Wandlerin über den Müllbergen

von Stephanie Drees

Hannover / online, 11. März 2021. Der Himmel, er ist eine blaue Plastikplane. Unter dieser Plane liegt Isa, die "Herrscherin über das Universum, die Planeten und alles." Eine, die sich so vorstellt: "Ich komme aus der Scheiße und in die Scheiße gehe ich irgendwann auch wieder. Aber zwischendurch werde ich berühmt." Isa, the queen of Gossenpoesie im Hannoverschen Garten irgendwo. Isa ist vieles. Zum ersten Mal aufgetaucht ist sie in Wolfgang Herrndorfs "Tschick", dieser kurzen Roadnovel um zwei Außenseiter-Jungs, die mit einem geknackten Lada durch die Brandenburgische Provinz brettern, diversen skurrilen Figuren begegnen und – wie sollte es anders sein – schließlich bei sich selbst ankommen. Zumindest in einer hell ausgeleuchteten Ecke des verwinkelten Selbst. "Tschick", dieses kleine Literaturwunder, ist so erfolgreich geworden, dass man sich seiner Zuneigung zu dem Hochtempo-Entwicklungsroman fast schämt, zumal dort die Verweise aus Literaturgeschichte und Popkultur so einig Hand in Hand gehen, dass es Feuilletonisten und Deutschlehrerinnen gleichermaßen erfreut. Und Vierzehnjährige unterhält.

Sternzeichen Rebel-Girl

Isa, der Engel aus dem Dreck, begegnet den beiden Mittelstufen-Outlaws auf der Mülldeponie. Auch über sie herrscht Isa. Und – zumindest für einen kurzen Zeitraum – über die Jungs. Auch ihren Schöpfer hat sie lange begleitet: Herrndorf, der Referenzen-Liebhaber, hat Isa rausgelöst aus ihrem Gastauftritt und ihr einen eigenen Roman-Trip geschenkt, an dem er bis zu seinem Freitod 2013 arbeitete: "Bilder deiner großen Liebe". Es ist eines der unvollendeten Werke aus dem künstlerischen Nachlass von Herrndorf, das von ihm zur posthumen Veröffentlichung freigegeben wurde. Ein Stoff, umrankt von einem wahren Mythos.

Bilder Deiner großen Liebe Nach dem Roman von Wolfgag HerrndorfSchauspiel Hannover, Ballhof EinsPremiere (online): 11.03.21Regie: Markus BotheBühne: Kathrin FroschKostüme: Justina KlimczykDramaturgie: Melanie Hirner, Nora KhuonSzene mit: Torben Kessler, Seyneb SalehQueen of the Gossenpoesie: Seyneb Saleh als Isa, dahinter Torben Kessler © Katrin Ribbe
Es war also vielleicht nur eine Frage der Zeit, bis Isa auch Theatergeschichte schreibt, wurde "Tschick" doch auf deutschsprachigen Bühnen landauf und landab gespielt. Man könnte dem Schauspiel Hannover etwas spitzfindig unterstellen, mit der Bühnenadaption des Romans strategisch auf einer ziemlich bequemen, sicheren Bank Platz zu nehmen – auch, wenn Corona selbst einer Isa die Schau stehlen kann. Sei's drum. Isa, die Himmelsherrscherin im Sternzeichen Rebel-Girl, verdient den großen Auftritt. Vor allem, wenn sie von Seyneb Saleh gespielt wird. "Verrückt sein heißt ja auch nur, dass man verrückt ist und nicht bescheuert", ruft sie und es ist die ultimative Ansage. Der erste Satz in Herrndorfs Roman wird auch hier zum Prolog. So geht es weiter: Seyneb Saleh kann diese rotzig-poetische Isa-Idiosynkrasie im wahrsten Sinne verkörpern, Sätze aus sich hochspülen, sprudeln lassen und ihrem traurigen Versickern nachspüren. Allein deswegen lohnt sich der Abend.

