The Justice Project - Kampnagel Hamburg
Gebete vor dem Staatsanwalt
von Katrin Ullmann
Hamburg / online, 7. März 2021. Heute – mit der Wahl der Geschworenen – beginnt in Minneapolis der Prozess. Der Prozess gegen jenen Polizisten, unter dessen Knie der Afroamerikaner George Floyd am 25. Mai 2020 starb. "I can't breathe" war der Satz, der im Frühjahr 2020 um die Welt ging – und bald massenhaft Antirassismusproteste auslöste. Immer wieder hatte Floyd sich damit an den weißen Polizisten Derek Chauvin gewandt, der ihm dennoch weiterhin sein Knie auf den Hals drückte. Floyd stand im Verdacht, mit einem gefälschten Geldschein bezahlt zu haben. Er rief nach seiner Mutter, flehte um sein Leben, verlor das Bewusstsein und starb.
Vielleicht ist es der heutige Prozessbeginn gegen Derek Chauvin, der das Kollektiv "New Media Socialism" dazu bewogen hat, seine Mini-Serie "The Justice Project – A Collective Hallucination On Justice and Jurisdiction" fertig- und ins Netz zu stellen. Schließlich fordern die Beteiligten, unter anderem Community-Mitglieder des Begegnungs- und Aktionsraums Migrantpolitan auf Kampnagel, darin die Beendigung rassistisch motivierter Polizeigewalt. Beziehungsweise genauer – oder allgemeiner – die Beendigung der weißen Vorherrschaft.
Clou des Rollentauschs
Der Saal eines Hamburger Strafgerichts dient als Filmset und zunächst scheint auch alles ganz "normal“. Ein gewisser Nasir Jones ist wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz angeklagt. Ihm, einem Schwarzen Afrikaner, wird der gewerbsmäßige Handel mit Marihuana vorgeworfen. Als die Polizei ihn aufgreift, hat er zwei Gramm Marihuana bei sich. (Gemäß § 29 Betäubungsmittelgesetz ist der Erwerb und Besitz von Cannabisprodukten strafbar. Beim Besitz von nur geringen Mengen Cannabis darf dies nicht zur Strafbarkeit führen. Die Festsetzung der Freimenge ist Sache der Bundesländer – in Hamburg sind 6 Gramm erlaubt.)
Ganz offensichtlich ist die hier inszenierte Anschuldigung rassistisch motiviert. Doch nach dem einleitenden Satz des vorsitzenden Richters: "Diese Verhandlung soll ein deutliches Signal gegen die Dealerszene sein", fährt ein künstlicher Blitz und ordentlich Nebel durchs Bild und schon in der nächsten Einstellung sind die Rollen vertauscht.
Jetzt sitzt der ehemalige Richter, ein mittelalter weißer Mann, etwas verdutzt auf der Anklagebank und ein Schwarzer Richter führt die Verhandlung. Gefordert wird Gerechtigkeit für Nasir Jones (und viele afrikanische Migrant*innen), außerdem "dasselbe Recht zu leben, Zugang zu europäischen Wohlstand" und schließlich nichts weniger als die "Beendigung der weißen Vorherrschaft".
Zweifelhafter Selbstmord
Der Rollentausch ist verblüffend und filmisch auch effektvoll gemacht. Formaljuristisch ist die Szene nicht ganz lupenrein, schließlich wird keine Straftat und damit auch keine Anklage verlesen. Stattdessen treten gleich diverse Zeugen auf. Diese erzählen von rassistischen Übergriffen, präsentieren in kurzen Einspielern einen abgerockten Container als ihr Zuhause oder goldene Fingernägel als Zeichen ihrer Queerness.
