her. Aber ich verkaufe mich nicht. Ein Luder will ich sein, aber nicht eine Dirne."
Die dunklen Seiten sozialer Plattformen werden in Mannheim nicht ins Visier genommen. Instagram dient "Fräulein Else" lediglich als Medium, auch wenn man die Tragik realer Selbsttötungen vereinsamter junger Menschen, die ihren Suizid in Einzelfällen live im Netz gestreamt haben, automatisch mitdenkt (wenn man davon weiß).
Toll! So viel Herzchen!
Aber die Intimität, die eine Handykamera (oder ihr künstlerisches Substitut) auch körperlich herstellen kann, eignet sich doch vorzüglich, um den inneren Monolog der 19-jährigen Else ein glaubwürdiges Ventil nach außen zu geben. Und natürlich mutiert ihr Bewusstseinsstrom, sobald sie ihn artikuliert, zum Seelenstriptease und ist perfekt geeignet für die Darstellung von netzbedingtem Exhibitionismus. Vassilissa Reznikoff spielt das unheimlich gut, diesen tiefen Fall Elses ins Dunkle: Zunächst noch in oberflächlich dahin parliertem Teenieton erzählt Else aus ihrem aktuellen Alltag, vom Besuch bei der reichen Tante Emma, vom langweiligen Tennismatch mit Paul und seiner Schnepfe, sie schminkt sich zwischendurch, flirtet auf Lippennähe mit der Kamera, zeigt den Zuschauenden ihr cooles Hotelzimmer mit Rheinblick, hat auch noch Zeit, die User*innen-Kommentare zu kommentieren: "Toll! So viel Herzchen!"
Lustige Instagram-Filter setzen ihr Krönchen, Heiligenscheine und Brillen auf. Bis dann der bedrohliche Brief der Eltern eintrifft, der sie aus ihrer quietschrosanen Chill-Atmosphäre herausreißt: Wegen der hohen Spielschulden ihres Vaters, die die Familie an den Abgrund bringen, soll Else den alten Familienfreund Dorsday, einen schmierigen Kunsthändler, um Geld bitten. Der verlangt als Gegenleistung, Else nackt zu sehen, und stürzt sie damit in besagten Konflikt. Es folgt Elses langsames Abdriften in Todesfantasien und andere Sehnsüchte. Else: jetzt ungeschminkt und sehr echt! Schnitzlers Text offenbart sich als zeitlos und ungeheuer modern.
Feministische Pop-Ikone?
Interessanter Kunstgriff: Vor dem demütigenden Treffen mit Dorsday bricht der Stream ab, fünf Minuten weiß man nicht so recht, ob's weitergeht, dann setzt er wieder ein mit einer Else, die sichtlich aus der Fassung geraten ist ob des unmoralischen Angebots des geilen Alten. Man hat durch den Break zwar gut 20 der 80 Zuschauenden verloren, aber egal. Was nervt, ist das Frauenbild, das Regisseur Daniel Cremer der Figur auferlegt: Schmollmund, naiv-laszives Gehabe, hochgetunte Kinderstimme. Irgendwie soll Else als feministische Pop-Ikone rüberkommen. Aber ging's nicht ein bisschen taffer?
Mannheim gehört zu den öffentlichen Theatern, die sich von Anbeginn der Pandemie um den Kontakt zum Publikum wirklich bemühten. Und das weit über das reine Theaterabfilmen hinaus. Klar: Was die digitale Interaktion und innovative Corona-Netztheater-Experimente angeht (wie etwa Instagram-Games, Vermisstensuchspiele per Messenger-App, intime Telefon-Call-In-Shows etc.) haben die freie Szene und Einzel-Künstler*innen die Nase vorn.
Aber was ist mit der analogen Interaktion?
Theaterfiguren schreiben Briefe im Homeoffice
Da hat Mannheim jetzt einen wirklich originellen Coup gelandet. Getrieben vom Wunsch, Binge watching und Theater-Streaming irgendetwas Nichtdigitales entgegenzusetzen, ist "Cecils Briefwechsel" entstanden, ein "Post-Drama". Die Wortdoppeldeutigkeit ist beabsichtigt, aber tatsächlich geht's hier um eine theatrale Interaktion, in der fiktive Briefe hin und her geschickt werden – zwischen dem Theater und seinen Kund*innen. Nicht mit der Post-Kutsche, aber viel schneller geht’s über den Privatpost-Weg, mit dem die Briefe von Seiten des Theaters versendet werden, in diesen Zeiten auch nicht.
