Innen.Nacht - Theater Oberhausen
Die Stunde der Menschheitsforscher
von Max Florian Kühlem
Oberhausen, 13. März 2021. Der 13. März 2021 ist für das Theater Oberhausen ein trauriger Jahrestag: Vor genau einem Jahr musste es aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus seine erste Premiere absagen. Intendant Florian Fiedler erinnert daran, als er sich kurz vor den Live-Stream der Produktion "Innen.Nacht" schaltet, die das Ensemble mit Regisseur Bert Zander entwickelt hat. Fiedler macht klar, dass hinter solch einem Live-Stream immer eine große Vermissung steht: "Wir vermissen das soziale Erlebnis Theater. Das Klirren der Sektgläser am Premierenabend."
Die große Vermissung
Florian Fiedlers Haus hat in Pandemiezeiten allerdings geschafft, was längst nicht allen Stadttheatern gelungen ist: Es ist nicht im Selbstmitleid über verlorene Möglichkeiten versunken, sondern hat geradezu vorbildlich neue gefunden und erfunden. Regisseur Bert Zander hat schon im ersten Lockdown mit "Die Pest" ein neues Theater-/Filmformat entwickelt, das sogar Beteiligung von Menschen aus der Stadt ermöglichte, und seine Videotheaterinszenierung von "Schuld und Sühne" wurde zur besten Inszenierung in NRW gekürt. Mit "Innen.Nacht" reagieren er und das Ensemble nun explizit darauf, was wir alle im Lockdown finden konnten.
Raumfahrt nach Innen: Luna Schmid im Schutzanzug © Isabel Machado Rios
"Geschichten aus der Höhle" heißt die Inszenierung im Untertitel. Die Höhle sind wir selbst, unser Erlebnis- und Erfahrungsraum, den wir unsere Welt nennen – von der wir vielleicht doch nur Schatten oder Abbilder wahrnehmen (Platons Höhlengleichnis drängt sich bei einem solchen Unterfangen natürlich auf). Die Zuschauenden am heimischen Bildschirm folgen anfangs einer Handkamera, die wiederum Menschen im Schutzanzug folgt: Astronauten, die den Mars erkunden – oder unsere Erde, die wir in der Zukunft zum unbewohnbaren Mars gemacht haben? Oder sind es doch Archäologen oder Höhlenforscher, die nach den Ursprüngen der Menschheit und ihrer ersten Kunsttätigkeit suchen?
Der Mensch seit Jahrmillionen
Der erste Text, der erklingt, verbindet beide Perspektiven: Roger Willemsens "Wer wir waren" spricht über uns Menschen von heute aus der Sicht einer unbestimmten Zukunft – und beginnt mit dem Blick auf die Hominiden vor mehreren Millionen Jahren. Laut Willemsen sind wir in all der Zeit nicht sehr weit gekommen: "Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden." Mit der Demut dieser Erkenntnis im Gepäck kann man aber ja wenigstens versuchen, zu verstehen, zu erforschen. So werden die Schauspieler*innen, die in Zanders Live-Inszenierung teils als vorher aufgezeichnete Projektionen (oder Abbilder) integriert sind, zu Forschern ihrer eigenen Leben, ihrer Biographie, Erkenntnis- und Reflexionsfähigkeit.
Wie Königskinder sprechen sie von den Wänden in Maria-Alice Bahras Bühnenbild, das die seit langem ungenutzte Bühne in eine dunkel-staubige Höhle verwandelt. Die Kostümbildnerinnen Selina Peyer und Andrea Barba haben sie in Rüschen und Röcke gekleidet. Doch sie sprechen ohne den Stolz höfischer Übermenschen, sondern eben mit der erwähnten Demut. Manche haben eigene Texte entwickelt, manche lassen sich durch bereits existierende repräsentieren. Die in England geborene und aufgewachsene Schwarze Schauspielerin Agnes Lampkin etwa spricht Texte der Schwarzen, intersektional verwobenen Künstlerin Stefanie-Lahya Aukongo, die zum Beispiel vom dem "weißen Schatten" berichtet, der sie immer begleitet, der sie "normiert", "der mir sagt, was schön ist".