Im Verlauf der Serie werden verschiedene Migrant*innen-Schicksale sizziert und damit Ungerechtigkeiten offensichtlich. Doch so wirklich Spannung kommt nicht auf. Auch nicht als Tallie Keita in der zweiten Episode von dem zweifelhaften Selbstmord von Yaya Jabbi erzählt. Dieser wurde am 14. Januar 2016 von der Polizei festgenommen. 1,65 Gramm Cannabis seien in seinem Besitz, lautete damals der Vorwurf. In der JVA Hahnöfersand starb Jabbi in der Nacht vom 18. auf den 19. Februar 2016 in seiner Zelle.
Laut Justizbehörde beging er Suizid. Im Vorfeld gab es jedoch keinerlei Anzeichen einer möglichen Suizidgefahr. Im Gerichtssaal spricht Keita zunächst ein Totengebet, dann von den Verlusten und von den vielen Menschen, die ihr Leben verloren haben – auf der Flucht und in europäischen Gefängnissen. Er erzählt von Falschverdächtigungen und von brutaler Brechmittelvergabe und davon, dass er selbst jedes Mal Angst bekomme, wenn er die deutsche Polizei sehe. Sein Auftritt geht kurz nah, doch da beschließt der Staatsanwalt diese Serien-Folge knapp mit: "Wir hörten Gründe zur Annahme, dass in Europa die Menschenrechte, wenn es um Menschen aus Afrika geht, keine Gültigkeit haben".
Antirassismus als Schulfach
Nach weiteren, (leider) sehr realitätsnahen, vermutlich dokumentarischen Schilderungen von polizeilichen Gewaltübergriffen gegen Schwarze, wird in der dritten und letzten Folge schließlich das Urteil verkündet. Der Angeklagte wird in allen Anklagepunkten (Anschlussfehler: diese wurden nie genannt) für schuldig erklärt. Das Strafmaß: "Er wird verurteilt, alle Episoden der Serie 'Roots' zu schauen, um den eigenen Rassismus besser verstehen zu können. Des weiteren muss er antirassistische Strukturen erarbeiten, und veranlassen, dass alle Straßennamen umbenannt werden, die noch immer koloniale Verbrechen glorifizieren."
Außerdem wird dieser weiße Mann "nach Gambia geschickt, um auf dem Reisfeld körperliche Arbeit zu verrichten, um die Opfer und ihre Familien zu entschädigen" und die deutsche Polizei "wird ein neues Einsatzgebiet bekommen. In Zukunft ist sie verantwortlich, Bäume zu pflanzen und die Sahara zu rekultivieren." Antirassismus als Schulfach wird gefordert sowie die Rückgabe aller gestohlenen Kunstgegenstände, Reparationszahlungen an Schwarze Organisationen, freies Geleit für alle Afrikaner, "ausgestattet mit Staatsbürgerschaft, Arbeitserlaubnis und so weiter".
Mehr Radikalität bitte
So endet die Serie. Ein Raunen geht als akustischer Einspieler durch den Gerichtssaal. Bis dahin: kein Fokus, kein dramaturgischer Bogen, kein Spannungsaufbau, keine Fallhöhe nirgends. Und der "Deus ex machina" hat ja bereits in Minute 2 das Geschehen betreten, es verwirbelt und wieder verlassen. So reizvoll die Modellsituation vor Gericht ist, so aktuell die Ausbeutung des globalen Südens noch immer ist, so offensichtlich Rassismus heute noch gelebt wird, so wenig radikal und vor allem so ungenau bedienen sich die Serienmacher der filmischen, aber auch allein der grundlegenden erzählerischen Mittel. Und das, obwohl "The Justice Project" bereits ihre dritte Arbeit ist. Nach "Hello Deutschland – die Einwanderer" (2018) realisierte das Team zum Fastenmonat im vergangen Jahr die Soap-Opera Ramadram.