Fiebertraum und Asphaltwüste

Mit Taschenlampe leuchtet sie zu Beginn das bauchhohe Gras aus, das die Bühne komplett bedeckt. Ein simples, reduziertes Bühnenbild hat Kathrin Frosch geschaffen. Es ist die vertraute Wildnis, in der Isa und "der Mann" nun laufen, liegen, hocken und waten und im Livestream dieser Online-Premiere in die Kamera sprechen. Ab und an begegnen sie sich tatsächlich, sehen sich an, nehmen Bezug aufeinander. Das sind die starken Momente in dieser Figurenkonstellation, die es so nur am Jungen Schauspiel Hannover gibt. Bei Herrndorf begegnet Isa nicht einem, sondern vielen Männern – und solchen, die es noch werden. Sie sind Isas Stationenpartner in dieser Odyssee durch ein Land zwischen Märchenwald und fieberträumerischer Asphaltwüste, auf Autobahnen, in Gärten, entlang der Straßen, inmitten von Dörfern. In "dem Mann" laufen verschiedene Figuren ineinander, ihre Episoden und Biographien werden motivisch verschnitten. "Bilder deiner großen Liebe" und Herrndorfs "Stimmen" bieten den Stoff dafür, eine Sammlung von Texten aus dem Nachlass des Autors. Dort treffen autobiographische Erinnerungen auf Lyrik und fragmentierte Prosa.

Bilder Deiner großen Liebe Nach dem Roman von Wolfgag HerrndorfSchauspiel Hannover, Ballhof EinsPremiere (online): 11.03.21Regie: Markus BotheBühne: Kathrin FroschKostüme: Justina KlimczykDramaturgie: Melanie Hirner, Nora KhuonSzene mit: Seyneb Saleh, Torben KesslerIm hohen Gras der Bühne von Kathrin Frosch: Seyneb Saleh, Torben Kessler © Katrin Ribbe
Es ist keine schlechte Idee, dem großen Motivhütchen-Spieler Herrndorf mit einer motivischen Verschachtelung zu begegnen. Doch, die Kehrseite dabei: Für Torben Kessler, der diese männliche Figuren-Hydra verkörpert, gibt es keine echte Chance. Der andere aus der Welt Gefallene erzählt mal als hemdsärmeliger Binnenschiffer von seiner Bankräuber-Vergangenheit, mal ist er der taubstumme Junge, der mit Isa, der zuverlässig unzuverlässigen Erzählerin, über treue Schäferhunde fabuliert. Oder ein Astronaut, der über den "Weg zur Liebe" erzählt, der doch viel wichtiger sei als die Liebe selbst.

Die große Liebe, das ist die Essenz dieser atmosphärisch austarierten Inszenierung, ist die wohlbehütete Erinnerung, der konservierte Moment. Im Zusammenspiel der beiden starken Schauspieler*innen überträgt sich das in kammerspielartiger Dichte: Außenseiter-Körper, im monologischen Erzählen oft angespannt und hart, weichen auf. An diesen Stellen transportiert sich die Neoromantik des Stoffs am besten. Die Macht des Erzähltheaters.

Doch, was soll man tun: Isa ist einfach zu stark. Sie stiehlt allen die Show. Selbst ihren eigenen Kopfgeburten. Sie, die jugendliche Ausreißerin aus der Psychiatrie, die Hucklemarry Finn mit ordentlichem Schlag schräg, läuft und erzählt und erzählt und läuft – und wird immer wieder verlacht, bedrängt, angemacht, instrumentalisiert. Doch sie zeigt sich. Und einer ganzen Fußballmannschaft den Hintern.

Bilder deiner großen Liebe
nach dem Roman von Wolfgang Herrndorf (Bühnenfassung von Robert Koall)
Regie: Markus Bothe, Bühne: Kathrin Frosch, Kostüme: Justina Klimczyk, Dramaturgie: Melanie Hirner, Nora Khuon.
Mit: Seyneb Sale, Torben Kessler.
Online-Premiere am 11. März 2021
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

staatstheater-hannover.de

Kommentare  
Bilder..., Hannover: Rätselhafter Vorwurf
Etwas rätselhaft der Vorwurf, das Schauspiel Hannover hätte mit der Ansetzung auf einer "ziemlich bequemen, sicheren Bank Platz" genommen. Zumal die restliche Besprechung doch sehr positiv ist. Vielleicht hat die Dramaturgie des Hauses ja einfach gedacht, dass "Bilder" sehr gute Literatur ist (wie ich es auch denke) und es deshalb auf den Spielplan genommen. Und dafür, dass "Tschick", was ich ebenfalls für sehr gute Literatur halte, ein enormer Bestseller geworden ist, kann ja niemand was. Die Zeit, sich für sowas zu schämen, sollte man doch irgendwann nach der Jugendzeit mal ablegen. Bei der Dramatisierung von Harry Potter können wir dann noch mal reden...
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