Draußen vor der Tür - Nationaltheater Weimar
Nichts als Gespenster
von Shirin Sojitrawalla
Weimar / online, 25. März 2021. Den stärksten Eindruck hinterlässt ein sehr alter Mann, von dem wir, als wir ihn sehen, noch nicht wissen, dass er Gerhard Gläser heißt. Zur Zeit der Aufnahme ist er 102 Jahre alt; ein rüstiger Lebensveteran, der auf seinem Sofa sitzt, Gymnastik treibt und sich und uns den Satz "Es geht auf die immer größere Schwachheit zu" weissagt. Gut und gerne könnte es sich bei dem Mann um Wolfgang Borchert selbst handeln, der in diesem Jahr 100 geworden wäre, in Wahrheit freilich keine 27 Jahre alt wurde.
Eine Werk von klarer Bitterkeit
Viel hat er nicht geschrieben, sein Gesamtwerk passt in einen Band: ein paar Geschichten, einige Gedichte und "Draußen vor der Tür". Das Stationendrama wurde einen Tag nach seinem Tod, am 20. November 1947 an den Hamburger Kammerspielen uraufgeführt. Wer das Stück heute liest, hat einiges daran auszusetzen, das Soldaten-Lamento schließt ein Schweigen über vieles ein, die Judenvernichtung erwähnt Borchert höchstens indirekt. Trotzdem besticht sein Werk mit Klarheit und Bitterkeit.
Ob mit oder ohne Kopf: Die Gespenster schweigen über vieles © Christoph Hertel
Der Schauspieler und Regisseur Marcel Kohler hatte sich das Stück in Weimar vorgenommen, die Proben schon begonnen, die Pandemie dann einen Theaterabend vereitelt, dafür aber einen 75-minütigen Film möglich gemacht. Passenderweise spricht Borchert in seiner Vorrede des bereits mehrmals verfilmten Stückes davon, dass ein Mann nach Deutschland komme und da einen ganz tollen Film erlebe. Der Auftritt von Herrn Gläser dient Kohler als Prolog. Ansonsten folgt er in stark komprimierten Szenen der Chronologie des Dramas. Der 25 Jahre alte Soldat Beckmann, ein deutscher Jedermann, kehrt darin nach Jahren im Krieg und in Gefangenschaft nach Hamburg zurück. Dort überfallen ihn Gespenster der Vergangenheit, so wie er andere überfällt mit seiner absonderlichen Erscheinung: müde, hungrig, frierend und mit einem komischen Brillengestell auf der Nase. So schleppt er sich hierhin und dorthin, in einer Art Trance, nicht lebendig, nicht tot, halb wach, halb albträumend. Von den Gespenstern der Vergangenheit erzählt auch Herr Gläser irgendwo auf der Schwäbischen Alb und muss nicht näher ausführen, was ihn des Nachts zuweilen plagt.
Beckmann im Wunderland
Eine junge Frau fischt aus Gläsers Regal Borcherts Büchlein mit besagtem Stück und nimmt es mit nach Weimar. Bei der jungen Frau handelt es sich um die Andere, den Widerpart von Beckmann, sein zweites Gesicht, im Original ein Mann, hier gespielt von Isabel Tetzner. Sie verbindet die Zeiten, führt vom Bunten Jetzt ins Schwarz-Weiß des Dramas von gestern. In Weimar angekommen, scheinen Hakenkreuze auf den schmuck sanierten Fassaden auf, die Kundgebungen von Damals atmen noch auf den Plätzen der Stadt. Die Frau beginnt das Stück zu lesen, und das Drama beginnt. Kopflose Gestalten treten auf und ein Oberst, der sich unter seiner riesigen Offiziersmütze verschanzt. Beckmann im Wunderland.
Beckmann und sein Widerpart: Janus Torp und Isabel Tetzner © Christoph Hertel
Janus Torp spielt den 25 Jahre alten Kriegsheimkehrer als erschütternd jungen Mann, der im Nachkriegsdeutschland nicht mehr heimisch wird. Er springt in die Elbe, die ihm in Gestalt einer Frau erscheint. Anna Windmüller verkörpert sie wie auch andere Figuren mit harter Zärtlichkeit. Ihr unsentimentales Gebaren imprägniert den Film. Auch Bernd Lange als Dieser und Jener erschafft Typen, die Beckmann wie Fratzen aus einem expressionistischen Gemälde erscheinen. Die melancholisch angehauchten Gitarrenklänge und Songs von Christoph Bernewitz kontrastieren das mit den Sehnsüchten von heute.
Playstation-Kriege in paralysierter Dringlichkeit
Kohlers Neubefragung zum hundertsten Geburtstag von Borchert situiert den Stoff in Weimar. Die Bühne des Nationaltheaters ist Schauplatz manch einer Szene. Der publikumslose Saal offenbart sich dabei wie eine Wunde. Durch die Gänge des Theaters und hinter viele verschlossene Türen führt der Film, aber auch in die Wohnung der Anderen und auf die Straßen Weimars. Der unverbraucht, wenn auch manchmal zu viel spielende Janus Torp markiert Beckmann als traumatisierten Charakter, der auch von einem Afghanistan-Einsatz zurückgekehrt sein könnte und nun Playstation-Kriege führt und dabei in paralysierter Dringlichkeit Fragen nach unser aller Verantwortung stellt.
Verbunden in harter Zärtlichkeit: Anna Windmüller, Janus Torp © Christoph HertelZum Schluss sitzt ein schwarzer Hund im leeren Theatersaal, bevor er nach draußen in die Schneelandschaft und auf den Weimarer Ettersberg hechelt. Als das Tor des Konzentrationslagers Buchenwald ins Blickfeld gerät, ist der Film zu Ende. Zuvor hatte der Oberst dem heimkehrenden Beckmann zugebellt: "Der Krieg ist aus". Dass dem nicht so ist und die Stunde Null ein Phantasma, auch davon erzählen dieser kleine, dichte Film und Borcherts Stück.
Draußen vor der Tür
Ein Tonfilm nach Wolfgang Borchert
Regie und Bühne: Marcel Kohler, Kostüme: Natalie Soroko, Musik: Christoph Bernewitz, Kamera und Schnitt: Christoph Hertel, Dramaturgie: Eva Bormann.
Mit: Janus Torp, Bernd Lange, Isabel Tetzner, Anna Windmüller, Christoph Bernewitz.
Online-Premiere am 25. März 2021
Dauer: 75 Minuten
www.nationaltheater-weimar.de
Kritikenrundschau
Laura Wenzel vom nd ( beleuchtet Hintergründe der literarischen Vorlage und findet die "Verbindung von theatralen und filmischen Mitteln" überzeugend. Spiel, Sprache, Kameraführung und Schnitt gelinge es, "den albtraumhaften Wahn des Protagonisten" zu vermitteln, rezensiert sie. Der "Blick aus der Zukunft" finde auch darin Platz und mache die Vergangenheit "als weiterhin lebendige erkennbar." Als eine "Schwäche des Texts, die auch die Neuinterpretation kaum adressiert" sieht sie die unzureichende Reflektion über Schuld vonseiten des Protagonisten.
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Komplette Kritik: daskulturblog.com/2021/03/26/draussen-vor-der-tur-nationaltheater-weimar-kritik/