In Bewegung bleiben

Von Natalia Laube und Mercedes Méndez

8. März 2021. Theater in Buenos Aires ist wie Wasser: es dringt in jede Ecke, es sucht sich neue Wege, kommt stets voran. Man muss die Seele des argentinischen Theaters erfassen, um dieses Phänomen zu erklären. Unzählige Künstler:innen – Professionelle und Amateure – machen Theater, ohne sich von Gedanken aufhalten zu lassen, was dabei am Ende rauskommt, wie oder wo es zu einer Premiere kommt oder wie viele Menschen zusehen werden. Sie wollen einfach etwas erschaffen. Durch das Theater wird eine Gemeinschaft erzeugt, in der Kunst Verbreitung findet. Es ist ein Ventil, um sich auszudrücken – und zwar ohne die Sicherheit, dass das Ergebnis jemals Geld oder Prestige bringen wird.

Lehren, um ein stabiles Einkommen zu generieren

Die Szene in Buenos Aires, der, laut UNESCO, spanisch-sprachigen Hauptstadt des Theaters, besteht aus Schauspieler:innen, Regisseur:innen und Autor:innen, die von Universitäten und Kunsthochschulen kommen, das Handwerk bei großen Meister:innen oder in privaten Workshops gelernt haben. Man kann sich seinen Weg frei wählen (formell, informell oder beides), so wie die Menschen, von den man lernen möchte. Fast alle Künstler:innen, auch die bekanntesten, bieten Kurse an. Lehren ist ein verbreiteter Weg, ein stabiles Einkommen zu generieren, da es an festen Ensembles und sicheren Jobs an Staatstheatern fehlt.

TheaterbriefArgentinien Dance in the streets of Buenos Aires 2 MargaritaBali uPerformance in den Straßen von Buenos Aires: "Camina, corre, baila". © Margarita BaliSo hat sich eine Kultur aus freien Theatern in Buenos Aires entwickelt. Diese wurde zuerst durch unabhängige Workshops und Lernräume geprägt, in denen Kreieren und Probieren sich gegenseitig beeinflussen und sich die Grenzen zwischen Lernen/Proben und Performen mitunter auflösen. Die Studierenden treffen sich in den Kursen, wo sie sich beim Proben und Arbeiten gegenseitig inspirieren. In mehr und mehr Aufführungen gewinnen sie an Erfahrung und beginnen, selbst Kurse anzubieten, um neue Projekte zu finanzieren.

Covid-19 hat ein eingespieltes System ins Wanken gebracht

Diese tief verankerte Praxis hat eine große Anzahl an Künstler:innen, Theatern (um die 480) und Bühnenproduktionen, an Studierenden (mehr als 25.000) und Lehrenden (circa 800) hervorgebracht, was geradezu überwältigend sein kann. In jedem Theater in Abasto, dem Vorzeige-Stadtteil in Buenos Aires, wenn es um die freie Theaterszene geht, sieht man an einem Tag das Werk eines etablierten Theatermachers und am nächsten Tag die Arbeit einer neuen Truppe – zu einem sehr ähnlichen Preis. Diese Szene, die sich in einem ständigen Wandel befindet, kann Außenstehenden, die sich nicht mit ihr auskennen, geradezu anarchisch vorkommen. Doch dieses ganze eingespielte System wurde ins Wanken gebracht, als die argentinische Regierung am 20. März 2020 einen strikten Lockdown ausrief.

Als die Zahlen der Infektionen mit dem Corona-Virus wuchsen, und zwar trotz der kompletten Einstellung aller sozialen Aktivitäten, und es klar wurde, dass die Pandemie nicht über Nacht verschwinden würde, wuchsen auch die Sorgen. Nicht nur würden die darstellenden Künstler:innen ihre Projekte verlieren, sondern auch die Möglichkeit zu unterrichten – die Haupteinnahmequelle für die meisten. Und das in einem Land, in dem man nicht auf Unterstützung durch den Staat zählen kann.