Die Idee für das "Post-Drama" wurde von der Regisseurin Sapir Heller und der Dramaturgin Lena Wontorra gemeinsam mit dem Mannheimer Ensemble entwickelt, nachdem die Premiere von "Gott Vater Einzeltäter – Operation Kleist" von Necati Öziri pandemiebedingt abgesagt werden musste. Cecil, eine Figur aus dem Drama, wurde ins Homeoffice verbannt und schreibt nun Briefe zwecks Erweiterung eines Netzwerks, das sich für eine "verbesserte Gegenwart" einsetzt: ohne Gewalt gegen Gewalt. Eine Gruppierung, die kürzlich nur knapp einem Attentat dreier Brüder entgangen ist: Gustav, Achilles und Michael, die der Feder Kleists entstammen und die Öziri in seinem Drama miteinander verwoben hat. Gewalt ist schließlich eines der zentralen Themen bei Kleist.
Rituelles Räucherwerk
Dem Phänomen und dem Ursprung dieser Gewalt, außerdem den Lebenswegen der drei Brüder möchte Cecil in ihren Briefen auf den Grund gehen. Eine der zentralen Fragen: "Warum nimmt nie mal ein Frau eine Uzi in die Hand, lädt ordentlich durch […] um dann dort, einfach mal so, alle über den Haufen zu schießen?"
Die Briefe sind nicht bloß Schriftdokumente. Sie wollen von den Adressat*innen "inszeniert" werden. In den Din-A4-Briefumschlägen stecken nummerierte Requisiten, die dann per Anweisung an der entsprechenden Stelle des Briefs aktiviert werden, um für die entsprechende Atmosphäre zu sorgen: Weißer Salbei wirkt angezündet als rituelles Räucherwerk, das Minibühnenbild wirft expressive Schatten durch Teelichter-Illuminierung, über eine Mannheimer Telefonnummer liefert der Lautsprecher des Smartphones den passenden Soundtrack.
Gespannt auf den nächsten Brief
Am besten "spielt" man das Briefdrama abends in kleiner Runde, damit über Cecils Statements zu Rassismus, männlicher Gewalt, Genderungerechtigkeit angemessen diskutiert werden kann. Man muss den Brief ja schließlich beantworten, um einen weiteren zu erhalten. So entsteht echte Kommunikation. Denn die Briefe werden tatsächlich persönlich beantwortet. Wir sind gespannt auf Cecils dritten Brief. Vier sollen es werden.
Fräulein Else
Instagram-Live-Performance nach der Novelle von Arthur Schnitzler
Regie: Daniel Cremer; Dramaturgie: Lena Wontorra.
Mit: Vassilissa Reznikoff
Premiere: 27. Februar 2021
Dauer: 1 Stunde, 30 Minuten, keine Pause
Cecils Briefwechsel
Ein Post-Drama von Sapir Heller, Lena Wontorra und Ensemble
nach "Gott Vater Einzeltäter – Operation Kleist" von Necati Öziri
Konzept und Textbearbeitung: Sapir Heller, Lena Wontorra, Gestaltung: Ursula Gaisböck, Musik: Ralph Heidel, Einrichtung: Nora Müller, Vivien Wilson, Nazli Saremi, Grafik: Lena Andres, Mitarbeit: Annemarie Brüntjen, Eddie Irle, Ragna Pitoll, Vassilissa Reznikoff, Nicolas Fethi Türksever.
Seit 8.2. (1. Starttermin)
Dauer: Noch nicht abzusehen.
www.nationaltheater-mannheim.de
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Ich schließe mich der umsichtigen Kritik von Frau Großkreutz nur in einem nicht an: Sind Pop-Ikonen nicht meistens genau so, wie sie hier angelegt ist – fassadig-naiv, bestenfalls mit Schein-Message, aber im Grunde auf der Suche nach sich selbst und letztlich Liebe – und dementsprechend absturzgefährdet? Gerade darin zeigt sich Schnitzler Figur sehr modern (abgesehen davon, dass eine Figur gerade auch dann treffen kann, wenn sie nicht diskursgerecht zurechtgebürstet wird, wie das derzeit ein kaum hinterfragtes Diktat ist...)