Theater im Nebel der Filmprojektionen: Szene mit Agnes Lampkin und Anna Polke © Isabel Machado Rios
Anna Polke richtet sich mit Ulla Hahns Roman "Das verborgene Wort" in einer Welt der Sprache ein, in der die drei Buchstaben K, U und H alle Kühe der Welt bedeuten können. Clemens Dönicke oder Christian Bayer (so genau ist das in ihren Verkleidungen nicht zu erkennen) lotet mit Édouard Louis, Didier Eribons Schüler, das Verhältnis zum Vater, die eigene Sozialisierung und die Vorzeichen, die das ganze Leben durch die soziale Herkunft bekommt, aus. Torsten Bauer, der am Tag des Mauerbaus in Ost-Berlin geboren wurde, hat sich mit einem eigenen Text in die eigene Vergangenheit begeben, die durch die Zweiteilung Deutschlands geprägt war. Am Ende seiner Reise nach Innen sagt er sinngemäß: Zuhause ist ein innerer Ort, den wir immer wieder neu erarbeiten müssen. Es ist der Ort, an dem die Flucht ein Ende findet.
Und das Schlussbild dieser verhältnismäßig wunderbaren Inszenierung, die tut, was sie kann, um die quasi unendlich weit entfernten Zuschauer*innen auf Tuchfühlung mit dem Oberhausener Ensemble zu bringen, zeigt, wo das Zuhause des Theaters ist: Luna Schmid zieht ihren Astronauten- oder Schutzanzug aus und tanzt im gleißenden Licht und Bühnennebel zu pulsierender Musik. Ja: Wenn das alles ein Ende hat, müssen wir die Barrieren zwischen uns wieder einreißen. Müssen uns wieder begegnen, schutzlos begegnen, Premieren feiern mit richtigen Menschen, die in engen Räumen zusammen kommen.
Innen. Nacht
Geschichten aus der Höhle
Regie: Bert Zander, Bühne: Maria-Alice Bahra, Kostüm: Selina Peyer, Andrea Barba, Musik: Martin Engelbach, Dramaturgie: Florian Fiedler, Elisabeth Hoppe, Live-Kamera: Julian Kuhnke.
Mit: Torsten Bauer, Christian Bayer, Clemens Dönicke, Anna Polke, Agnes Lampkin, Luna Schmid.
Premiere: 13. März 2021 online
Dauer: 1 Stunde 5 Minuten, keine Pause
www.theater-oberhausen.de
Kritikenrundschau
"Zander ist sich seiner stilistischen Mittel auch diesmal sehr bewusst", schreibt Sven Westernströer in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (15.3.2021). Die Arbeit biete ein bemerkenswert doppelbödiges Spiel mit den Realitäten. "Fast schon heitere Noten bekommt der Abend, wenn die Schauspieler eigene Erlebnisse mit einfließen lassen." Der Kritiker schließt: "Wenn der Abspann läuft und der Livestream endet, schaltet man einmal mehr etwas traurig den Computer aus. Denn ohne Zweifel würde dieser Abend live im Saal eine ungleich hypnotischere Wirkung entfalten als daheim am winzigen Schirm."
Grandios sei das Oberhausener Ensemble, so Stefan Keim vom Deutschlandfunk (13.3.2021). Es werde sehr deutlich, "dass die Schauspieler*innen, obwohl sie ja nur als Projektionen da sind, sich sehr intensiv mit den Texten und eben auch mit sich selbst auseinandergesetzt haben". So komme es durchweg zu dieser Authentizität. Der Abend sei melancholisch und düster, habe aber auch eine gewisse Leichtigkeit und eine große Warmherzigkeit, was den Kritiker sehr berührt habe.
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Die Textfragmente werden abwechselnd von den Ensemble-Mitgliedern gesprochen, jedem von ihnen ist ein Werk zugeordnet: die Auszüge werden zwar miteinander verschnitten, reagieren aber kaum aufeinander. Recht beliebig wirkt die Anordung der Texte.
Mit einem letzten Aufschrei endet diese düstere Bestandsaufnahme sich überlappender Krisenphänomene, bevor der Abspann daran erinnert, dass die Theater weiter geschlossen bleiben, vor allem freie Künstler um ihre wirtschaftliche Existenz bangen, während trotz steigender Inzidenz-Zahlen wieder fröhlich konsumiert werden darf.
Komplette Kritik: daskulturblog.com/2021/03/13/innen-nacht-theater-oberhausen-kritik/