Organisierte Unterstützung aus der Szene für die Szene

Glücklicherweise hat es nicht lange gedauert, bevor die argentinische Gesellschaft – ausgehend von ihrem Sinn für Zusammenhalt, der von ihrer starken Gewerkschaftskultur herrührt – Alternativen für einen Weg aus dem Desaster gefunden hat. Im Mai 2020 gründete sich die Gruppierung PIT (Profesorxs Independientes de Teatro [Unabhängige Theaterlehrer]) Sie bewegt sich in einem Umfeld, in dem es schon mehrere Zusammenschlüsse von unabhängigen Theaterkünstler:innen, Schauspieler:innen, Produzent:innen gibt. Ursprünglich nur eine WhatsApp-Gruppe, wurde PIT zu einer Initiative von mehr als 800 Menschen. Mit der Zahl der Mitglieder wuchsen auch die Aufgaben, derer sich die Gruppe annimmt: Aufträge wurden verteilt, um Lebensmittel zu Menschen in akuter ökonomischer Notlage zu bringen, es wurde technische Unterstützung bereitgestellt, um online Kurse zu geben, und es wurden Kommunikationsteams gebildet, um über die Arbeit zu informieren.

TheaterbriefArgentinien PIT Profesorxs Independientes de Teatro PIT uVirtuelles Treffen von PIT (Profesorxs Independientes de Teatro – Unabhängige Theaterlehrer) im Jahr 2020. © PIT

Theaterlehrer:innen haben ihre Computer, Webcams sowie Zoom-Premium-Accounts geteilt. Alles wurde in endlosen PIT-Meetings diskutiert: von den Sorgen wegen der fehlenden Arbeit über ethische und ästhetische Fragen bis zu Debatten über das Unterrichten via Google Meet. Darüber hinaus hat PIT ein Online-Magazin publiziert, ein Manifest veröffentlicht und sich mit Politiker:innen getroffen, um zu verlangen, dass die Theater die Arbeit wieder aufnehmen können und dass Subventionen und eine Kulturpolitik geschaffen werden, die der Tragödie angemessen sind.

Corona-Konzepte für analoges Theater

Freie Theatermacher:innen waren die Ersten. Bevor die Politik, der Einzelhandel oder die Gastronomie ähnliche Maßnahmen entwickelt haben, hatten sie bereits Kataloge mit Regeln erstellt, mit denen sich das Theater an die neuen Umstände anpassen kann. Sie haben Pläne für Schauspielkurse erstellt und sogar Wege gefunden, um analoge Vorführungen zu ermöglichen. Und sie haben kontaktlose Übungen mit Sicherheitsabstand für Schauspieler:innen entwickelt. "Ich verstehe nicht, warum es schlimmer sein soll, sich das auszudenken, als sich nur noch über Bildschirme zu begegnen", meint der Autor und Regisseur Matías Feldman dazu, nachdem die neuen Regeln zum Abstandhalten verbreitet wurden. "Es bereitet mir Sorgen, dass virtuelle Lösungen schneller gefunden wurden als Möglichkeiten, das reale Leben wiederaufzunehmen."

"Das Besondere des Theaters ist das Gesellige – virtuelles Theater ist ein Oxymoron, es kann einfach nicht sein. Es kann nicht die Zukunft sein, sich Aufnahmen auf dem Handy anzugucken. Theater, das schon existiert, kann zwar so übertragen werden, aber neue Arbeiten, die auf diese Weise geschaffen wurden, könnten nie mit den Vorteilen des Kinos mithalten, in Bezug auf Produktion und Bearbeitung", fügt der Autor, Schauspieler und Regisseur Rafael Spregelburd hinzu.

TheaterbriefArgentinien Sportivo teatral 2 Sportivo teatral uWährend des Lockdown wurde das freie Theater Sportivo Teatral zum Pflanzenhandel. © Sportivo Teatral

Ricardo Bartís, einer der bekanntesten Vertreter der argentinischen freien Theaterszene, denkt ähnlich. Bartís arbeitet seit über 30 Jahren im Sportivo Teatral in Buenos Aires' Stadtteil Palermo, wo er Kurse gibt und Stücke produziert. "Was wir machen, erfordert, dass wir Energien austauschen. Wir müssen auf der Bühne schreien können, uns nahe sein, uns küssen. Deshalb haben wir unter diesen Umständen zwei Optionen: Wir können entweder melancholisches Theater machen und immer darauf Bezug nehmen, was wir vor der Pandemie alles machen konnten. Oder, falls es so bleibt, müssen wir das Risiko eingehen, uns zu infizieren." Vor ein paar Monaten hat er, um die laufenden Kosten zu bestreiten, die Terrasse im Sportivo in einen Pflanzenladen verwandelt. Es war Bartís lieber, neue Wege zu finden, seine Arbeit zu finanzieren, als auf Kunstformen auszuweichen, die nicht in seinem Theater stattfinden können. Er wird 2021 jedoch online Kurse geben.