"The Justice Project" wirkt in seiner Machart schrecklich konstruiert, auf merkwürdige Weise selbstverliebt und fast planlos zusammengedreht. Die Platzierung der Cliffhanger ist wahllos, die deutschen Untertitel sind oft nur lose Fragmente, die Zeugenauftritte leben allein von ihrer Authentizität und zitieren zudem völlig unkommentiert gefährliche Klischees der Schwarzer-Mann-weiße-Frau-Beziehung. Natürlich brennt die zentrale und wichtige Grund-Message unter den Nägeln und ist damit so dringlich und unzerstörbar, dass sich eine Kritik – aus political correctness – fast verbietet. Doch ein genauer Textumgang, ein Mehr an Schauspieler-Arbeit und ein Drehbuch jenseits des Schultheater-Niveaus hätten den Sehgenuss deutlich erhöht. Und damit sicherlich auch die Reichweite.
The Justice Project
A Collective Hallucination On Justice and Jurisdiction
Serie in drei Teilen
Regie/Konzept: New Media Socialism
Prmeiere drei Teile am 5., 6. und 7. März 2021
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten
www.kampnagel.de
Folge 1 bis 3 online auf Youtube
Kritikenrundschau
Von einer "kraftvolle Serie entstanden, die gerade durch die authentische Wut und Verzweiflung der Spieler mitnimmt und schockiert", spricht Natalja Joselewitsch in "Fazit" auf Deutschlandfunk Kultur (7.3.2021). Zwar kommt das Stück aus Sicht der Kritikerin manchmal etwas sehr anklagend daher, "aber genau das soll es ja auch sein – eine Anklage gegen den vermeintlich gerechten deutschen Rechtsstaat." Durch die verschiedenen Einzelschicksale der Zeugen entspinne sich "ein verdichtetes Netz aus erschreckenden strukturellen Ungerechtigkeiten."
Nachhilfe in Rechtskunde empfiehlt Michael Laages so im Deutschlandfunk (9.3.2021) den Macher*innen des Projekts, der den Unschärfen der Argumentation und der Plotstruktur nicht viel abgewinnen kann und ein sehr genaues Bilds der Abläufe präsentiert.
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Und, Disclaimer, ich kenne einige der Menschen aus Cast und Crew und bin dem Projekt (wie auch den anderen Projekten von New Media Socialism) zugeneigt.
Die Arbeiten dieses Kollektivs leben generell von dem Charme und auch dem Augenzwinkern, mit denen eindringliche, wichtige Themen aufbereitet werden. Es sind keine Schauspieler*innen,
keine Profis, und das müssen sie auch nicht sein, um die Message zu verbreiten.
Es gibt so viel zu lernen über die Lebensrealitäten Schwarzer geflüchteter Menschen, das The Justice Project quasi auf dem Silbertablett serviert. So viel zu erfahren, was die weiße deutsche Mehrheitsgesellschaft tatsächlich nicht weiß, wissen will
oder für möglich hält.
Jede*r sollte das sehen. Jede*r muß das eigentlich sehen.
Die Reichweite wird auf jeden Fall erhöht durch Beiträge wie
https://www.deutschlandfunkkultur.de/theaterprojekt-auf-kampnagel-auf-der-anklagebank-sitzt-der.1013.de.html?dram:article_id=493708,
die das Projekt verstanden haben und wohlwollend promoten.
Die Reichweite wird erhöht durch jede*n, die/der die Serie sieht, sich von der Eindringlichkeit berühren lässt und sie im Familien-/Freundes-/Kollegenkreis weiterleitet.
Die Reichweite wird eher nicht erhöht, wenn man an diese Miniserie die Maßstäbe klassischer Theater- oder TV-Produktionen anlegt und sie daraus folgend verreißt.
ich bin berührt, schockiert und zu tränen gerührt.
ich danke euch allen, die ihr den mut habt, über euch und eure geschichte so offen zu berichten.
wir in europa und in hamburg haben viel zu lernen über respekt und toleranz, würdigung und entgegenkommen.
möge The Justice Project viele erreichen und vieles verbessern.
danke!