Digitale Experimente von Theatern und Festivals

Im Gegensatz dazu haben andere Theatermacher:innen diese Zeit zum Experimentieren genutzt. Das erste Theater, das sich traute, virtuelle Erlebnisse anzubieten, war Timbre 4, das von dem Autor und Regisseur Claudio Tolcachir geleitet wird. Das Festival Temporada Alta [Hochsaison], welches eine Brücke zwischen der Argentinischen und der Spanischen Theaterszene bildet, wird dieses Jahr online stattfinden, mit zahlreichen trans-ozeanischen Angeboten. FIBA, das wichtigste Theaterfestival der Stadt, fand Ende Februar statt, kurz bevor das Virus mit Einbruch des Herbsts in der südlichen Hemisphäre zurückerwartet wird. FIBA hat um Einreichungen dreierlei Art gebeten: Stücke, die schon Premiere hatten, Stücke, die noch Premiere haben werden (wobei solche, die im Freien stattfinden, bevorzugt werden) und digitale Stücke, die während es Lockdowns entwickelt wurden. Aus hunderten Einreichungen wurden 20 ausgewählt. All das wird ohne großes Reisen stattfinden, internationale Projekte werden online präsentiert oder mit lokalen Gruppen dargestellt.

Zum Frühlingsende 2020 öffneten in Argentinien die Theater langsam wieder, mit einem gewissen Maß an Vorsicht und widerstreitenden Gefühlen, wie man es im Mai 2020 auch von den Theater in europäischen Hauptstädten hörte. So froh man über jedes Stück Normalität ist, zeigen die leeren Sitze, die Masken, die Temperaturmessungen und Einverständniserklärungen doch, dass eben nicht alles normal ist. Es beschleicht einen das Gefühl, dass uns die Pandemie in eine Art Konvergenz-Theater versetzt hat. Dieses Konzept wird von Henry Jenkins in seinem Buch Konvergenzkultur beschrieben. Es besagt, dass neue Medien die alten nicht ersetzen, sondern dass die Logistik komplizierter wird, wenn viele verschiedenen Medien koexistieren: Man entscheidet sich nicht zwischen Radio und Podcast, Zeitung und dem Internet, sondern schaut fern und kommentiert das Gesehene direkt auf Twitter.

Virtuelles Theater wird Live-Theater nicht ersetzen und niemand wird sich zwischen Open-Air Aufführungen und Zoom-Performances entscheiden müssen. Die unmittelbare Zukunft scheint alle Optionen zu beinhalten: Das Theater wird weiterleben, auf Fußballfeldern, auf öffentlichen Plätzen und in Amphitheatern, mit Performances und künstlerischen Karrieren in der eigenen Nachbarschaft. Und es wird mit "traditionellen Stücken" koexistieren, die mit der Zeit wieder möglich sein werden. Nur so kann das Wasser in Bewegung bleiben.

 

Übersetzung: Clara Molau

 

TheaterbriefArgentinien NataliaLaube kl ConiRosman uTheaterbriefArgentinien Mercedes Mendez kl SoledadGryciuk uNatalia Laube wurde in Buenos Aires geboren, wo sie Journalismus und Kunstgeschichte studiert hat. Sie arbeitet als Kulturjournalistin, Kulturmanagerin und Übersetzerin und lebt und arbeitet zwischen Berlin und Buenos Aires. (Foto rechts: Coni Rosman)

Mercedes Méndez ist Journalistin und Kritikerin, die auf Theater spezialisiert ist. Sie schreibt für Zeitungen und News-Seiten in Buenos Aires und leitet einen bekannten Theaterclub. (Foto links: Soledad Gryciuk)

 

Dieser Beitrag entstand in einer Kooperation zwischen dem Internationalen Forschungskolleg "Interweaving Performance Cultures" der Freien Universität Berlin (Redaktion: Clara Molau) und nachtkritik.de.

Hier geht es zur englischen Version: Letter from Argentina – Theatre in Buenos Aires: between reinvention, assembly organization of artists and survival mode

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